Quantenphysik und Marxismus

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- Einleitung

I. Der harte Kern der Quantenphysik 3
1. Quantensuperposition 4
2. Quantenverschränkung 4
Exkurs: Widerlegung der Relativitätstheorie ? 5
3. Komplementaritätsprinzip 5

II. Quantenphysik und Philosophie 7
Begriffe und Bedeutungen – Der Turm von Babel 8

III. Quantenphysik und Marxismus 9

IV. Der Weg der Erkenntnis 11
1. Der Zuständigkeitsbereich der Physik 11
2. Die Eigentümlichkeiten der Quantenphysik 12
Exkurs: Komplementarität und Dialektik 14
3. Physik und Wahrheit 15

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Als vor nunmehr 150 Jahren Max Planck, der Vater der Quantenphysik geboren wurde, neben Albert Einstein der wohl berühmteste deutsche Physiker, schien die Physik weitgehend vollendet und in Gänze verstanden und physikalische Fragen standen nicht im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Planck selbst äußerte noch um die Jahrhundertwende, dass „in dieser Wissenschaft schon fast alles erforscht sei, und es gelte, nur noch einige unbedeutende Lücken zu schließen“ – eine Ansicht, die zu jener Zeit von vielen Physikern vertreten wurde. Doch er wurde schon bald darauf zu einem Revolutionär wider Willen. Seine Quantenphysik brachte eine "Revolution des physikalischen Denkens" (Max Born), bahnte den Weg zu einer ganz ungewöhnlich fruchtbaren Epoche der Physik und am Ende seines Lebens war die Physik in fast allen ihren Prinzipien grundlegend verändert, stand im Mittelpunkt des Interesses nicht nur der Physiker sondern auch vieler Philosophen und einer zunehmenden Zahl interessierter Laien, wäre Anfang der 60er Jahre in der DDR beinahe zum Ausgangspunkt einer handfesten politischen Krise geworden. 


Dabei wirkt das im Jahre 1900 aus experimentellen Arbeiten hergeleitete 'Plancksche Strahlungsgesetz' für den Nicht-Physiker auf den ersten Blick banal, besagt im Kern nichts weiter als dass Strahlungsenergie nicht als kontinuierlicher, ununterbrochener Strom, sondern nur in kleinsten, nicht weiter teilbaren Energieportionen von ganz bestimmter Größe, den Quanten, aufgenommen oder abgegeben wird. Plancks Quantenhypothese wurde 1906 von Einstein zur Vermutung der Existenz von Lichtquanten erweitert, eine aus der damaligen Sicht der Physiker völlig unsinnige Annahme, war sich doch das ganze 19. Jahrhundert sicher, dass das Licht eine Wellenbewegung und damit eine kontinuierliche, nicht in Teilchen aufgespaltene sei. So wurde das Tor zu einer Welt aufgestoßen, wo die bis dahin für fundamental und unumstößlich gehaltenen Gesetze der klassischen Physik – und des gesunden Menschenverstandes – nicht gelten, das Tor zum Mikrokosmos der Atome, Elektronen, Photonen und der anderen kleinen und kleinsten 'Teilchen'. 

Die Quantenzustände unterscheiden sich grundlegend von den klassischen physikalischen Zuständen und können deshalb nicht auf klassische Weise beschrieben werden, finden sich auch nicht in den Objekten unserer Alltagserfahrung. Nach den Regeln der klassischen Physik ist das, was dort vor sich geht, unmöglich, was die erste Generation der Quantenphysiker zu teilweise verzweifelten Reaktionen geführt hat. Es hat fünf Nobelpreisträger gegeben, die den Nobelpreis bekommen haben für einen Beitrag zur Quantenmechanik: Max Planck, Albert Einstein, Louis de Broglie, Max von Laue, Erwin Schrödinger. Und alle fünf haben die Quantenphysik, wie wir sie heute kennen, nicht akzeptiert, weil sie der Meinung waren: So wollen wir die Physik nicht haben. Doch was auch immer darüber gesagt worden ist, die Realität der Quantenwelt ist genauso real wie die, die wir ständig um uns herum sehen, fühlen oder berühren.

Aus der Begegnung mit der Quantenwelt erwächst zunächst einmal die ernüchternde Erkenntnis, dass der Verstand, der Begriffsapparat, das Vorstellungsvermögen auch der intelligentesten, am besten ausgebildeten und phantasievollsten Exemplare und Teams unserer Spezies offenbar nicht ausreichen, diesen Aspekt unserer Welt begrifflich zu fassen, sich vorzustellen, halbwegs verständlich zu beschreiben. Den Grund dafür sehen manche ganz spontan in der Tatsache, daß wir von Natur aus nur eine für unseren – mittleren – Bereich der Größenskala angemessene Verstandesausstattung, Begriffswelt und Vorstellungsvermögen erworben haben, dass daher die Mikrowelt der Atomteilchen, der Quanten, Quarks und Strings unserer Begriffs- und Vorstellungswelt aus diesem Grunde fremd und unzugänglich bleiben muss. Dass die eigentlichen Gründe woanders liegen (dazu später), erschließt sich nicht auf Anhieb.

Denn ganz von der Hand zu weisen ist dieser Gedanke nicht, sind unsere Denkstrukturen und Vorstellungswelt doch zunächst einmal nichts anderes als ein Ergebnis der Evolution. Sie entwickelten sich in der Auseinandersetzung mit der realen Welt, die uns umgibt. Wir sind von Natur aus lediglich an die irdische Welt der mittleren Dimensionen – und damit der klassischen Physik – adaptiert, scheitern an den makro- und mikrokosmischen Dimensionen. Wir können von der Mikrowelt ebenso wenig eine passende Vorstellung entwickeln wie etwa ein Wal, der sein Leben im Zustand der völligen Schwerelosigkeit in den dämmrigen, diffusen, konturenlosen Weiten der Weltmeere verbringt, von den Fallgesetzen oder von der schroffen, harten, farbenprächtigen Welt eines Hochgebirges.

Homo sapiens ist allerdings – anders als der Wal – nicht in erster Linie biologisch determiniert, ist vor allem Geist, verfügt über eine hoch entwickelte Intelligenz und Kultur, über die Fähigkeit zum zielstrebigen Experimentieren und zur gesellschaftlich organisierten Arbeit – und obendrein neben der Alltagssprache noch über eine ganz besondere Sprache, in der sich auch die hochgradig paradoxe, geradezu abartige, skurrile quantenmechanische Wirklichkeit durchaus angemessen darstellen läßt, die Mathematik. Es bestätigt sich hier die Auffassung Galileis: „Das Buch der Natur ist mit mathematischen Symbolen geschrieben. Genauer: Die Natur spricht die Sprache der Mathematik.“ Diese liefert zwar nur eine völlig unanschauliche, abstrakte, in Formeln gefaßte Darstellung, versetzt uns aber immerhin in die Lage, die Quantenwelt – wenn schon nicht zu durchschauen und zu begreifen – so doch erfolgreich zu handhaben und unseren Zwecken nutzbar zu machen, obwohl wirklich niemand versteht und erklären könnte (auch die Physiker nicht), was dort eigentlich geschieht. Aber mathematisch gesehen ist das alles sauber und 'einfach', geht es um Gleichungen, die jedem Physiker vertraut sind und die zentrale Quanten-Gleichung, die sogenannte Schrödinger-Gleichung, ist die heute am meisten benutzte und die am häufigsten 'an die Tafel geschriebene' mathematische Gleichung überhaupt. 

Mit der Kombination von Quantenmechanik und Mathematik gelangten wir zu einem vorher unerreichbaren, tieferen Verständnis der subatomaren 'Teilchen', der Atome, Moleküle, chemischen Bindungen, der Struktur von Festkörpern, Supraleitern, Supraflüssigkeiten, der Sternenstruktur und des Universums, haben das Tor aufgestoßen zu einer wahren Wunderwelt von Möglichkeiten – und zugleich auch zu einer wahren Monsterwelt von Gefahren. Inzwischen hat die technische Anwendung der physikalischen Prinzipien der Quantenwelt auch längst in der Form elektronischer Geräte aller Art – ob als Konsumgüter oder als Kriegsgerät – in unseren Alltag Einzug gehalten. (Mehr als die Hälfte der industriellen Produktion etwa der USA beruht zumindest teilweise auf dem technischen Spin-off der Quantenphysik.) 

Da man die Technik wohl zu Recht als eine besondere – extensive – Form des physikalischen Experiments betrachten kann, ist damit auch ein wesentlicher praktischer Beweis für die Wirksamkeit und damit zugleich für die Wirk-lichkeit der Gesetze der Quantenmechanik erbracht, insofern es sich als möglich erwiesen hat, auf ihrer Basis eine menschlichen Zwecken dienende Technik zu errichten. 



