Systemfehler

in (07.11.2008)

Yaak Pabst erklärt, warum das Versagen des Marktes kein Zufall ist.

Der unmittelbare Auslöser der jetzigen Turbulenzen an den Finanz- und Kreditmärkten war der Zusammenbruch des US-Immobilienmarktes. Zu Beginn stellte der Immobilienmarkt für die Banken ein gutes Geschäft dar. Viele Finanzinstitute aus der ganzen Welt mischten mit und witterten hohe Profite: Sie vergaben Kredite und bekamen als Sicherheiten Hypotheken auf Häuser oder Grundstücke. Millionen Menschen in USA nahmen die Kreditangebote der Banken an und verschuldeten sich. Dadurch hatte der US-amerikanische Durchschnittshaushalt letztes Jahr Schulden in Höhe von 129 Prozent seines verfügbaren Jahreseinkommens.

Im Verlauf des Booms wurden diese Immobilienkredite auch an Menschen vergeben, die über keine hohe Kreditwürdigkeit verfügten - beispielsweise jemand, der bereits in der Vergangenheit bei Krediten in Zahlungsverzug geraten war oder der gar einen Bankrott oder eine Zwangsversteigerung mitmachen musste. So entstand ein Sektor von so genannten „subprime" (zweitklassigen) Hypotheken. Weil der Subprime-Hypothekenmarkt sehr riskant ist, entwickelten die Banker neue Finanzinstrumente, um das Risiko zu streuen. Hypothekenschulden unterschiedlicher Güte wurden zu undurchschaubaren Paketen zusammengefasst und weiterverkauft.

Das ging so lange gut, wie der Anstieg der Immobilienpreise als ein Naturgesetz erschien. Als Sicherheit zählte nicht das tatsächliche Einkommen der Schuldner, sondern der momentane Wert des Hauses. Aber als die Zinsen für Immobilienkredite stiegen, konnten viele Haushalte sie nicht mehr zurückzahlen und stellten ihre Darlehenszahlungen ein. Die Banken warteten also vergeblich auf ihr Geld. Um an Geld zu kommen, boten immer mehr Schuldner ihre Häuser zum Verkauf an. Und weil immer mehr Häuser und Grundstücke in den USA veräußert wurden, sanken dort schließlich die Immobilienpreise. Die Spekulationsblase war geplatzt.

Eine Kettenreaktion setzte ein. Die riesigen Posten in den Bilanzen der Banken und Versicherungen, die auf US-Immobilien beruhten, mussten nach unten korrigiert oder ganz abgeschrieben werden. Finanzunternehmen waren von solchen Abschreibungen massenhaft betroffen und vom Konkurs bedroht. Weil die Hypothekenschulden von Millionen Amerikanern zu undurchschaubaren Paketen zusammengefasst und weiterverkauft worden waren, wusste niemand genau, bei wem die faulen Kredite gelandet waren und welches Ausmaß sie hatten. Daraufhin begannen die Banken, einander kein Geld mehr zu leihen. Sie befürchteten, dass sie ihr Geld nicht zurückbekommen würden, falls ihre Partner plötzlich in den Strudel der Krise gerissen werden sollten. Die Kreditgeschäfte zwischen den Banken kamen zum Erliegen. Das Chaos nahm seinen Lauf: Die Börsen stürzten ab und das Bankensystem stand vor dem Kollaps.

Krise mit System

Die Spekulation mit US-Immobilienkrediten hat die jetzige Krise beschleunigt. Mit der Krise im Bankensektor kamen auch krasse Fälle ans Licht, bei denen Spekulanten sich an dem Zusammenbruch von Unternehmen eine goldene Nase verdient hatten. Wie Karl Marx sagte, ist das Finanzwesen „eines der wirksamsten Vehikel für Krisen und Schwindel". Insidergeschäfte sind zwar verboten. Aber vorab zu wissen, dass ein Unternehmen etwas ankündigen wird und zudem zu wissen, ob diese Neuigkeiten gut oder schlechr sind, um dann gegebenenfalls Anteile des Unternehmens zu kaufen oder abzustoßen, ist höchst einträglich. Eine Untersuchung von 172 Firmenzusammenschlüssen an amerikanischen Börsen kam zu dem Ergebnis, dass in jedem einzelnen Fall Insidergeschäfte getätigt worden waren.

