Bedrohte Versammlungsfreiheit

in (10.11.2008)
Die herausragende Bedeutung des Versammlungsrechts steht scheinbar außer Frage. Noch die letzte Allgemeinverfügung, mit der Demonstrationen verboten werden, stellt vorab die außergewöhnliche Bedeutung dieses Grundrechts heraus, in das nur nach gründlichem Abwägen eingegriffen werden dürfe. Dies sei, behaupten die zuständigen Ordnungsbehörden dann, skrupulös geschehen, und zitieren gern noch den Brokdorf-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, um zu beweisen, daß sie ihn kennen.

Schon ein solches Verhalten läßt ahnen, wie schlecht es um das Grundrecht stehen muß. Das Mißtrauen der Regierenden und Administrierenden gegen den aufrührerischen Geschmack, auf den wir in Versammlungen kommen könnten, ist offenkundig. Nicht nur der Obrigkeitsstaat von einst fürchtete Versammlungen als Hort der Unbotmäßigkeit und des Aufruhrs. Die politische Klasse der Bundesrepublik Deutschland ist kaum weniger furchtsam.

Das Grundgesetz stellte das Recht, sich ungehindert zu versammeln, zwar in die Reihe der unveräußerlichen Grundrechte, sah für Versammlungen unter freiem Himmel allerdings schon ein einschränkendes Gesetz vor. Das 1953 erlassene Versammlungsgesetz trägt noch den Atem des Obrigkeitsstaates in sich.

Erst 1985 hat das Bundesverfassungsgericht mit dem Brokdorf-Beschluß eine Schneise geschlagen, um dem Recht auf Versammlungsfreiheit in der Praxis Geltung zu verschaffen. Allerdings entstand diese rechtliche Würdigung nicht im luftleeren Raum, sondern im Kontext einer gesellschaftlichen Praxis von Demonstrationen. Im Laufe der 60er und 70er Jahre hatte sich ein souveränes Selbstbewußtsein für dieses Grundrecht entwickelt, das vor allem durch seine Inanspruchnahme gewahrt wird.

Die Schneise wurde aber in der Praxis schnell wieder verstellt. Die Exekutive erfindet immer neu und listig Möglichkeiten, die grundrechtlichen Maßstäbe zu verdrehen: Berichte über Geschehnisse werden verfälscht, die Gefahren ins Unermeßliche überzeichnet, herrschaftlich werden Fakten geschaffen, deren gerichtliche Überprüfung sich im Irgendwann verliert.

Versammlungen dürfen nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit aufgelöst und verboten werden, stellte das Bundesverfassungsgericht damals und noch mehrmals fest. Eine den Verboten nachlaufende Rechtsprechung hilft den Demonstrierenden jedoch nur begrenzt. Das Verbot der Brokdorf-Demonstration lag zum Zeitpunkt des höchst-richterlichen Beschlusses, durch den es aufgehoben wurde, bereits vier Jahre zurück. Der Rechtsschutz durch Eilentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist viel schwächer. Die Exekutive versucht oft mit Erfolg, ihre von eigenen Interessen geprägte Gefahrenprognose zur Grundlage der Rechtsprechung zu machen. Rechtsschutz wird ausgehebelt, wenn das Gericht vagen Gewaltvermutungen oder auch verfälschten Berichten der Polizei folgt, ohne diese überprüfen zu können. Demonstrierende gegen Castor-Transporte haben dies oft leidvoll erfahren. Bei den Demonstrationen gegen die Politik der G8-Staaten steigerte es sich bis zur Unerträglichkeit. Der auf Verbote und den potentiellen Einsatz aller polizeilichen Gewaltmittel abzielenden Public-Relations-Arbeit der Polizei, der Hochrechnung drohender Gewalttaten, der verdrehenden und sogar Fakten fälschenden Berichterstattung der Polizei über Vorfälle während der Demonstrationen scheint das Gericht in einer Eilentscheidung nichts entgegensetzen zu können. Wenn auch kein anderer den vermummten und mit Gewalt drohenden »schwarzen Block« gesehen hat, so wird doch dem Bericht der Polizei über diese Hunderte von Unsichtbaren geglaubt.

Ich will an sechs symptomatischen Beispielen zeigen, wie das Grundrecht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit alltäglich mit Füßen getreten wird.

(1) In Darstellungen der Polizei und der Medien werden die von Demonstrationen ausgehenden Gefahren im Vorhinein oft bergehoch aufgetürmt. Immer droht die Teilnahme des »schwarzen Blockes«, der längst zu einem polizeiwillkommenen Mythos geworden ist. Allüberall ist mit Gewalttaten zu rechnen, seit Jahren steht der Terrorismus bereit. Notfalls helfen Ermittlungen nach §129a StGB, die Bedrohung zu konstruieren. Zur Einschränkung eines Grundrechts bedürfte es zumindest konkreter Hinweise auf solche Bedrohungen. Daran mangelt es fast immer, und geheime »Informationen« der Verfassungsschützer lassen sich kaum überprüfen. Heiligendamm ist hierfür ein Beispiel, und beim Protest gegen das NATO-Gipfeltreffen nächstes Jahr im April wird es nicht anders sein.