I. Der harte Kern der Quantenphysik

„Man muss ‚die Philosophie beiseite liegen lassen‘ ... man muss aus ihr herausspringen und sich als ein gewöhnlicher Mensch an das Studium der Wirklichkeit geben, wozu auch ... ein ungeheures, den Philosophen natürlich unbekanntes Material vorliegt; ... Philosophie und Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie und Geschlechtsliebe.“ (K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 217f.) 1

Bevor wir auf die philosophischen Aspekte der Quantenphysik zu sprechen kommen, ist es also unabdingbar, dass wir uns mit einiger Gründlichkeit der Sache selbst – eben der Quantenphysik – zuwenden. Es macht keinen Sinn, über eine Sache zu philosophieren, bevor man sich nicht der Mühe unterzogen hat, die Sache selbst zu studieren so gut es eben geht. Für (uns) Nicht-Physiker ist das nicht eben leicht und wir werden uns nicht einbilden, nach einem solchen kurzen Durchgang in der Sache selbst mitreden zu können – es sei denn in der Form von Fragen. Aber wir können und müssen doch zumindest einen Eindruck davon gewinnen, was sich hinter einer Kennzeichnung wie „die hochgradig paradoxe, geradezu abartige, skurrile quantenmechanische Wirklichkeit“ real verbirgt. So soll im folgenden versucht werden, dies an drei Beispielen deutlich werden zu lassen, da ansonsten das ganze Ausmaß der erkenntnistheoretischen Problematik leicht unterschätzt werden könnte. Dies – wie bereits festgestellt – unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass die „quantenmechanische Wirklichkeit“ ohne den für Nicht-Physiker und Nicht-Mathematiker unverständlichen mathematischen Formalismus nicht wirklich korrekt darstellbar ist, dass die Alltagssprache nur Anschauungshilfen für eigentlich ausschließlich mathematisch exakt beschreibbare Zustände liefern kann. 


1. Quantensuperposition
Die sogenannte Superposition ist uns auch in unserem alltäglichen Erfahrungsbereich nicht vollkommen fremd. Wir begegnen ihr zum Beispiel, wenn wir beobachten, wie unterschiedliche Wellenfelder aus kleinen Wasserwellen, die über die ansonsten ruhige Wasserfläche eines Sees laufen, sich gegenseitig durchdringen. Diese Wellenfelder mit unterschiedlicher Laufrichtung überlagern sich in einem begrenzten Wechselwirkungsgebiet und laufen nach Verlassen dieses Gebietes unbeeinflußt in ihrer ursprünglichen Form und Richtung weiter. Das läßt sich nun auch so interpretieren, dass jene Punkte und Masseteilchen in dem Wechselwirkungsgebiet, wo sich die Wellen der beiden unterschiedlichen Wellenfelder schneiden ('interferieren') , gleichzeitig zwei Wellen zugehören; dass sie sich also gewissermaßen in zwei Zuständen zugleich befinden oder, anders gesagt, in einem Zustand der Überlagerung von zwei Zuständen, im Zustand der Superposition. 

Quantenobjekte können allerdings noch deutlich mehr. Sie können nicht nur in mehreren Zuständen zugleich existieren, sondern darüber hinaus auch an verschiedenen Positionen zum gleichen Zeitpunkt koexistieren. Wenn wir ein klassisches Objekt wie ein Bierglas auf dem Tisch haben, hat dieses immer nur eine Position. Ich verschiebe es, und es hat eine neue Position, verschiebe es noch einmal . . . und so fort. In jedem Moment hat das Glas nur eine Position. Aber in der Quantenmechanik ist es ohne weiteres möglich, dass alle die verschiedenen Zustände und Positionen zum gleichen Zeitpunkt koexistieren. Wir sprechen dann von dem Quantenphänomen der Superposition, von der Quantensuperposition. Wenn ein mikrophysikalisches System zwei (oder mehr) unterschiedliche Zustände einnehmen kann, dann ist stets auch die Überlagerung / Superposition dieser Zustände möglich. (Es soll an dieser Stelle zumindest darauf hingewiesen werden, dass sich im Zusammenhang mit dem Quantenphänomen der Superposition Fragen auch hinsichtlich der Gültigkeit / der Reichweite der klassischen Logik ergeben haben, eine Diskussion, die wir hier nicht führen können.)

Die Quantensuperposition ist nicht nur eine Sache der Theorie sondern wird u.a. für die theoretische Konzeption von Quantencomputern herangezogen und wurde inzwischen auch für erste Keimformen von Quantencomputern technisch mit Erfolg umgesetzt. 


2. Quantenverschränkung
Verschränkung bedeutet die Neigung von miteinander in Wechselwirkung stehenden 'Teilchen', sich zu 'verschränken', d.h. in Verbindung zu bleiben bzw. eine gegenseitige Koordination auszubilden, sodass die Eigenschaften des einen stets von den Eigenschaften des anderen abhängen. Auch wenn man sie durch noch so große Entfernung voneinander trennt, sie bleiben immer 'in Verbindung'. (Das mit der Verschränkung verbundene Phänomen der„spukhaften Fernwirkung“ (Einstein), dass die Durchführung von Messungen an einem Ort die Messergebnisse an einem (im Prinzip beliebig weit entfernten) anderen Ort beeinflusst, war übrigens einer der Gründe, weshalb Einstein die Quantentheorie ablehnte.)

Nehmen wir als Beispiel ein Paar von verschränkten Elektronen. Bei einer entsprechenden Messung wird eines von ihnen den Spin [Eigenschaft, die man sich als die Orientierung ihrer Rotationsachsen vorstellen kann] 'up' zeigen, das andere den Spin 'down'. Es ist aber nicht vorhersagbar, welches der beiden Elektronen den 'up'- und welches den 'down'-Spin haben wird. Als Glied eines verschränkten Paares weist jedes Elektron bis zum Augenblick der Messung eine 50 : 50-Wahrscheinlichkeit auf, sich als 'up'- oder 'down'-geprägt zu erweisen. Wird nun der Spin eines der beiden Elektronen gemessen, so wird dadurch ohne jede zeitliche Verzögerung ('instantan') der Spin des anderen festgelegt – auch an einem im Prinzip beliebig weit entfernten anderen Ort. Es spielt keine Rolle ob sich das eine Elektron in einer Stahl- oder auch Bleikassette in einer tiefen Felsspalte am Meeresgrunde befindet und das andere Elektron Milliarden Lichtjahre entfernt in einer am entgegengesetzten Ende des Universums befindlichen Kassette. Das eine Elektron wird im Falle der Messung ohne jede zeitliche Verzögerung auf den – bis zum Zeitpunkt der Messung nicht festliegenden (!) – Zustand des anderen meßbar reagieren. Das ist nicht etwa nur Theorie sondern im Labor beobachtete Erfahrung. Übertragen auf das Verhalten von zwei 'verschränkten' Würfeln würde das bedeuten, dass, wenn der eine geworfen wird, auch der andere, ganz gleich wie weit entfernt er sich befindet, dieselbe Augenzahl anzeigt, unvorhersehbar welche, aber perfekt synchron. Ursprünglich nur als relevant für mikroskopische Systeme vermutet, ist die Quantenverschränkung in jüngerer Zeit auch über makroskopische Distanzen und für mesoskopische [mittelmaßige] Systeme direkt nachgewiesen worden.

Der Quantenverschränkung ist im Quantencomputer eine wichtige Rolle zugedacht. Sie ist dafür vorgesehen, innerhalb des Systems Informationen zu verarbeiten und – ohne jeden Zeitverlust – zu transportieren. Auf dem Wege dahin gelang es im Jahre 2004 Forschern von der chinesischen Universität in Hefei und der Universität Heidelberg erstmals, fünf Lichtteilchen gleichzeitig miteinander zu verschränken und damit erstmals die Grundlage für eine Art Fehlerkorrektur bei der Übermittlung quantenmechanischer Zustände zu schaffen. Allerdings ist festzuhalten, dass die auf diese Weise innerhalb des Quantencomputers verarbeiteten Informationen niemals direkt ausgelesen werden können, denn mit dem Akt der Auslesung (= Messung) ist zwangsläufig der Übergang aus der Quantenwelt des Computers in die Welt der Meßgeräte – und das heißt in die Welt der klassischen Physik – verbunden und es tritt das auf, was Physiker die 'Zustandsreduktion' nennen, die als fundamentaler Bestandteil der Physik niemals umgangen werden kann. (mehr dazu s.u.)