Die gegenwärtigen Verwerfungen lassen sich allerdings nicht nur auf die Handlungen einiger zwielichtiger Händler zurückführen. Das Chaos, das wir jetzt erleben, ist nur die neueste Krise des globalen Wirtschaftssystems. Allein in den vergangenen 25 Jahren ist es immer wieder zu großen Finanzkrisen gekommen: Von der Schuldenkrise in Mexiko und Lateinamerika 1982, der Krise an der New Yorker Börse 1987, über die Asienkrise 1997, die Krise 1998 in Russland und Brasilien, bis hin zum Niedergang der New Economy Ende der 1990er Jahre und der Rezession in den USA von 2000 bis 2002.

Aber im Gegensatz zu früheren Finanzkrisen der neoliberalen Ära hat die jetzige ihren Ursprung mitten im Herzen des kapitalistischen Systems: in den Vereinigten Staaten. Sie weitet sich aus und wird die gesamte Weltwirtschaft erfassen. Die großen Exportwirtschaften - Deutschland, Japan, China - werden angesichts schrumpfender Märkte für ihre Waren in die Krise mit hineingezogen. Jetzt droht eine Weltrezession wie Mitte der 1970er und Anfang der 1980er Jahre. Die „unverantwortlichen Zocker in der Finanzindustrie" haben die Krise beschleunigt, aber sie sind nicht ihre Ursache. Die Ursache hierfür liegt viel tiefer, denn Wirtschafts- und Finanzkrisen sind im Kapitalismus unvermeidbar.

Marx' Kritik

Wir haben es mit einer Krise des Kapitalismus zu tun, wie sie schon Karl Marx beschrieben hat. Er fand heraus, dass die Profitraten im Kapitalismus langfristig die Tendenz haben zu sinken. Diese Dynamik sieht er als Hauptursache für Krisen im Kapitalismus. Auch die heutigen Probleme des Kapitalismus liegen in dieser Dynamik begründet. Dem System ist es nicht gelungen, die Profite auf dem Niveau der Nachkriegsjahre zu halten. Anfang der 1970er verlor die Weltwirtschaft, die für Jahrzehnte gewachsen war, ihre Dynamik. Das Wachstum stagnierte, die Profite fielen, und die Arbeitslosigkeit kehrte ins Herz des Systems - die entwickelten Industrieländer - zurück.

Die Profitraten haben seitdem nie wieder das Niveau, das sie im so genannten „Wirtschaftswunder" hatten, erreicht. Sie blieben zu niedrig, um eine dauerhafte Expansion des Kapitalismus hervorzubringen. Der weltweite Kapitalismus befindet sich deswegen seit den 1970er Jahren in einer Stagnationskrise. Wir haben es also mehr mit einer Profitkrise zu tun als mit einer Finanzkrise. Aber diese Krise hat bis heute noch nicht das System als Ganzes in den Abgrund gerissen. Das hängt mit einem Prozess zusammen, den auch schon Marx im „Kapital" beschrieben hat. Dort erwähnte er eine Reihe von „entgegenwirkenden Ursachen" zum Fall der Profitraten (siehe auch den Artikel „Kapitalismuskritik 2.0"). Der Neoliberalismus kombinierte eine Reihe dieser „entgegenwirkenden Ursachen". Insofern war der Neoliberalismus selbst eine Antwort auf das Ende des Wirtschaftsaufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Aufstieg des Neoliberalismus

