Klassen-Kämpfe in Italien

Jugendliche und Erwachsene protestieren schon seit Wochen. Jetzt ziehen sie gemeinsam mit Spruchbändern durch die Straßen, Arm in Arm gegen den drohenden Abbau des öffentlichen Bildungswesens. Die italienische Regierung hat im September ein kompaktes Haushaltsgesetz für den Zeitraum 2009 bis 2011 vorgelegt und binnen zehn Minuten im Parlament durchwinken lassen. Es soll dem Sozialstaat den Garaus machen. Diesem Zweck dienen auch etliche Dekrete, die, wie Ministerpräsident Berlusconi findet, besser als normale Gesetze geeignet sind, unpopuläre Maßnahmen zügig durchzusetzen, anstatt Zeit mit parlamentarischen Debatten darüber zu verlieren. Die Mehrheitsverhältnisse seien eh eindeutig, die Opposition störe nur, sagte er.

Massive Kürzungen sind unter anderem an den Universitäten und den Schulen vorgesehen, was nun Eltern, Schüler und Lehrer gemeinsam auf den Plan ruft. Dem Protest haben sich inzwischen auch Studenten, Professoren und sogar Rektoren der Universitäten in seltener Eintracht angeschlossen. Sie haben nämlich verstanden, daß ihnen nicht nur finanzielle Mittel entzogen werden (den Universitäten 1,5 Milliarden, den Grundschulen 8,5 Milliarden Euro), sondern daß die öffentliche Bildung insgesamt bedroht ist und damit die Zukunft des Landes.

Universitäten und auch Schulen sollen peu a peu in private Stiftungen verwandelt werden können. Durch die Hochschulreform seit 2001 wurde im akademischen Bereich schon viel Unheil angerichtet. Jetzt werden darüber hinaus Planstellen pensionierter Lehrkräfte nicht wiederbesetzt, sondern gestrichen, und einen großen Teil der Lehre, in einigen Bereichen fast 50 Prozent, leisten Honorar-Lehrkräfte, deren Zeitverträge im laufenden Studienjahr um 30 Prozent beschnitten werden. Dabei ist zu bedenken, daß Italien für die Universitäten inklusive Forschung bisher nur 0,9 Prozent des Bruttosozialprodukts verwendet, das ist nur ein Drittel des vergleichbaren deutschen Aufwands und weniger als die Hälfte des europäischen Durchschnitts. Ein Land wie Italien, arm an Energiequellen und sonstigen Ressourcen, aber reich an Phantasie und Intelligenz, müßte wie kein Land sonst darauf setzen, diesen Reichtum zu entwickeln. Das seit je finanziell unterentwickelte Bildungssystem weiter zu beschränken, grenzt an Selbstmord. So empfinden es viele Betroffene.

»Wir bezahlen eure Krise nicht!« rufen die Studenten in Sprechchören, wenn sie nachts vor dem römischen Senat wachen. Zu Tausenden und Zehntausenden ziehen sie durch die Städte und hören auf öffentlichen Plätzen, zum Beispiel auf dem Markusplatz in Venedig, Vorlesungen derjenigen Dozenten, die auf diese Weise ihren Protest artikulieren.

Die neue Studentenbewegung bringt die Regierung in Verlegenheit. Berlusconi drohte zunächst ein »Vorgehen der Ordnungskräfte« gegen die Besetzung öffentlicher Gebäude an, machte aber am Tag darauf einen Rückzieher und erklärte, er habe nie von Polizeieinsätzen gesprochen. Die junge Unterrichtsministerin Maria Grazia Gelmini, eine blasse Juristin, sah sich inzwischen sogar genötigt, eine Schuldelegation zu empfangen; nachher verkündete sie aber, an dem Dekret Nr. 133, das den Abbau von zunächst 87.000 Lehrerstellen an den sechsjährigen Grundschulen vorsieht, werde sich nichts ändern. Das bedeutet, daß ab 2009 die im internationalen Vergleich als progressiv anerkannte Primarschule, in der seit 1990 drei Lehrer zwischen zwei Klassen pendeln, auf die alte einzige Volksschullehrerin zurückgestuft wird, die in Zukunft 30 Schulanfänger in 24 Wochenstunden unterrichten soll. Ausländerkinder sollen in Sonderklassen Italienisch lernen. Das wird als Beitrag zur Integration verkauft, desgleichen die Wiedereinführung von Betragensnoten und einheitlichen Schülerkitteln.

Doch der Zorn des »anderen Italien« macht sich zunehmend Luft in Großdemonstrationen: Am 11. Oktober fanden sich 300.000 Anhänger der gespaltenen außerparlamentarische Restlinken in Rom ein, um stundenlang am Colosseum vorbei durch den Circus maximus bis zur Bocca della Verità, dem antiken Wahrheitsbrunnen, zu ziehen. Am 17. Oktober wurden alle Schulen und städtischen Verkehrsmittel bestreikt. Zur seit langem geplanten Großkundgebung der Demokratischen Partei Walter Veltronis erreichten am 25. Oktober Sonderzüge und Busse aus dem ganzen Land die Hauptstadt, der Circus maximus war gesteckt voll, er faßt gut zwei Millionen Menschen, und viele kamen gar nicht hinein. Der Aufmarsch der Basis stellt die Oppositionsführer vor ihre Verantwortung. Das Land sei besser als seine Regierung, verkündete der Parteivorsitzende Veltroni von der Tribüne. Er steht damit vor der Aufgabe, eine tragfähige politische Alternative zu entwickeln, an der es bisher fehlt.

Die Regierung gibt sich unbeeindruckt: Das sei oppositionelle Kraftmeierei, die große Mehrheit habe Berlusconi gewählt, und der werde weiterhin das tun, was er für richtig halte.

Ein heißer Herbst hat begonnen.

Alt-Staatspräsident Francesco Cossiga, einer der gewieftesten alten Christdemokraten, ließ in einem Zeitungsinterview verlauten, gegen aufmüpfige Studenten könne man doch immer noch so vorgehen, wie er es in den 1970er Jahren getan habe: Man infiltriere die Bewegung mit Agenten, lasse sie sich zehn Tage lang austoben, dann lösche man das Feuer, bevor ein Flächenbrand entstehe und wieder blutiger Terrorismus aus den Universitäten erwachse. Eine beunruhigende Aussage in einer nicht ungefährlichen Situation, besonders wenn die Regierung mit dem die Presse betreffenden Dekret Nr. 144 auch noch die wenigen unabhängigen Medien zum Schweigen bringen will - worüber am 10. November um 19.30 Uhr im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin berichtet und diskutiert werden soll.