Exkurs: Widerlegung der Relativitätstheorie ?
Man könnte vor diesem Hintergrund nun auch auf die Idee kommen, durch die Kombination von Superposition und Nicht-Lokalität – durch die instantane Fernwirkung – sei es möglich, die Lichtgeschwindigkeitsbarriere zu durchbrechen, die nach Einsteins Relativitätstheorie die maximal erreichbare Geschwindigkeit nicht nur von Licht, sondern auch von jeder anderen Form der Energie, Information oder Wirkung ist und die in der Physik eine zentrale Rolle spielt. Dies ist jedoch – aus Gründen, die hier nicht näher erläutert werden können, nicht möglich. Damit ist zwar die 'instantane' – d.h. ohne jede zeitliche Verzögerung – auch über große Entfernungen erfolgende Beinflussung ein wesentliches Merkmal unseres Universums, für die Übermittlung realer Informationen ist diese Konstellation jedoch auf Grund anderer quantenphysikalischer Gesetzmäßigkeiten nicht nutzbar. Eine Widerlegung von Einsteins Spezieller Relativitätstheorie kann daraus also nicht abgeleitet werden. 


3. Komplementaritätsprinzip
Das Komplementaritätsprinzip ist von fundamentaler Bedeutung als Hilfskonstruktion für das Verständnis der Quantenmechanik. Es hat seinen Ursprung und seine Funktion an dem schon mehrfach erwähnten zentralen Problem der Quantenphysik, dass die physikalische Realität der Quantenwelt grundsätzlich verschieden ist von der Welt der klassischen Physik, dass sich die eine also nicht bruchlos und ohne erheblichen Substanzverlust in die andere übersetzen läßt, da die physikalische Meßtechnik und Theoriebildung (zumindest bisher) allein auf die Technik und auf die Begriffswelt der klassischen Physik angewiesen sind. Es liegt auf der Hand, dass es dadurch am Schnittpunkt beider zu schwerwiegenden Verzerrungen in der Darstellung und im Verständnis kommt.

Eine wesentliche Hilfskonstruktion, um mit diesen Verzerrungen umzugehen, ist eben das Komplementaritätsprinzip, das traditionell meist am Welle-Teilchen-Dualismus – zum Beispiel an der Welle-Teilchen-Doppelnatur des Lichts – erläutert wird. Die Vorstellung, dass ein Untersuchungsobjekt Welle und Teilchen zugleich sein kann, ist mit dem Alltagsverständnis und mit aller bisherigen Physik unvereinbar. Das Licht hat aber tatsächlich Wellen- und Teilchencharakter zugleich oder – genauer gesagt – zu seiner vollständigen Beschreibung müssen sowohl das Teilchen- als auch das Wellenbild herangezogen werden. Es besteht eine Komplementarität zwischen Wellen- und Teilchenaspekten im klassischen Sinne. Wellen- und Teilchencharakter scheinen aber einander auszuschließen. Der Teilchencharakter hat eine diskrete Natur [besteht aus räumlich getrennten Teilen]. Es gibt kleinste Teilchen. Teilchen sind nicht interferenzfähig, denn sie können sich im Unterschied zu Wellen nicht gegenseitig auslöschen. Der Wellencharakter hingegen hat nicht eine diskrete sondern eine wesentlich kontinuierliche Natur, es gibt Interferenzerscheinungen. 

Erst beide Eigenschaften zusammen genommen, so widersprüchlich sie auch sind, ergänzen einander (indem sie sich widersprechen) zur vollständigen Beschreibung. Und so hat man in der Physik gelernt, mit dem Auftreten von komplementären Größen in der beschriebenen Weise umzugehen: man läßt beide Eigenschaften nebeneinander gelten, man nimmt eine Synthese von Wellen- und Teilchencharakter vor, da nur so die Eigenschaften der Quantenobjekte vollständig erfasst werden. 

(Grundlage dieser Erkenntnisse und in gewissem Sinne Ausgangspunkt der Quantentheorie überhaupt ist das sogenannte Doppelspalt-Experiment, das sorgfältig studieren sollte, wer ein tieferes Verständnis anstrebt. Dieses Experiment kann hier nicht dargestellt und interpretiert werden, da dies bei der gebotenen Kürze höchstens für diejenigen verständlich wäre, die es sowieso schon kennen. Es gibt jedoch zum Einstieg eine anschauliche, gut gemachte und leicht zugängliche Filmanimation, die geeignet ist, das Doppelspalt-Experiment und seine grundsätzliche Bedeutung auch Nicht-Physikern auf verständliche und unterhaltsame Weise nahe zu bringen.) 2

Ein kleines Gedankenexperiment mag helfen, den Zugang zum besseren Verständnis des Komplementaritätsprinzips zu erleichtern. Stellen wir uns eine Gesellschaft von lebendigen Wesen vor, die – von gleicher Intelligenz wie wir – in einer zweidimensionalen Welt leben. Sie kennen nicht die dritte Dimension, nicht oben und unten, nur links und rechts, vorwärts und rückwärts, keine räumlichen Gebilde wie Kugeln, Quader, Kegel, Zylinder etc., nur Punkte, Linien und Flächen, Kreise, Ellypsen, Dreiecke, Rechtecke, Quadrate etc. In diese Flächen-Welt dringt nun aus unserer 3D-Welt ein zylinderförmiger Körper – sagen wir: eine Bierdose – ein. Sie steckt senkrecht in der Fläche der 2D-Welt und ruft zuerst einmal heftiges Erschrecken und Erstaunen hervor. Erste Messungen der 2D-Physiker an der Schnittfläche ergeben natürlich: Es handelt sich bei dem fremden Objekt offensichtlich um einen Kreis. Die dritte Dimension der Dose ist für die Meßgeräte, über die die 2D-Physiker verfügen, nicht erkennbar und für das Alltagsverständnis der 2D-Wesen nicht vorstellbar. Bei der Begegnung mit einem weiteren Exemplar dieses fremden Objekts, das dieses Mal nicht senkrecht sondern in Längsrichtung in der Fläche der 2D-Welt gelagert ist, stellen die 2D-Physiker bei der Messung der Schnittfläche jedoch fest: Es handelt sich um ein Rechteck. Sie haben es aus ihrer Sicht also mit einem Objekt zu tun, das zur gleichen Zeit ein Kreis und ein Rechteck ist, je nachdem von welcher Seite man es betrachtet. Nach den Regeln ihrer klassischen Physik ist das, was sie dort vor sich haben, widersprüchlich und unmöglich. Wenn sie so klug sind wie unsere (3D-) Physiker, wenn unter ihnen gar ein Niels Bohr ist, werden sie schon bald dazu übergehen, sich des Komplementaritätsprinzips zu bedienen um das „Problem des Schnitts zwischen zu untersuchendem System und Meßmittel“ zu überwinden und werden sich womöglich eines Tages sogar – nach gewaltigen Fortschritten nicht nur ihrer Physiker sondern auch ihrer Ingenieure und Techniker – an dem Inhalt der Dose erfreuen können. (Auch die in diesem Gedankenexperiment dargestellte 2D-Welt kann man sich zur weiteren Vertiefung des Verständnisses in einer kleinen Filmanimation nahe bringen lassen.) 3 



II. Quantenphysik und Philosophie 

Aus der Quantenphysik ergeben sich – deutlicher noch als aus allen anderen Bereichen der modernen Naturwissenschaften – eine Reihe von weitreichenden und grundsätzlichen philosophischen Fragen und Problemen und so verwundert es nicht, dass fast alle führenden theoretischen Physiker seit der Einstein-Generation zugleich auch über die Ergebnisse ihrer Arbeit philosophierten. Schließlich steckt in jedem Begriff, in jedem Satz, mit dem sie ihre Forschungsergebnisse sich und anderen zu erklären suchen, bereits ein Stück Philosophie. Vor dem Hintergrund der für das herkömmliche Denken extrem verwirrenden Ergebnisse seiner Forschungen muß der Physiker zu klären versuchen, was er eigentlich tut und was er meint, wenn er solche Begriffe wie Wahrheit, Wirklichkeit, Natur, Phänomen usw. gebraucht. (Und galt es Jahrhunderte lang als ein besonderer Ruhm der Mathematik, dass sie keinen Streit der Meinungen kennt, so hat auch sie inzwischen durch die Diskussion über ihre in den Bereich des Philosophischen reichenden Grundlagenfragen diesen schönen Ruhm verloren.) 

Dabei verfahren die Physiker jedoch oft nach Denkmethoden und -gewohnheiten, die zwar ihrem Forschungsgegenstand angemessen, mit den traditionellen Ansätzen und Ansprüchen der Philosophie jedoch nur schwer vereinbar sind, zumal die meisten zugleich der Meinung waren (und sind), dass es eine Philosophie, die ein adäquates Verständnis liefern könnte, nicht gibt. Dies umso mehr, als ihnen einschlägige Arbeiten, die von marxistischer Seite geleistet worden sind, entweder noch nicht bekannt sein konnten oder aber aus anderen Gründen nicht zur Kenntnis genommen wurden und werden. (Dazu später mehr.)

