Die Krise und die Perspektiven linker Politik

Ein Gespräch mit Werner Rätz

Die Finanzkrise ist auch eine Krise der Linken, eine Krise linker Politik wie linker Antworten. Sie hinterlässt die staatszentrierte - nicht nur reformistische - Linke ratlos zurück und stellt der radikalen Linken Fragen, die sie mit ihren allgemeinen Positionen bisher nicht zu beantworten vermochte.Wie ist die Lage einzuschätzen? Welche Debatten sind jetzt zu führen? Und was gilt es nun anzustoßen? Darüber sprach Ingo Stützle mit Werner Rätz (attac/IL).

ak: Politische Intervention hängt immer wesentlich davon ab, wie eine Situation eingeschätzt wird. Was sind in deinen Augen die wesentlichen Punkte in der aktuellen Situation?

Werner Rätz: Am Beginn der Krise steht dasselbe Problem wie jetzt an ihrem (wahrscheinlichen) Ende. Aus dem Fordismus waren zu Beginn der 1970er Jahre so große Kapitalien hervorgegangen, dass es Schwierigkeiten gab, sie profitabel in der Produktion zu verwerten. Zusammen mit weiteren Faktoren führte das dazu, dass vor allem zwei Auswege aus der Profitklemme verstärkt ausgebaut wurden, die zu einer wachsenden Bedeutung der Finanzmärkte führten.

Erstens wurden in größerem Umfang als zuvor Gelder unmittelbar verliehen, auch ohne dass die produktive Verwertung sichergestellt gewesen wäre. Das betraf einmal Regierungen des Südens. Einige dieser Länder überschätzten ihre Möglichkeiten beim Aufbau industrieller Kapazitäten. Aufgrund des gewaltigen Kapitalüberhangs standen die Zinsen auf einem historischen Tiefpunkt. Regierung und Wirtschaftswissenschaft neigten Anfang der 1970er Jahre dazu, die ökonomische Erfolgsgeschichte der Nachkriegszeit für unendlich zu halten. Warum sollten da ein paar Staatsschulden ein Problem darstellen? Anfang der 1980er stiegen dann auch die USA mit einem kreditfinanzierten Aufrüstungsprogramm in den Schuldenkreislauf ein.

Zweitens wurden immer mehr und undurchsichtigere "Finanzprodukte" geschaffen, die so lange hohe Renditen versprachen, wie Vertrauen in die Märkte bestand und die Verkaufsspirale funktionierte. Die so erzielten Summen dienten, wenn sie nicht auf den Finanzmärkten blieben, der Übernahme bestehender Unternehmen, sodass die Übernahmeangst diesen Kreislauf noch weiter beschleunigte und noch größere Kapitalien schuf, die noch schwerer verwertbar waren. Schließlich verstärkte die Elektronifizierung der Produktion den Abbau von Beschäftigten und damit der Massenkaufkraft. Ein immer größerer Kapitalanteil fand keine profitable Anlage. Nicht der Kapitalismus als solcher, aber das konkrete Akkumulationsregime stieß an Schranken. Heute gibt es keine Antwort mehr auf die Frage: "Wohin mit dem vielen Geld, damit es Kapital werden kann?" Die durch den Neoliberalismus seit den 1970er Jahren aufgeschobene Krise ist heute manifest.

Wird die reformistische Linke - im besten Sinne - z.Z. von Steinbrück, den europäischen Regierungen und der US-Administration links überholt?

Die immer noch reformistische Linke hat dasselbe Problem: Neben dem Keynesianismus, der in den 1970er Jahren scheiterte, und dem Neoliberalismus, der heute untergeht, verfügen sie über keine alternative Vorstellung. Einige wollen zurück zu Keynes, die meisten schlagen irgendwelche Regulierungen vor. Da kann im Einzelfall durchaus etwas richtig dran sein. Es ändert aber nichts daran, dass solche Maßnahmen der Tiefe der Krise nicht gerecht werden. Die Politik reagiert auf diese Unsicherheit durchaus souverän: Sie interessiert sich überhaupt nicht für ihre Dogmen von gestern, sondern macht, was augenblicklich notwendig und möglich erscheint, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, und sie arbeitet pragmatisch an Umbauten des Systems.

Die reformistische Linke müsste angesichts dessen, wenn nicht Antikapitalismus, dann doch ein Modell verfolgen, das deutlich auf Dekommodifizierung, den direkten Zugriff auf den gesellschaftlichen Reichtum in Form einer bedürfnisorientierten Ökonomie und die strikte Begrenzung des Marktes auf wenige Bereiche orientiert. Davon allerdings hat sie nicht nur keine Vorstellung, es zeigt sich auch, dass ihr Reformismus nie über den Kapitalismus hinauszielte.

Die radikale Linke bietet außer der - durchaus richtigen - Feststellung, dass so nun mal der Kapitalismus sei, auch nichts Wegweisendes an. Muss das so sein?