(2) Wenn die Behörden in weitaus höherem Maße als durch potentielle Gefährdungen gerechtfertigt den Veranstaltern Auflagen erteilen, läuft das ebenfalls auf demokratiefeindliche Behinderung von Demonstrationen hinaus. Im Mai 2006 erließ die Versammlungsbehörde für eine Demonstration in Mittenwald 25 Auflagen. In der nachträglichen Überprüfung urteilte der Bayerische Gerichtshof München, daß 21 dieser 25 Auflagen rechtswidrig seien. Doch im August 2008 wurden vor einer Friedensdemonstration in Büchel, die sich gegen die dort lagernden Atomwaffen richtete, sogar 30 überflüssige Auflagen erteilt.

(3) Bei großen Demonstrationen kann schwerlich ein Einzelner für all die vielfältigen Ausdrucksformen und die vielen aufrufenden Gruppen eine Gesamtverantwortung tragen. Dennoch wird zunehmend der Versammlungsleiter für alles und jedes verantwortlich gemacht und zur Rechenschaft gezogen. Offenbar sollen Vorstellungen von straff geleiteten Aufmärschen durchgesetzt werden. Den Versammlungsleitern werden quasi polizeiliche Ordnungsaufgaben zugemutet, die sie nicht erfüllen können.

Im Jahr 2008 standen Versammlungsleiter in München, Karlsruhe, Rostock und Friedrichshafen vor Gericht. Nichts Gravierendes war vorgefallen. Die Fülle der Auflagen macht jedoch viele Rechtsverstöße möglich. Verantwortlich ist allemal der Versammlungsleiter. In Karlsruhe wurde dies schon zum Bestandteil

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Laudatio auf den EU-Ministerrat

Als Reaktion auf die Anschläge vom 11. 9. 2001 erließ die EU eine Verordnung, die allen Bewohnern untersagt, Terrorismusverdächtigen Geld zur Verfügung zu stellen. Seitdem werden durch Beschlüsse des Ministerrats Terrorverdächtige oder mutmaßliche Unterstützer in eine Schwarze Liste aufgenommen, die immer wieder aktualisiert wird. Die zumeist aufgrund dubioser Geheimdienstinformationen als »terroristisch« eingestuften Personen und Organisationen sind schweren Sanktionen unterworfen. Der vom Europarat beauftragte Sonderermittler Dick Marty stellte in seinem Bericht fest, er habe selten »etwas so Ungerechtes erlebt wie die Aufstellung dieser Listen«. Und er schilderte die Folgen für die Betroffenen: »Wer einmal auf der Liste steht, hat kaum mehr eine Chance auf ein normales Leben. Er ist quasi vogelfrei, wird politisch geächtet, wirtschaftlich ruiniert und sozial isoliert. Das gesamte Vermögen wird eingefroren, alle Konten und Kreditkarten werden gesperrt, Barmittel beschlagnahmt, Arbeits- und Geschäftsverträge faktisch aufgehoben; weder Arbeitsentgelt noch staatliche Sozialleistungen dürfen noch ausbezahlt werden; hinzu kommen Paßentzug und Ausreisesperre sowie staatliche Überwachungs- und Fahndungsmaßnahmen.« Zwar sind die Betroffenen inzwischen pro forma benachrichtigt und angehört worden, doch weder wurden sie von der Liste gestrichen noch die eingefrorenen Mittel freigegeben oder die Sanktionen aufgehoben. Die Geheimgremien des EU-Ministerrats blieben stur bei ihren Beurteilungen, die Verfemten blieben verfemt - mit allen freiheitsberaubenden Konsequenzen, unter Verstoß gegen die Unschuldsvermutung und die Europäische Menschenrechtskonvention. Und ohne Aussicht auf Entschädigung. Herzlichen Glückwunsch, EU-Ministerrat, für diese anti-terroristische Meisterleistung.

Rolf Gössner

Ossietzky-Mitherausgeber Rolf Gössner, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, sprach am 24. Oktober in Bielefeld zur Verleihung des BigBrother-Award 2008 an den Ministerrat der Europäischen Union.

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der Auflagen gemacht: »Sie müssen mit Ihren Weisungen alle Teilnehmer jederzeit erreichen können und sind verpflichtet, die Veranstaltung für beendet zu erklären, wenn Sie sich nicht durchsetzen können.« Dabei reicht schon, daß eine Stange an einem Transparent etwas länger ist, als die Auflage zuläßt, ein Transparent größer, als die Polizei wünscht, ein Schal nach polizeilicher Meinung der Vermummung dient und die Kleidung von Teilnehmenden als zu ähnlich, folglich uniform erscheint.