Die Antwort der Regierungen auf die wiedereinsetzenden Krisenerscheinungen Mitte der 1970er Jahre bestand in einer zunächst zaghaften, aber dann immer schneller und rücksichtsloser werdenden Durchführung von Maßnahmen gegen diese Stagnation. Es handelte sich unter anderem um folgende: Erstens wurden große Teile des Staatseigentums verkauft, was dem Privatkapital große Summen in die Hände spielte. Zweitens wurden die Kontrollen über die Mobilität von Gütern, Dienstleistungen und vor allem Geld von Land zu Land beseitigt - eine Maßnahme, die dem Kapital erlaubte, sich freier auf der ganzen Welt zu bewegen.

Drittens, und das war die einschneidenste Veränderung, wurde der Lebensstandard der Arbeiterklasse angegriffen. Oft ist dies der schnellste und einfachste Weg, die Profite wieder anzuheben: Den Beschäftigen wird weniger bezahlt und die Arbeitszeit wird verlängert. Auch der Abbau des Sozialstaates durch Steuersenkungen für Unternehmen und die Kürzung von Sozialleistungen bewirken indirekt eine Erhöhung der Profite.

In den Vereinigten Staaten war dieser Angriff auf die Arbeiterklasse erfolgreich. Zwischen 1975 und 1995 stagnierten dort die durchschnittlichen Reallöhne für männliche Vollzeitarbeiter. Teilweise sanken sie sogar geringfügig. Anderswo schlugen die Angriffe weniger durch, aber auch in großen Teilen Europas wurden die Wohlfahrtsstaaten abgebaut. Durch diese Attacken gelang es dem Kapital, seine Profite um einiges zu erhöhen und die Krisen abzuschwächen.

Die Rolle der Finanzmärkte

Die Finanzmärkte und die Finanzinstitutionen spielten dabei eine wichtige Rolle. Sie sind für das Funktionieren des Kapitalismus unabdingbar. Dieser beruht darauf, dass Unternehmen unter den Bedingungen von Konkurrenz versuchen, maximale Profite zu erzielen. Normalerweise investieren sie einen Teil ihrer Einkünfte in neue Technologien, um gegenüber der Konkurrenz Vorteile zu haben.

Aber wenn Unternehmen attraktive Anlagemöglichkeiten im Produktionssektor (beispielsweise im Maschinenbau oder der Automobilindustrie) fehlen oder wenn sie investieren wollen, aber nicht über das nötige Geld dafür verfügen, spielen die Börse, das Bankenwesen oder ähnliche Einrichtungen eine wichtige Rolle. Sie helfen dabei, Kapital und Investoren zusammenzuführen. Banken verwalten zum Beispiel Konten von Unternehmen, die im Moment nicht investieren wollen und können so dieses Geld anderen zur Verfügung stellen, die gerade neue Anlagen kaufen wollen.

Weil Investitionen von Kapital im produktiven Sektor Mitte der 1970er Jahre wegen der fallenden Profitraten mit einem höheren Risiko verbunden waren, wuchs die Bereitschaft, an den Börsen und internationalen Finanzmärkten mit überschüssigem Geld zu spekulieren. Darüber hinaus schuf die Expansion und wachsende Komplexität des Finanzsystems eine faszinierende neue Möglichkeit für den Kapitalismus.

Es ist im individuellen Interesse jedes Unternehmers, seinen Angestellten so wenig wie möglich zu zahlen, um die Profite zu erhöhen. Aber wenn alle dies tun, sind die Arbeiter kollektiv nicht in der Lage, sich zu leisten, was die Kapitalisten in ihrer Gesamtheit produzieren. Was für einen Kapitalisten gut ist, ist für das System im Ganzen nicht notwendigerweise gut.