Erschwerend kommt hinzu, dass die eher allgemeinverständlich formulierten Meinungen und Darstellungen auch der modernen Quantenphysiker (und nur auf diese beziehe ich mich, nicht aber auf die gerade auf diesem Gebiet weit verbreitete Scharlatanerie) weiterhin erstaunlich weit auseinander liegen, je nachdem vor welchem erkenntnistheoretischen Hintergrund sie agieren und – mehr noch – je nachdem welchen Zweck sie mit ihrer jeweiligen Veröffentlichung verfolgen. (Die dabei entstandenen verschiedenen Denkschulen können hier aus Platzgründen nicht dargestellt werden.) Handelt es sich um eher populärwissenschaftliche Bücher, so ist nicht selten festzustellen, dass diese um des Verkaufserfolges willen möglichst spektakulär angelegt und formuliert sind und keineswegs dem Zwecke dienen, durch Entmystifizierung mehr Klarheit und Nüchternheit im Umgang mit der Quantenmechanik zu verbreiten. Sind es doch gerade die kurios, faszinierend, durch und durch wundersam anmutenden Züge der Quantenphysik, ihre abstrakte Extravaganz und Skurrilität, die erst das Interesse eines breiteren Publikums wecken und Verkaufserfolge sichern helfen. Eine tragende Rolle in diesem Trauerspiel spielt dabei oft genug 'Schrödingers Katze', jenes Gedankenexperiment, das 1935 vom österreichischen Physiker Erwin Schrödinger vorgeschlagen wurde allein zu dem Zweck, um mit diesem – so dachte Schrödinger – für jedermann offensichtlich absurden, „ganz burlesken“ Beispiel bestimmte Schwächen bestimmter Interpretationsmuster der Quantenmechanik zu demonstrieren. Da die Quantenphysik sich aber heute für die breite Öffentlichkeit stark mit der Assoziation 'Schrödingers Katze' verbindet, kann kaum ein Autor der Versuchung widerstehen, darauf mehr oder weniger ausführlich – oft genug schon im Buchtitel – einzugehen, nicht einmal renommierte Professoren der Physik, die auf höchstem Niveau arbeiten und zur gleichen Zeit an anderer Stelle – in ihrem Universitätslehrbuch der Physik – in wenigen lapidaren Sätzen nachweisen, dass es sich bei 'Schrödingers Katze' um eine auch für den Bereich der Quantenphysik in Wirklichkeit ganz absurde Vorstellung handelt, müßte es doch nach den diesem Gedankenexperiment zu Grunde liegenden quantenphysikalischen Gesetzmäßigkeiten dann auch möglich sein, „tote Katzen zum Leben zu erwecken“ (Audretsch S. 256). Diesen letzten – eigentlich logischen – Schritt bei der üblichen unkritischen Übertragung von Gesetzen und Begrifflichkeiten aus der Quantentheorie in die reale Welt an sich ist jedoch bisher noch keiner der Begriffs- und Realitätsjongleure der populärwissenschaftlichen Quantenliteratur gegangen; das überläßt man weiterhin doch lieber den Theologen. Fazit: Die weit verbreiteten Gedankenspiele um 'Schrödingers Katze' müssen als nicht wirklich hilfreich für ein tieferes Verständnis der Quantenphysik angesehen werden.


Begriffe und Bedeutungen – Der Turm von Babel
Wer sich als neugieriger Nicht-Physiker auf das reizvolle Abenteuer Quantenphysik einläßt, sieht sich einer unerfreulichen Sprachverwirrung gegenüber, wo philosophierende Physiker und über Physik dilettierende Philosophen ausdauernd aneinander vorbei reden, u.a. weil oft unklar bleibt, ob sie mit gleichen Begriffen auch gleiche Inhalte verbinden. Die Verwirrung beginnt bei der unkritischen Verwendung zentraler Begriffe, etwa bei der geradezu babylonischen Sprachverwirrung, die um Begriffe wie Kausalität, Ursache, Wirkung, Determinismus, Gesetz, Zufall, Notwendigkeit entstanden ist, weil meist überhaupt nicht klar ist, wovon eigentlich die Rede ist, von den Begriffsinhalten der klassischen Physik, von dem Kausalitätsbegriff der modernen Physik, von der alten, eng mechanistischen Auffassung oder von irgendeinem eher unpräzisen Alltagsverständnis, das für Philosophie ausgegeben wird. Oft ist wohl nicht einmal bekannt, dass – geschweige denn worin – diese Unterschiede bestehen. (Wir können hier aus Platzmangel nicht genauer darauf eingehen.) Besonders verbreitet ist auch die Methode, ein spezifisches physikalisches Gesetz einer spezifischen physikalischen Theorie als allgemeines Weltgesetz auszugeben ohne nach den Voraussetzungen zu fragen, unter denen dieses Gesetz zustande kam und ohne sich um die spezifische, begrenzte Bedeutung der dort verwendeten physikalischen Begriffe zu kümmern. 

Nehmen wir ein Beispiel: den Begriff 'Zeit' . Im Alltagsleben unterstellt man den Zeitbegriff als etwas völlig Selbstverständliches, ohne darüber nachzudenken, was dahintersteht. Als konkrete Zeit (also als sinnlich-konkrete, als Zeit eben im Sinne des Alltagsverstandes) hat die Zeit eine Richtung, ist sie die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – und ist sie natürlich irreversibel [nicht umkehrbar]. Der Begriff Zeit als Meßgröße der Physik hat eine davon gänzlich verschiedene Bedeutung. Die Physik hat die Zeit resp. den Zeitbegriff für ihre Zwecke speziell präparieren müssen, um ihn für sich verwendbar zu machen. Damit hat sie ihren Begriff der Zeit der Wirklichkeit weit entrückt, ihn in ein reines Gedankenprodukt umgewandelt. Die Physik versteht unter Zeit keineswegs die konkrete Zeit im Sinne des Alltagsverstandes, sie versteht die Zeit (ebenso wie den Raum und den Körper) nicht als konkrete, sondern behandelt sie ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Meßbarkeit. Der aus Meßgründen in der Physik definierte Begriff der Zeit ist reversibel [in der Richtung umkehrbar], soweit er im Zusammenhang mit den reversiblen Grundgleichungen dieser Wissenschaft bestimmt ist und kennt von daher weder Vergangenheit, Gegenwart noch Zukunft. (Es gibt übrigens keinen Grund, dies zu bedauern. Es ist vielmehr eine große Errungenschaft, daß es der Physik gelang, die Zeit (ebenso wie den Raum, den Körper bzw. die Materie) so speziell zu präparieren, weil sie eben nur dadurch ihr Ziel, die Messung und Berechnung der Bewegung, erreichen konnte. Die Physik hat die Zeit damit erst eigentlich zu einer eigenen Dimension gemacht.)

Das Beispiel soll zeigen: Es gibt nicht so etwas wie Begriffe an sich mit einem quasi universellen Geltungsbereich, nicht einmal einen universellen Begriff der Zeit. Ein wissenschaftlicher Begriff erhält immer erst im Rahmen eines genau bestimmten Geltungsbereiches und einer genau bestimmten Theorie seinen bestimmten Inhalt. Wenn dann ein philosophierender Physiker 'sein' Verständnis des Zeitbegriffs – um bei diesem Beispiel zu bleiben – unkritisch in die Alltagssprache oder in die Sprache seiner Äußerungen zu philosophischen Fragen mitnimmt, sich also des Paradigmenwechsels beim Wechsel vom physikalischen Denken zum Alltagsdenken nicht hinreichend bewußt ist, dann ist der Turm von Babel nicht mehr weit; denn beim Leser wird er dieses Bewußtsein in der Regel nicht voraussetzen können. Den gleichen grundsätzlichen Fehler begehen über Naturwissenschaften dilettierende Philosophen, wenn sie Ergebnisse von physikalischen Experimenten und Messungen unmittelbar auf die Wirklichkeit, auf das reale Sein übertragen. Genau das aber geschieht oft recht unbekümmert selbst in seriösen Veröffentlichungen zu Themen im Umfeld der Quantenphysik (und anderswo).