Noch ist zu hoffen, daß die Gerichte, zumindest in den höheren Instanzen, diesem Vorgehen Einhalt gebieten und die angeklagten Versammlungsleiter freisprechen. Das neue bayerische Versammlungsgesetz sieht diese Haftung des Versammlungsleiters aber bereits abschreckend vor.

Aus dem Urteil des Amtsgerichts Karlsruhe sei zur Illustration kurz zitiert: »Es kann aus Sicht des Gerichtes nicht anerkannt oder auch nur hingenommen werden, daß beliebig und vor allem auch folgenlos eine Demonstration so durchgeführt wird, wie es sich die Teilnehmer vorstellen und wünschen, vor allem dann nicht, wenn das exzessive Beiwerk ein nicht wegzudenkender Bestandteil der Demonstration sein soll.« Der Angeklagte wurde mit der Begründung, er habe »sich nur halbherzig und pro forma um die Auflagen gekümmert, was natürlich bei weitem nicht ausreicht«, als Straftäter verurteilt.

(4) Der »Hamburger Kessel« 1986 hat bundesweites Aufsehen erregt. Er war von Anfang an rechtswidrig. Doch dieses Vorgehen der Polizei hat sich seitdem ungezählte Male wiederholt. Im Wendland wurden ganze Dörfer eingekesselt. Immer wieder werden anläßlich der rassistischen, ausländerfeindlichen und nationalistischen Demonstrationen von rechtsaußen die Gegendemonstranten eingekesselt. So geschehen kürzlich in Köln im Kontext des stadtweiten Protests gegen die Versammlungen von »Pro Köln« gegen den Moscheebau. In dem breiten und bunten, karnevalesk inszenierten Protest wurden 500 Demonstrierende eingekesselt und in die Gefangenensammelstelle verbracht. Kinder und Jugendliche blieben bis weit nach Mitternacht dort, Rechtsbeistand wurde verwehrt. Der Richterin, die entschied, daß die ihr vorgeführten Gefangenen sofort zu entlassen seien, führte die Polizei daraufhin keine mehr vor.

(5) Aber auch dann, wenn ausnahmsweise Auflagen im Vorhinein gerichtlich überprüft werden können, ist in der Praxis häufig noch nichts gewonnen. Im August 2008 fand in Hamburg das AntiRa- und Klimacamp statt. Die Versammlungsbehörde wollte eine Schlußkundgebung nicht über die geplante Zeit von sechs Stunden zulassen (übrigens auch nicht am geplanten Ort). Das Verwaltungsgericht befand, daß die Demonstrierenden über die zeitliche Länge ihres Protestes entscheiden können. Die Polizei hielt sich nicht daran. Sie setzte ihre Auffassung unmittelbar und ohne Rechtsschutzmöglichkeiten durch. Der Gesamteinsatzleiter erteilte, ohne selbst am Ort zu sein, kurzerhand vom Polizeipräsidium aus die Anweisung zur Auflösung der Demonstration zu dem Zeitpunkt, zu dem die Versammlungsbehörde das Ende der Demonstration gewollt hatte.

(6) Auch rechtswidrige Gewaltausübung einzelner Beamter gegen unliebsame Demonstrierende steckt im System. Beispiele lieferte das Vorgehen gegen das Hamburger Camp. Die Identifizierung gewalttätiger Beamter ist kaum möglich, der Schutz des Corps funktioniert. Sehr selten wurden Polizeibeamten verurteilt - jeweils nur aufgrund besonderer Konstellationen. Die extensiven Auflagen, die im Vorhinein aufgetürmten Gefahrenprognosen und öffentliche Vorverurteilungen der Demonstrierenden lassen polizeiliche Gewalt in aller Regel gerechtfertigt erscheinen.

Andere Behinderungen und Formen der Abschreckung von Demonstrationen seien hier wenigstens noch stichwortartig genannt: Zugangskontrollen, Videoüberwachung, Teilnahmeverbote mit Meldeauflagen, Reiseverbote, Platzverweise, unsinnige Vermummungsverbote ...

Gegenwärtig werden im Zuge der Föderalismusreform all die Scheußlichkeiten, gegen die es jetzt noch manchmal Rechtsschutz gibt, in den Ländergesetzen abgesichert. Bayern ist vorangegangen, Baden-Württemberg folgt. Auch Gesetze, die so dargestellt und begründet werden, als richte sich die Einschränkung der Versammlungsfreiheit nur gegen rechtsaußen, heben die Versammlungsfreiheit auf, die es nur ungeteilt geben kann.

Ein Hoffnungsschimmer bleibt allerdings und liegt einzig in der selbstbewußten Art, in der Bürger und Bürgerinnen als Souverän dieses Recht in Anspruch nehmen. Die wechselvolle Geschichte des Versammlungsrechts zeigt allemal, wie wichtig dies ist. Wie schon das Hambacher Fest 1832 trotz Verbot stattfand, muß auch heute das Recht immer wieder neu gegen staatliche Macht und Kontrolle erstritten werden.