Die radikale Linke steckt vom umgekehrten Ausgangspunkt im gleichen Dilemma wie die reformistische Linke. Beide verfügen nicht über eine Konzeption einer radikal-reformistischen Transformationsstrategie. Der Kapitalismus ist in einer heftigen Krise, aber er ist keineswegs am Ende und die Revolution steht nicht vor der Tür. Bisher sind die Kämpfe ja nicht einmal so weit entwickelt, dass man davon ausgehen könnte, sie wären stark genug, der Gegenseite radikale Reformen abzunötigen. Aber es gibt eben auch keine Vorstellung davon, wie die auszusehen hätten. Im Konkreten ist die kapitalistische Vergesellschaftung auch in unseren Köpfen doch recht alternativlos.

Das hat einerseits objektive Gründe. Die radikale Linke war lange gesellschaftlich so isoliert, dass wenig für die Annahme sprach, eigene Transformationsvorstellung seinen bald tagespolitisch gefragt. Und auch tatsächlich ist es nicht ganz einfach, sich vorzustellen, wie die Organisation des täglichen Überlebens gelingen soll, wenn Geldsystem und gesellschaftliche Arbeitsteilung denn tatsächlich zusammenbrechen würden. Diese Befürchtung teilen wir ja durchaus mit den "Massen".

Aber auch subjektiv fehlt uns vieles: Wo ist das Wissen, wie man Betriebe organisiert? Wo ist die Verbindung von arbeitsteiliger und Eigenproduktion? Wo sind radikal über die bestehenden Verhältnisse hinausführende Richtungsforderungen, die dennoch im Bestehenden beginnen? Wo ist die Klarheit, welche ökonomischen Schrumpfungsprozesse man unmittelbar angehen will?

Du sagst, die Politik reagiert souverän. Was soll sie sonst auch tun? Das ist ja auch ein zentrales Problem: Die reformistischen Kräfte fühlen sich im Vorteil, sehen aber nicht, dass es zurzeit um alles andere als um Dekommodifizierung geht. So wird zwar die Börsenbahn erst einmal gestoppt, aber die Bahn wird weiterhin wie ein auf Profit ausgerichtetes Unternehmen geführt. Frustrierend ist doch, dass politische Beschlüsse der Vergangenheit gar nicht hinterfragt werden. Ein Teil des für den Finanzmarkt freigesetzten Geldes ist auf die Privatisierung der Rente zurückzuführen. Aber es wird nicht einmal die Frage aufgeworfen, ob das wirklich eine so gute Idee war ...

Ja, in der Tat, die Aussage, dass das Soziale unmittelbar aus dem gesellschaftlichen Reichtum gesichert werden muss, ehe er in die Hände der AnlegerInnen und auf die Finanzmärkte gelangt, bleibt weitgehend ohne Substanz. Wir haben in der Erklärung des attac-Ratschlages Mitte Oktober zwar durchaus einige konkrete Punkte benannt, wo es jetzt auch tagespolitisches Eingreifen geben müsste; der endgültige Verzicht auf die Bahnprivatisierung ist dabei noch der eingängigste. Die Forderung nach Abschaffung der Riester-Rente löst zwar vielerorts Kopfnicken aus, aber sie ist bisher keineswegs kampagnenfähig. Die Nichteinführung des Gesundheitsfonds fand selbst in attac als Forderung Widerspruch, weil das doch mit der Krise angeblich gar nichts zu tun habe - dabei geht es dabei um die Abschaffung der gesetzlichen Krankenversicherung. Es gibt gegenwärtig in einigen Bündniszusammenhängen Bemühungen um die Entwicklung mobilisierungsfähiger Tagesforderungen, aber da ist noch viel dran zu arbeiten; die meisten Akteure halten eisern an ihren seit Jahren betriebenen Anliegen fest, sodass man ellenlange Kataloge richtiger Forderungen ohne jede Zuspitzung bekommt. Das nützt niemandem.

Auf der einen Seite ist deutlich, dass nicht nur der Neoliberalismus Legitimationsprobleme hat, sondern durchaus auch der Kapitalismus als Ganzes. Gleichzeitig ist vielen noch nicht bewusst, was noch blüht. Die noch nicht in vollem Umfang wahrgenommenen Kredite sowie die Gelder für das Konjunkturprogramm sollen ja weder durch Staatsschulden noch durch Steuererhöhungen bei Unternehmen und hohen Einkommen finanziert werden. Das bedeutet also, dass weitere Zumutungen auf die Subalternen zukommen werden. Es wird wohl eher verstärkt Abwehrkämpfe geben müssen. Doch momentan will die IG Metall z.B. dem Kapital angesichts der Lage nicht all zu viel zumuten ...