Der physikalische Begriff 'Zeit' existiert in der realen Welt ebensowenig wenig wie der Marxsche Begriff 'Wert'. Beide sind reine Artefakte [künstliche gedankliche Produkte] zum Zwecke wissenschaftlicher Arbeit. Das eine aus der Wissenschaft der Physik. Das andere aus der Wissenschaft der Politischen Ökonomie. Zur realen Welt gehören die konkrete Zeit und der (konkrete) Gebrauchswert. Die Marxschen Begriffe haben insofern den Vorteil, schon mit der Wortwahl auf den grundsätzlichen Unterschied aufmerksam zu machen. Und wenn Marx darauf hinweist, daß der Gebrauchswert als Gebrauchswert jenseits des Betrachtungskreises der Wissenschaft Politische Okonomie liegt, war diese Aussage von allgemeiner erkenntnistheoretischer Relevanz, indem sie nämlich die Unterscheidung von konkretem Gegenstand und Verstandesgegenstand betrifft. Sie war damit zugleich in typisch Marxscher Manier eine Einübung in die Dialektik anstelle des Dozierens über dieselbe.


III. Quantenphysik und Marxismus  

Versucht man auf der Suche nach Klarheit auf die Beiträge von MarxistInnen zurückzugreifen, erlebt man eine weitere Enttäuschung: die Suche nach einer aus marxistischer Sicht – oder wenigstens unter angemessener Berücksichtigung marxistischer Beiträge – verfassten populärwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Quantenphysik bleibt ohne Ergebnis; es gibt schlicht nichts derartiges, jedenfalls nicht in deutscher Sprache. Dabei bemerkt der marxistisch angehauchte Leser schon bald, dass es auffallende Parallelen zu geben scheint zwischen bestimmten Formulierungen und Denkweisen der Quantentheorie und dem, was wir über Dialektik und über Materialismus gelernt haben. Es drängt sich zum Beispiel der Eindruck geradezu auf, dass das weiter oben bereits erwähnte Komplementaritätsprinzip deutliche Parallelen aufzeigt zu dem, was MarxistInnen unter Dialektik verstehen: Gewinnung neuer Erkenntnis aus dem Zusammendenken von Widersprüchen, „die Erforschung des Widerspruchs im Wesen der Dinge selbst“ (Lenin S. 99). Auch scheinen nicht wenige Beiträge – zumindest streckenweise – geradezu durchtränkt vom dialektischen Verständnis ihres Gegenstandes und von jenem spontanen Materialismus, dem sich Physiker naturgemäß nur schwer entziehen können, sodass Heisenberg einmal bemerkte: „Die Natur offenbart uns immer mehr ihren dialektischen Charakter, gerade im Bereich der Elementarteilchen. Aber die meisten Menschen können die Dialektik nicht vertragen – auch die Regierenden können das nicht. Dialektik schafft Unruhe und Unordnung. Die Menschen wollen eindeutige und konfektionierte Ansichten zur Verfügung haben.“ (nach Havemann S. 51)

Nun hat das Verhältnis zwischen der Quantenphysik – den modernen Naturwissenschaften allgemein – und dem Marxismus eine eigene, lange und äußerst turbulente Geschichte, deren Darstellung dicke Bände füllen würde und wo Marxisten nicht immer nur eine positive Rolle gespielt haben. Da waren auf der einen Seite Phasen großer – manchmal geradezu stürmischer – Erfolge zu verzeichnen, etwa in der Sowjetunion bis weit in die dreißiger Jahre hinein, und später in der DDR eine auf hohem wissenschaftlichen Niveau geführte Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen der Naturwissenschaft – speziell der Physik und Quantenmechanik. Es gab aber auch Phasen der geballten militanten Inkompetenz und Intoleranz, die hinreichend Stoff bieten würden für so manche Kommödie oder Farce – und leider auch für so manche Tragödie. Schließlich ging und geht es ja nicht 'nur' um Physik sondern immer auch um Weltbilder und Weltanschauungen und da haben Eigenschaften wie Sachkompetenz, Klugheit, Besonnenheit, Nüchternheit nicht selten das Nachsehen gehabt gegenüber Linkem Radikalismus und „revolutionärem WauWauspielen“ (Bloch). Heute liegen die Dinge wiederum anders, droht unter MarxistInnen eher Desinteresse und – im Ergebnis – Unkenntnis hinsichtlich der modernen Physik um sich zu greifen. 

Vom Klassengegner wurde und wird gerade die Quantenphysik und ihre philosophischen, vor allem ihre erkenntnistheoretischen Implikationen – neben der Chaos-Theorie, der Evolutionsbiologie und der Hirnforschung – gerne benutzt, um Angriffe gegen den dialektischen Materialismus zu führen. (Dies sicher auch wegen der weitgehend akzeptierten wissenschaftstheoretischen Vorbildfunktion der Physik.) Insbesondere dienen dazu die Behauptungen, die Quantenphysik sei ein Beleg dafür, 
a) dass in der Welt der Elementarteilchen das fundamentale Prinzip der Kausalität nicht mehr gelte, dass es dort stattdessen irgendwie mystisch und undurchschaubar zugehe und  
b) dass die Vorstellung von der Welt als einer an sich und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein real existierenden nicht mehr aufrecht zu halten sei 
– Behauptungen, die, wären sie zutreffend, die dialektisch-materialistische Grundposition von der Erkennbarkeit der Welt im Kern erschüttern würden. 

Der Diskussionszusammenhang um die Quantenphysik trägt daher hochpolitischen Charakter, auch wenn das nicht gleich auf den ersten Blick erkennbar sein mag. Dieser Frontabschnitt des ideologischen Klassenkampfes war daher nicht zufällig schon immer hart umkämpft und wird es noch lange bleiben. Heute ist dabei mehr denn je nicht die offene Auseinandersetzung angesagt, sondern die Methode des Verschweigens und der Denkverbote. Es ist bürgerlichen Physikern und Philosophen offensichtlich heute in aller Regel nicht gestattet, den dialektischen Materialismus auch nur zu erwähnen, geschweige denn zu Rate zu ziehen oder gar sich offen darauf zu berufen. Anstatt sich im offenen Disput mit seinen Vertretern auseinander zu setzen, greifen sie in verdeckter Form seine Kernbestandteile an, unter Ausnutzung der von der interessierten Öffentlichkeit – und von ihnen selbst – oft nicht ernst genommenen erkenntnistheoretischen Zusammenhänge dieses Sachgebietes. Mystifizierung, Chaotisierung, das kaleidoskopartige Spiel mit schillernden Begriffen und Analogien sind die am häufigsten anzutreffenden Methoden – 'anything goes', die Postmoderne läßt grüßen. Die Wirkung ist beträchtlich, vor allem wenn bürgerliche Ideologen unter Mißbrauch ihrer Autorität und ihres öffentlichen Renommees als Physiker die erkenntnistheoretischen Implikationen der Physik vernachlässigen, was durchaus nicht immer als bewußter und gezielter individueller Akt zu geschehen braucht, oft eher das Ergebnis von Wissenschaftspolitik denn von Wissenschaft ist. Umso wichtiger ist es, diesen Vorstößen mit der Strenge der dialektisch-materialistischen Analyse der erkenntnistheoretischen Aspekte der Naturwissenschaften – speziell der Quantentheorie – zu begegnen. Dieser Aufgabe hat man sich gerade auch in der DDR intensiv gewidmet und die Ergebnisse sind weiterhin leicht zugänglich (M. Buhr, H. Hörz, U. Röseberg u.a.). In den Jahren nach 1989 ist die Arbeit mit umfassenden Untersuchungen (Wahsner 1989 – 2006) weiter vorangetrieben worden, an die ich mich im folgenden weitgehend anlehne.



IV. Der Weg der Erkenntnis  

Der lange Weg der Erkenntnis, der uns von der 'Welt an sich' über die Wissenschaften – darunter auch die Philosophie – schließlich zum Weltbild, zur Weltanschauung führt, ist nicht nur verschlungen und kompliziert, er ist ein mehrfach gebrochener. Die Übergänge von einem Wegabschnitt der Erkenntnisgewinnung zum nächsten bedeuten nicht nur Erkenntnisfortschritt, sondern immer auch einen mehr oder weniger scharfen Schnitt, wo das Gesamtspektrum der vorhandenen Informationen und möglichen Erkenntnisse mehr oder weniger stark gefiltert, verfremdet, eingefärbt, verzerrt, vergröbert wird, jedenfalls nicht unbeeinflußt passieren kann. Dieser Weg hat seinen Anfang in der unendlichen Vielfalt der Objekte, Phänomene und deren Wechselwirkungen in der realen Welt, der – vom menschlichen Bewußtsein unabhängigen – realen und konkreten 'Welt an sich', der auch die menschliche Gattung als ein Objekt unter unendlich vielen zugehört.