Indem Arbeitnehmern billige Kredite und Darlehen angeboten wurden, konnten die Kapitalisten den Beschäftigten gleichzeitig weniger zahlen, aber dennoch ihre Güter und Dienstleistungen verkaufen. Das Finanzsystem sorgte so in der Vergangenheit zwar dafür, dass Geld mit halsbrecherischer Geschwindigkeit um den Globus gejagt wurde. Doch der Zustrom realer Profite in das System stieg sehr viel weniger dramatisch an. Dies erhöhte das Risiko, dass sich spekulative „Blasen" entwickeln und dann wieder zerplatzen. Die letzten 30 Jahre waren von diesem Prozess geprägt.

Staatliche Interventionen

Ob die jetzigen Rettungsversuche von Erfolg gekrönt sein werden, steht in den Sternen. Die US-Notenbank hat sich bereit erklärt, faule Kredite zu übernehmen, und zwar in unbegrenztem Maße und ohne die Öffentlichkeit oder auch nur das Parlament über die Einzelheiten weiter informieren zu müssen. Dieser Schritt wird die Schulden der öffentlichen Hand ins Unermessliche steigern. Und die USA werden nicht mehr in der Lage sein, noch einmal in der gleichen Weise einzuspringen, falls eine weitere Krise dieser Art entstehen sollte.

Bereits Anfang dieses Jahres wurde uns erzählt, ein staatlicher Eingriff habe seine Wirkung erfüllt, als die US-Regierung die „Monoline"-Versicherer übernahm. Das gleiche geschah wieder, als sie im März Bear Stearns aufkaufte und als sie de facto die Hypothekenriesen Freddie Mac und Fannie Mae verstaatlichte. Die USA, die EU, Japan und andere große Industrienationen haben bereits dreistellige Milliardensummen an Steuergeldern in die Märkte gepumpt, damit die Banken weiterhin billig Geld leihen können.

Es gibt jedoch Grenzen für dieses Vorgehen. Denn die gehandelten und angehäuften Schulden übersteigen bereits das Bruttoinlandsprodukt der ganzen Welt. Es gibt keine Garantie, dass die staatlichen Eingriffe irgendetwas erreichen werden, außer dass sie kurzfristig die Kurse stabilisieren. Sie geben einfach Geld an die Aktienmärkte, ohne eine Sicherheit zu haben, dass dieses Geld jemals in die Staatskasse zurückfließen wird.

Aus Sicht des Kapitals darf der Staat intervenieren, solange es um zeitlich beschränkte Maßnahmen zur Rehabilitierung des Marktkapitalismus geht. Aber sobald diese Rettungsmission dann erfolgreich war, soll der Staat sich zurückziehen. Die offensichtliche Frage, die diese Strategie aufwirft, ist: Was sollte die Finanzmärkte davon abhalten, mit dem gleichen Schwachsinn wieder von vorne zu beginnen?

Die Antwort, die uns die Regierung gibt, ist Regulierung. Im Gegenzug zur Rettung der Banken wird der Staat diesen Regeln auferlegen. Aber das alles gab es schon einmal. Die allgemeine Antwort auf die „Große Depression" der 1930er Jahre war größere staatliche Kontrolle über die Wirtschaft im Allgemeinen und das Banksystem im Besonderen. Aber als der Kapitalismus in den 1950ern und 1960ern wieder zu erstarken begann, bäumte er sich gegen das Netz der Regulierungen auf, mit dem sie ihn zu bändigen versuchten. Als Mitte der 1970er erneut eine Krise einsetzte, wurden die Regulierungen und Kontrollen nach und nach wieder abgeschafft.

Der Zyklus der Auf- und Abschwünge ist dem chaotischen und auf Konkurrenz beruhenden Wesen des Kapitalismus geschuldet. Solche Krisen lassen sich nur beenden, indem dieses System durch eine demokratisch planende Wirtschaft ersetzt wird, die von den arbeitenden Menschen kontrolliert wird.

Zum Autor:
Yaak Pabst ist Politologe und Redakteur von marx21.