Die Signale aus der IG Metall sind widersprüchlich. Einerseits deutet der Vorsitzende an, eine Vier vor dem Komma sei auch gut, andererseits gibt es Streiks für die acht Prozent. Diese Forderung ist ja absolut richtig und eine korrekte Antwort auf die Krise: Jedes Geld, das als Einkommen in die Taschen der Menschen fließt, muss nicht auf irgendwelchen Märkten gewinnbringende Anlage suchen.

Jetzt wäre eigentlich der Zeitpunkt, um darüber zu debattieren, welcher Anteil des gesellschaftlichen Reichtums unmittelbar beispielsweise in die Daseinsvorsorge fließen sollte - mit dem Modell einer selbstverwalteten Bürgerversicherung, bezahlt zur Hälfte aus Beiträgen auf alle Einkommen und zur anderen Hälfte aus Unternehmensgewinnen gibt es ja einen realpolitischen Vorschlag, wie das organisiert werden könnte. Auch die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen hätte aktuell die Fähigkeit, die Funktionslogik des Kapitalismus tendenziell infrage zu stellen. Solche Forderungen wollen den Anteil des Reichtums, der der kapitalistischen Verwertung zur Verfügung steht, verringern. Das ist als solches natürlich noch nicht revolutionär, aber es stört den Versuch, die Verwertungsmaschine ohne allzu viel Aufhebens zu reparieren.

Die Krise ist eine globale Krise und z.Z. verschiebt sich weltpolitisch einiges. Deutschland lehnt bisher - die von Frankreich initiierte - verstärkte europäische Kooperation ab, Russland heizt den Konflikt mit den USA an und viele Staaten haben finanzielle Probleme oder es drohen autoritäre Krisenlösungen. Die Finanzkrise zeigt auch die neue Rolle Chinas ganz deutlich. Es zeichnen sich zwei Entwicklungen ab: einerseits die Notwendigkeit verstärkter Kooperation, die nicht von allen Ländern gewollt ist; gleichzeitig wachsen die internationale Staatenkonkurrenz und zumindest die Gefahr von Krieg.

Ganz sicher können solche großen Krisen nach innen reaktionäre und nach außen militärische Lösungsversuche provozieren. Wer das ausschließen wollte, beginge einen großen Fehler. Aber man muss sich die internationale Situation genau anschauen: Die Krise begann in den USA und scheint diese auch bisher am härtesten zu treffen, auch wenn exportierende Staaten wie China und Deutschland ebenfalls besonders harte Einbrüche erleben werden. Barack Obama wird alles tun, um die Rolle der USA als Führungsmacht zu erhalten und auszubauen. Das ist das Projekt, hinter dem er den größten Teil der US-Eliten versammeln kann. Und die militärische Ebene ist diejenige, wo die US-Hegemonie bisher am eindeutigsten ist. Er muss die beiden nicht gewinnbaren Kriege in Irak und Afghanistan rasch beenden, dann besteht durchaus ein Drohpotenzial, das auch real eingesetzt werden könnte. Auch Länder wie Deutschland könnten versucht sein, ihre Eigeninteressen aggressiv zu verfolgen.

Allerdings gibt es gute Gründe, die für ein anderes Szenario sprechen. Es gibt eine sehr starke gegenseitige Abhängigkeit zwischen der Wirtschaft der USA und ihrer Gläubigerstaaten, also vor allem China und Russland, aber auch Gegensätze. China hält mit 1,8 Billionen US-Dollar den größten Einzelanteil an den US-Staatsschulden von über zehn Billionen US-Dollar und hat damit den Konsum in den USA finanziert und letztendlich seine eigenen Exporte dorthin. Es hat ein starkes Interesse an der Funktionsfähigkeit des US-Konsummarktes. Die USA ihrerseits werden ihr Leistungsbilanzdefizit abbauen müssen, wenn sie ihre Schuldenlage verbessern wollen. Das werden sie nicht können, ohne den US-Dollar abzuwerten. Das wiederum kann den Gläubigern nicht recht sein. Auch andere Exportökonomien wie etwa die deutsche haben kein Interesse an einem allzu schwachen US-Dollar.

Ob und wie dessen Funktion als Weltgeld eine Abwertung überstehen würde und wer oder was gegebenenfalls an seine Stelle treten könnte, ist völlig unklar. Deshalb gibt es einen immensen internationalen Klärungsbedarf und das G20-Treffen am 15. November war ganz gewiss nur der Anfang einer langen Serie von Verhandlungen. Dabei ist interessant, dass dieser Anfang sofort in der G20 und nicht in der G8 gemacht wird. Das zeigt, wie sehr sich die Kräfteverhältnisse schon verschoben haben.

Augenblicklich scheinen alle Regierungen auf eine neue Kooperationsebene zu setzen, die Debatte um einen Green New Deal wird überall aufgenommen und könnte eine Basis für eine in der Konkurrenz gemeinsame Krisenlösungsstrategie sein. Aber die Widersprüche sind natürlich stark und eine sichere Prognose, ob nicht doch einzelne Länder Alleingänge versuchen, ist nicht möglich.

aus: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 533/21.11.2008