Der erste Schnitt auf dem Wege der Erkenntnis liegt am Übergang von der 'Welt an sich' in die 'Welt für uns'. Schon der allererste Zugriff der Spezies Mensch auf die 'Welt an sich', mit dem der Mensch sich zum Handelnden, zum Subjekt erhebt, ist nicht neutral und absichtslos, geschieht – auch als Zugriff der Erkenntnis – stets aus Überlebensinteresse und erfasst daher die 'Welt an sich' nicht in ihrer Totalität, sondern – zumindest vorwiegend – in ihrem Aspekt als 'Welt für uns'. Alle Erkenntnis beruht von Anfang an auf interessegeleiteter und daher selektiver Wahrnehmung. Auch ist zu beachten, dass unser Zugriff auf die 'Welt an sich' stark eingeengt ist durch die Tatsache, dass wir nur einen sowohl zeitlich als auch räumlich winzigen Ausschnitt der Welt besiedeln, leben wir doch 'seit 5 Sekunden' wenn man das Bestehen der Menschheit mit dem Bestehen der Erde vergleicht und das Bestehen der Erde mit 4,5 Milliarden Jahren an den 24 Stunden des Tages festmacht. Auf einem winzigen Staubkorn irgendwo am Rande einer der 100 Milliarden Galaxien des Universums. Andererseits ist die 'Welt für uns' von der Art, dass wir ihren Anteil an der 'Welt an sich' ständig ausweiten, ist Homo sapiens sapiens doch dabei, seinen Erkenntnishorizont und seine Erkenntnismittel unaufhörlich zu erweitern, ein Vorgang, der zudem seit dem Beginn der industriellen Revolution ständig enorm an Tempo zunimmt.


1. Der Zuständigkeitsbereich der Physik
Der Übergang zum nächsten Abschnitt auf dem Wege der Erkenntnis führt uns in den Bereich der Wissenschaften – im Rahmen dieses Artikels in den Bereich, wo die Physik zuständig ist. Auch mit diesem Übergang ist wiederum ein Schnitt mit weitreichenden Konsequenzen verbunden. Die Physik ist eine empirische, mathematisierte, eine messende und rechnende Wissenschaft. Physikalisch real ist was meßbar ist. Nicht die wirklichen Naturgegenstände in ihren unendlich vielfältigen gegenseitigen Zusammenhängen sondern die Meßgrößen sind die Objekte der Physik. Sie trifft ihre Aussagen „. . . nicht unmittelbar über die wirklichen Gegenstände und deren wirkliches Verhalten, sondern über Größen und deren Beziehungen. Das Messen erfordert somit, sich zu einer idealen Welt zu erheben. Und das heißt: Eine jede messende Wissenschaft, nicht nur die Physik, macht Aussagen nur über das ideale Verhalten idealer Gegenstände resp. über meßtheoretisch bestimmte Verstandesgegenstände und deren Beziehungen (nicht über konkrete Gegenstände in ihrem konkreten Zusammenhang). Doch die sogenannten Verstandesgegenstände sind selbstredend nicht an sich vorhanden oder in der Vorstellung gegeben. Sie müssen gebildet werden.“ (Wahsner 1991 S. 186) „. . . müssen durch Vergleichsarbeit mühsam erzeugt werden; sie sind auf der Basis real vorhandener Gleichheiten konstruierte Gedankendinge, („physikalische Verstandesgegenstände“ (Wahsner 1989 S. 99)) mit deren Hilfe man das eigentliche Erkenntnisobjekt, die konkreten Naturgegenstände in ihren Zusammenhängen, erkennt. Die Größen sind die Objekte der Physik, erkenntnistheoretisch gesehen sind sie jedoch Erkenntnismittel.“ (Wahsner 1995 S. 39)

„Damit ein sinnlich wahrnehmbarer Prozeß ein physikalisches Experiment sein kann, muß man die aufeinander einwirkenden Gegenstände und die Umstände, unter denen sie das tun, in spezieller Weise präparieren (Herstellung eines Vakuums, idealer Kugeln, idealer Ebenen usw.), damit man die, aber auch nur die Wirkung provoziert, die gerade interessiert.“ (Wahsner 1992 S. 10) „Als Plausibilitätsbeispiel sei die Notwendigkeit genannt, zwei Körper, deren Masse man mittels einer Balkenwaage miteinander vergleichen will, realiter derart voneinander zu trennen, daß sie nicht miteinander wechselwirken. Gelingt diese Trennung nicht (z. B. weil sie magnetisch sind), so ist die genannte Messung nicht möglich.“ (Wahsner 1995 Fußnote S. 43)

„Nebenbei sei bemerkt: Wie man von den physikalischen Größen, die Verstandesgegenstände sind, wieder zu den wirklichen, den konkreten Gegenständen in ihren gegenseitigen Zusammenhängen kommt, ist ein Problem, aber ein philosophisches; es ist das Problem des Überganges von der Naturwissenschaft zur Philosophie bzw. von dem Alltagsbewußtsein und der Alltagserfahrung zur Naturwissenschaft.“ (Wahsner 1989 Fußnote S. 132)


2. Die Eigentümlichkeiten der Quantenphysik
Um nun die besonderen Eigentümlichkeiten der Quantenphysik angemessen einordnen zu können, müssen wir den 'Bereich der Physik' genauer betrachten. Hinsichtlich der erkenntnistheoretischen Qualitäten sind fünf verschiedene Räume zu unterscheiden: 


a) der quantenphysikalische Ereignisraum – der Raum der (physikalischen) Erkenntnisobjekte, wo die vorab ausgewählten und präparierten (Quanten)-objekte der Messung / dem Experiment unterzogen werden. Dieser Raum ist wirklicher, konkreter, real-objektiver Ereignisraum, der in vollem Umfang den Gesetzen der Quantenphysik unterliegt. 

b) der Meßraum. Hier sind die am Experiment / an der Messung beteiligten Erkenntnismittel in Form der (theoretischen und gegenständlichen) Meßmittel angesiedelt. Diese – und die von den Instrumenten angezeigten Werte – gehören nicht dem quantenphysikalischen Ereignisraum an, gehören vielmehr in den Bereich der klassischen Physik.

c) der mathematische Interpretationsraum, wo die Mathematik herangezogen wird um die Meßergebnisse korrekt und verlustfrei zu erfassen, zu beschreiben und als in mathematische Gleichungen gefasste Naturgesetze für den Forschungsfortschritt zu verwerten (allerdings erst nachdem nachgewiesen ist, dass es sich bei den Meßwerten nicht um Fehlfunktionen der Meßgeräte handelt – was im Einzelfall ausgesprochen schwierig sein kann). 

d) der Raum der physikalischen Theoriebildung, wo auf der mathematischen Basis (physikalische) Modelle und Theorien formuliert werden, um die (physikalische) Bedeutung der Meßergebnisse in eine Form zu bringen, die es den Physikern erlaubt, sie angemessen sprachlich zu handhaben, zu interpretieren, zu deuten und auf dieser Basis neue Experimente zu planen. Dieser Bereich ragt dann teilweise bereits hinüber in den . . . 

e) . . . Mitteilungsraum, wo die quantenphysikalischen Forschungsergebnisse und Theorien – „um auch den Philosophen verständlich zu bleiben“ (Marx) – der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und welcher eindeutig nicht mehr allein dem Zuständigkeitsbereich der Physik, sehr wohl aber zunehmend dem der Physiker angehört.


Es ist offensichtlich, dass es zwischen den hier unterschiedenen Räumen innerhalb des Bereichs der Physik mehrere Schnitte gibt, 'wo das Gesamtspektrum der vorhandenen Informationen und möglichen Erkenntnisse mehr oder weniger stark gefiltert, verfremdet, eingefärbt, verzerrt, vergröbert wird, jedenfalls nicht unbeeinflußt passieren kann'. Da ist zum einen der Schnitt zwischen dem „vieldimensionalen Konfigurations- oder Darstellungsraum“ dem mathematischen Interpretationsraum einerseits und dem Raum der physikalischen Theoriebildung – sozusagen der sprachlichen Interpretation – andererseits. Letzterer verfügt zwar über eine hochentwickelte Fachsprache, bleibt jedoch aus naheliegenden Gründen weiterhin in erheblichem Maße auch auf die Alltagssprache angewiesen, welche für die meisten der zur Diskussion stehenden quantenphysikalischen / mathematischen Phänomene keine wirklich adäquaten Entsprechungen kennt. 

Von besonderer Bedeutung jedoch ist der Schnitt zwischen dem quantenphysikalischen Ereignisraum und dem den Gesetzen und Grenzen der klassischen Physik unterliegenden Meßraum, also der Schnitt zwischen (physikalischem) Erkenntnisobjekt und (physikalischem) Erkenntnismittel. Schon Heisenberg hat darauf aufmerksam gemacht, daß man in der Quantenmechanik einen Schnitt zieht zwischen den Meßgeräten, die als Untersuchungsmittel benutzt werden, und den physikalischen Systemen, die untersucht werden sollen. Die Einsicht in den kategorialen Unterschied zwischen diesen beiden Räumen ist das eigentlich Neue, das die Quantenphysik mit sich gebracht hat. Denn exakt an dieser Stelle stoßen wir auf den Ursprung des zentralen Problems der Quantenphysik, dass nämlich einerseits die physikalische Realität der Quantenwelt grundverschieden ist von der Welt der klassischen Physik, dass zugleich aber die physikalische Messung nur solche Eigenschaften anzeigen kann, die der klassischen Physik angehören. Anders ausgedrückt: Die (theoretischen und gegenständlichen) Meßmittel entstammen nicht der Quantenwelt, sind der Komplexität der Objekte und Wechselwirkungen in der Quantenwelt, die sie messen sollen, nicht wirklich angemessen, nicht wirklich gewachsen. Sie sollen also etwas leisten, was eigentlich unmöglich ist, eine Tatsache, die sich u.a. auch darin zeigt, dass gewisse Messungen in der Tat gar nicht möglich sind (zum Beispiel die gleichzeitige Messung des Orts und des Impulses des gleichen Teilchens). Ähnliches gilt – wie gesagt – für die Sprache der Quanten-Theorie, in der die Messungen sprachlich zusammengefasst, verarbeitet, diskutiert und gedeutet werden müssen und die notgedrungen eher den Charakter eines verschmierten Wortgemäldes als den einer eindeutigen wissenschaftlichen Begriffsswelt aufweist. 

Hier – und nicht in der Winzigkeit der Objekte an sich und einer angeblichen evolutionsbedingten makroskopischen Struktur des Menschen, die dem untersuchten mikroskopischen Objekt nicht angemessen sei – liegt der eigentliche Ursprung der Mehrzahl der mit der Quantenmechanik verbundenen Irritationen. Noch im ' mathematischen Interpretationsraum' sind viele dieser Irritationen – insbesondere auch die Indeterminiertheit – gar nicht vorhanden. Die Determiniertheit der Schrödinger-Gleichung wird zur Probabilistik [Wahrscheinlichkeitsauffassung] erst dann, wenn sie außerhalb des mathematischen Interpretationsraumes formuliert werden muss. Anders gesagt: „In der Quantenmechanik sind die Naturgesetze Strukturen abstrakterer 'Dinge' und ihrer 'Zustände', . . . deren Verknüpfung mit der Wahrnehmung über den Begriff der Wahrscheinlichkeit führt.“ (v. Weizsäcker S. 239) „Einsteins bekannte Unzufriedenheit mit der Quantenmechanik resultierte daher auch nicht daraus, daß er diese physikalische Theorie für zu indeterministisch hielt.“ (Wahsner 1989 S. 86) „Wir sind also weit, sehr weit entfernt von der Ungewißheit, mit der man die Quantenmechanik immer noch in Zusammenhang bringt.“ (Weisskopf S. 47) (Und was die Größe der Quantenobjekte angeht: „Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, warum Quantenphänomene nicht in absehbarer Zeit für Objekte gezeigt werden können, die [so groß sind dass] man [sie] sogar in einem Mikroskop sehen kann. Dann wird es noch offenkundiger, dass die Frage, ob sich ein Objekt klassisch oder quantenphysikalisch verhält, nicht eine Frage der Größe des Systems ist, sondern ausschließlich der Art des Experiments, das wir durchführen.“ (Zeilinger 2006))

Insofern bedeutet die eigentlich Aufsehen erregende Entdeckung der Quantenmechanik, „der Skandal, der die Physiker, und zwar die tiefsinnigen, sich entsetzen ließ“ (Wahsner 1989 S. 102) die Einsicht, daß zwischen Erkenntnisobjekt (im 'quantenphysikalischen Ereignisraum') und Erkenntnismittel (im 'Meßraum') kategorial unterschieden werden muß. In der klassischen Mechanik lag (und liegt) der besondere Fall vor, dass man beide straflos gleichsetzen kann, da die Grundgleichungen der klassischen Mechanik in demselben Raum wie die Meßtheorie formuliert werden können – eine Sichtweise, die erst für die Quantenmechanik sichtlich unhaltbar wird. Solange nicht deutlich wurde, daß die beiden genannten Räume nicht identisch sind, konnte man eben annehmen, es gäbe zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt ohne ein vermittelndes Drittes eine klare Trennung. „Mit der Quantenmechanik wird . . . endgültig deutlich, daß die Physik eines Erkenntnismittels bedarf, welches in seiner Funktion mitgedacht werden muß, um den Inhalt der jeweils diskutierten physikalischen Theorie zu begreifen.“ (Wahsner 1992 S. 73) 

Wenn aber gilt, dass in der Physik nicht mehr uneingeschränkt von einer klaren Trennung zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt gesprochen werden kann, wenn die Meßtätigkeit des Physikers „mitgedacht werden muß, um den Inhalt der jeweils diskutierten physikalischen Theorie zu begreifen“, weil durch den Vorgang der Messung die Art der Meßergebnisse maßgeblich beeinflußt wird, dann haben wir erkenntnistheoretisch eine ziemlich neue Lage. „Die heutige Physik zwingt den Physiker zur Besinnung auf sich selbst als Subjekt.“ (v. Weizsäcker S. 174) Etwas lax ausgedrückt sind die Physiker im Verlauf ihrer quantenphysikalischen Untersuchungen in gewisser Weise „sich selbst begegnet“ (Heisenberg) und das an einer Stelle, wo dies nach dem Selbstverständnis der Physik als einer objektiven Wissenschaft auf gar keinen Fall hätte sein dürfen. Das Entsetzen war groß und klingt noch heute nach, denn: „Die eigentliche Grundlage des Verständnisses der Quantenmechanik (bzw. des Unterschieds von klassischer und Quantenmechanik) besteht darin, diese Einsicht als wesentlich für das Verständnis jeder physikalischen Disziplin, auch das der klassischen Mechanik, anzusehen, und sie nicht als eine nur die Eigenart der Quantenmechanik betreffende herauszustellen.“ (Wahsner 1992 S. 73)


Exkurs: Komplementarität und Dialektik
Mit dem Komplementaritätsprinzip (s.o.) hat Niels Bohr, hat die Physik ein methodologisches Prinzip der Erkenntnis gefunden, mit dem Schnitt zwischen dem quantenphysikalischen Ereignisraum und dem den Gesetzen und Grenzen der klassischen Physik unterliegenden Meßraum umzugehen. Die Sichtweise, dass es sich beim Komplementaritätsprinzip zumindest um eine Keimform / Parallelform der philosophischen Dialektik handelt, drängt sich auf, auch wenn bekanntlich Physik nicht selbst schon Philosophie ist und von daher naturwissenschaftliches Denken und (philosophische) Dialektik nicht gleichgesetzt werden dürfen (Wahsner; sieh dazu aber auch: Röseberg 1984, S. 235ff). An dieser Stelle deutet sich m.E. Diskussionsbedarf und vor allem Dynamik und Entwicklungspotential für zukünftiges Vorgehen an, betrachtet man zum Beispiel die Aussagen von Lucien Sève: 

„Die zeitgenössische Naturwissenschaft ist philosophisch hyperaktiv. Sie produziert unaufhörlich kategorial Neues, für das in diesem Jahrhundert ein bedeutendes Beispiel die Komplementarität ist, eine spezifische Form der Dialektik, die jeglicher Erkenntnis innewohnt. Aus naturwissenschaftlichen Antworten hervorgegangen, stellen diese Kategorien ihrerseits gute philosophische Fragen, zum Beispiel: Welcher Art ist, als Widerspruch gesehen, die genaue logische Struktur der Komplementarität? Da diese Kategorien die konfliktgeladene Einheit, ja sogar die gegenseitige Umwandlung zwischen Naturwissenschaft und Philosophie konkretisieren, stellen sie den denkbar klarsten Aufruf zu deren Zusammenarbeit dar.“ (Sève S. 51)

und: „In der Wissenschaftlergemeinschaft verbreitet sich das Bewußtsein, daß man sich nicht zum Philosophen improvisieren kann [ebenso wenig wie „mit dem fleißigen Studium populärwissenschaftlicher Literatur“ zum Physiker (d.V.)] und daß, wenn ein wenig an philosophischen Studien oft von der Naturwissenschaft abbringt, viel davon wieder zu ihr hinführt. Hier und da nimmt eine ‘theoretische Naturwissenschaft‘ Gestalt an, in dem vollen Sinne, den Engels diesem Ausdruck gab – eine Naturwissenschaft, die nicht nur ihre Theorie denkt, sondern darauf abzielt, sich die Theorie des Denkens selbst anzueignen. Was sich vielleicht in dieser Weise ankündigt, ist nichts Geringeres als ein Ereignis in der Geschichte der intellektuellen Arbeitsteilung. Kommt man nicht durch vielfachen Gedankenaustausch bei Kolloquien, ja durch die Praxis einer wirklichen Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaftlern und Philosophen hier und da zu erweiterten theoretischen Kompetenzen, die den verknöcherten Dualismus der zwei ‘Kulturen‘ ins Wanken bringen und zum Abbau der Trennwände der Bildung, die man zunächst hatte, der institutionellen Strukturen, der mentalen Schemata, innerhalb einer neuen Stadt des Wissens auffordern, in der endlich Gramscis Idee Gestalt annimmt: Jeder Mensch ist Philosoph? (Gramsci 1975, Vol. II, S. 1342)“ (Sève S. 44)  


3. Physik und Wahrheit
Es drängt sich abschließend natürlich die Frage auf, ob angesichts der Vielzahl von Schnitten im Verlauf des Weges der Erkenntnis am Ende überhaupt noch eine adäquate Widerspiegelung der wirklichen Naturgegenstände in ihren wirklichen gegenseitigen Zusammenhängen vorliegt, ob die Aussagen der Physik wahr sind. In einer ersten Annäherung wird man sagen, dass die Probe auf den Wahrheitsgehalt physikalischer Erkenntnisse durch ihre Überprüfung im Experiment und durch ihre erfolgreiche technische Nutzung möglich ist. 4

Die Frage nach der Wahrheit von Erkenntnis der 'Welt an sich' in einem erweiterten Sinne kann jedoch die Physik nicht allein beantworten, auch nicht durch die erfolgreiche Anwendung ihrer Ergebnisse. Sie kann ihren epistemologischen [erkenntnistheoretischen] Status nicht selbst begreifen (sehr wohl jedoch der eine oder andere Physiker), kann die Rolle des Menschen mit seinen individuellen und sozial organisierten Interessen in dem Gesamtprozeß der Erkenntnis nicht angemessen ins Kalkül ziehen. . . „Alles naturwissenschaftliche Wissen ist unter Verwendung bestimmter (geistiger und gegenständlicher) [Erkenntnis-] Mittel erzeugt. Und so man das begreift, wird man auch einsehen müssen, daß es [den Naturwissenschaften] überhaupt nicht möglich ist zu erkennen, wie die Natur an sich, völlig unabhängig vom Erkenntnissubjekt beschaffen ist, wie das Gesetz der Welt lautet.“ (Wahsner 2006 S. 155) Nicht zufällig sind daher die physikalischen Begriffe Raum, Zeit, Materie bzw. Masse eben nicht identisch mit dem philosophischen Raum-, Zeit- und dem philosophischen Materiebegriff. Daher kann es keine rein naturwissenschaftliche Darstellung des Weltganzen, der Totalität geben – wie übrigens auch die Philosophie ohne die Tätigkeit der anderen Wissenschaften inhaltslos würde. Erkenntnis der 'Welt an sich' ist erst in gemeinsamer Anstrengung der Naturwissenschaften, der Philosophie und der einzelnen Geistes- und Sozialwissenschaften möglich, wird allerdings mit jeder Antwort, die gefunden wird, unvermeidlich auf immer neue Fragen und Probleme stoßen 



* * * 




Anmerkungen


1) Marx hat zwar – abgesehen von seiner Dissertation über ein Thema aus dem Bereich der 'Naturphilosophie' aus dem Jahre 1841 – keinen umfassenden systematischen Beitrag zum Thema Naturwissenschaften vorgelegt, hat sich jedoch in allen Perioden seines Schaffens mit Naturwissenschaften befaßt. Seine – noch weithin unbekannten – Exzerpte zu naturwissenschaftlichen Themen (Agrochemie, Geologie, Mathematik, Physik, Bodenkunde, Pflanzenphysiologie, Metallurgie, Mineralogie, Petrographie, anorganische und organische Chemie ... ) werden in der historisch-kritischen Ausgabe seiner Werke MEGA an die zehn Bände ausmachen. Inzwischen wird vermehrt „die Frage aufgeworfen, warum sich Marx in den 1870er Jahren in diesem Maße den Naturwissenschaften zuwandte – und nicht das »Kapital« vollendete.“ (Rolf Hecker) nach: 
- - Hans Jörg Sandkühler: Wissenschaftliches Weltbild und Rationalität empirischer Philosophie. Der Theorietypus Marx und die epistemologische Bedeutung der Naturwissenschaften, in: Dialektik 1991/2 S. 51
- - siehe dazu auch: http://www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/mega/ und:
- - Rolf Hecker, Marx mit der MEGA neu lesen - Zum 190. Geburtstag des Klassikers, in: junge Welt 5.5.08 S. 10

2) siehe: Video „Doppelspalt-Experiment“
http://de.youtube.com/ Suchwort: Doppelspalt
deutsche Fassung: http://de.youtube.com/watch?v=FwBb9rSOVdo 
abgespeichert auch unter: http://www.dkp-ge.de/quanten/ 



3) siehe: Video „Dr. Quantum in Flatland“ 
http://de.youtube.com/ Suchwörter: Quantum Flatland
http://de.youtube.com/watch?v=BWyTxCsIXE4& (englisch)
deutsche Fassung: 
http://video.youteach.de/mediadetails.php?key=f205c951e6e6aefc5a57&title=Dr.+Quantum+in+Flatland
abgespeichert auch unter: http://www.dkp-ge.de/quanten/  

4) Jedoch darf bekanntlich auch die - gerade von Marxisten immer wieder gerne herangezogene - Aussage, das Kriterium für die Wahrheit sei letztendlich 'Die Praxis' keineswegs so unreflektiert zur Anwendung gelangen, wie das manchmal geschieht. So war zum Beispiel die Genauigkeit der Bahnvorhersagen von Himmelskörpern - also etwa auch der Vorhersagen von Sonnen- und Mondfinsternissen - die auf der Basis des Weltmodells des Ptolemäus erfolgten (das bekanntlich noch die Erde als Mittelpunkt des Weltalls ansah), noch lange Zeit deutlich größer als die Genauigkeit der Bahnvorhersagen auf der Basis des heliozentrischen Weltbildes des Nikolaus Kopernikus. 'Die Praxis' hat also durchaus noch lange Zeit für Ptolemäus und gegen Kopernikus gesprochen.





Zitierte Literatur

- Jürgen Audretsch, Verschränkte Systeme, Weinheim 2005
- Gramsci 1975, Vol. II, S. 1342: »Posto il principio che tutti gli uomini sono ‘filosofi‘, che cioè tra i filosofi professionali o ‘tecnici‘ e gli altri uomini non c`è differenza ‘qualitativa‘ ma solo ‘quantitativa‘ [...]“.
- Robert Havemann, Dialektik ohne Dogma?, Berlin 1990
- Herbert Hörz, Heinz Liebscher, Rolf Löther, Ernst Schmutzer, Siegfried Wollgast (Hrsg.), Philosophie und Naturwissenschaften, Wörterbuch, Bonn 2001
- W.I. Lenin, Philosophische Hefte, in: Werke, Bd. 38, Berlin 1968
- Ulrich Röseberg, Szenarium einer Revolution, Berlin 1984
- Lucien Sève, Dialektik der Natur und Natur der Dialektik – Neue Gesichtspunkte, in: Dialektik 1992/1 S. 35 – 56
- Renate Wahsner (2006), Der Widerstreit von Mechanismus und Organismus, Stuttgart 2006
- Renate Wahsner (2002/1), Naturwissenschaft, Bielefeld 2002
- Renate Wahsner (2002/2), Ermöglicht die Einheit der Vernunft eine Vielfalt der Realitätstypen? in: Topos 20, 2002, S. 25 – 48
- Renate Wahsner, Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie, Frankfurt a/M . . . 1996
- Renate Wahsner (1995), Was bleibt von Engels´ Konzept einer Dialektik der Natur? in: Marxistische Blätter 4-95, S. 37– 43
- Renate Wahsner (1992), Horst-Heino von Borzeszkowski, Die Wirklichkeit der Physik, Frankfurt a/M . . . 1992
- Renate Wahsner (1991), Horst-Heino von Borzeszkowski, Die Wirklichkeit der Physik, in: Dialektik 1991/1, S. 179 – 190
- Horst-Heino von Borzeszkowski, Renate Wahsner (1989), Physikalischer Dualismus und dialektischer Widerspruch. Darmstadt 1989
- Victor Weisskopf, Die Jahrhundertentdeckung: Quantentheorie, Frankfurt a.M. 1992
- Carl Friedrich von Weizsäcker, Zum Weltbild der Physik, Stuttgart 1976
- Anton Zeilinger, Die Grenze zwischen Quantenwelt und klassischer Welt, in: Physik in unserer Zeit 1/2006, S. 3









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Quelle:
Marxistische Blätter 6/08 + 1/09