Von Chancen und Stolpersteinen

Auswertung einer all-gender-Organisierung in (queer-)feministischen Kontexten

Im Kontext der NoChristival-Proteste (vgl. ak 528) hat in Bremen erstmalig eine antisexistische Walpurgisnachtdemo in einem Rahmen stattgefunden, der für alle Geschlechter offen war. In diesem Beitrag werden einige Ereignisse der NoChristival-Aktionswoche reflektiert und nachbereitet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Reflexion einer Organisierung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, queer-feministische Formen und Inhalte einem all-gender-Publikum zugänglich zu machen. Zunächst wird ein kurzer Rückblick auf die Geschehnisse gegeben. Anhand von einigen konkreten Beispielen aus NoChristival-Aktionen diskutieren wir die Chancen und Fallstricke von transidentitären Bündnissen und all-gender-Organisierung im Kontext von (queer-)feministischen Aktionen.

Vorweg eine kurze Erläuterung zum Begriff "queer-feministisch": Das Wort "feministisch" steht dafür, dass es nach wie vor Geschlechterhierarchien gibt, die die konkreten Lebensrealitäten der einzelnen - gesellschaftlich als Männer, Frauen oder Transen geschlechtlich einsortierten - Menschen prägen und dass es diese Hierarchien zu überwinden gilt. In dieser Geschlechterhierarchie stehen weibliche und geschlechtlich uneindeutige Menschen am unteren Ende des Gefälles. Dies wird besonders deutlich an Arbeitsteilung und Belohnung, sexualisierter Gewalt und Körperpolitiken.

Die Hierarchisierungen sind immer verwoben mit anderen hierarchisierenden Differenzkategorien wie Migrationshintergrund, Klasse, sexuelle Orientierung etc. Der Zusatz "queer-" bedeutet in diesem Kontext, dass wir uns immer, wenn wir uns auf "Männer" und "Frauen" oder "Transen" beziehen, darüber bewusst sind, dass es sich um Konstruktionen handelt, die einerseits die Folge von gewaltförmigen Normierungsprozessen sind und andererseits täglich situativ aufs Neue hergestellt werden und daher auch veränderbar sind. Für uns heißt queer-feministisch deshalb auch, dass wir keine identitäre Politik verfolgen wollen, das heißt ganz konkret Ausschlusskriterien für die Zusammenarbeit innerhalb feministischer (Bündnis-)Politik nicht notwendig an Geschlechtern festmachen. Dies meinen wir, wenn wir von transidentitären Bündnissen sprechen.

Queer-feministische Organisierung ist also nicht mit all-gender-Organisierung gleichzusetzen. In bestimmten Kontexten macht eine separate Organisierung weiblich oder männlich sozialisierter Menschen nach wie vor Sinn, da die Lebensrealitäten immer noch sehr stark durch die Zweigschlechtlichkeit geprägt sind.

Um es kurz in Erinnerung zu rufen: das Christival war ein evangelikales Jugendfestival, welches Anfang Mai diesen Jahres mit etwa 15.000 Teilnehmenden in Bremen stattgefunden hat. Bereits Monate vor Beginn des christlichen Großevents machte das Festival Schlagzeilen. In die öffentliche Kritik geriet es besonders wegen zwei Seminaren, dem Seminar einer Ex-Gay-Organisation ("Homosexualität verstehen - Chancen zu Veränderung") und dem Seminar eines Vereins radikaler Abtreibungsgegner_innen (1) ("Sex ist Gottes Idee - Abtreibung auch?").

Die Organisator_innen des Festivals bezeichnen sich selbst als Evangelikale, d.h. als Angehörige eines Zusammenschlusses, der fundamental konservative Werte vertritt und sich für eine wortgetreue Bibelinterpretation ausspricht. Diese Gruppierung steht für das Verbot von Abtreibung und Sex vor der Ehe und gegen Scheidung und verurteilt nicht nur homosexuelle Beziehungen und Selbstbefriedigung, sondern betrachtet sie als "zu heilendes Übel".

Das Christival-Festival war nur der Anlass

Einige Monate vor Beginn des Festivals gründeten sich verschiedene Bündnisse, um für einen Protest und Widerstand gegen die bevorstehende Missionierungsoffensive zu mobilisieren. Während des Festivals fand eine Aktionswoche mit vielen verschiedenen Informations- und Gegenveranstaltungen statt. Insbesondere die anti-sexistische Walpurgis-Demo, parallel zu der Eröffnung des Christivals, fand einen großen Zulauf. Rund 1.000 Menschen nahmen am 30.4.08 an der Demo teil.

Da die Christival-Betreiber_innen und einige der beteiligten Organisationen durch ihre diskriminierenden Inhalte sogar in der bürgerlichen Öffentlichkeit Empörung auslösten und sie mit ihren Workshops so handfeste Beispiele für sexistische und homophobe Ideologien lieferten, war es nicht schwer, für das Thema breit zu mobilisieren. Viele verschiedene Gruppen und Szenen waren auf der Demo vertreten: linke Queerszene, Rat&Tat-Queerszene, Frauen/Lesben/Trans-Szene, Frauen vom Frauenveranstaltungszentrum in Bremen, ProFamilia-Kolleg_innen, AntiFa, linke und linksradikale Szene (wer auch immer das sein mag), Grüne, Journalist_innen und vermutlich auch einige engagierte linksliberale Bürger_innen.

Hervorhebenswert bleibt jedoch, dass trotz aller breitenfeministischer und bürgerrechtlicher Anschlussfähigkeit nicht etwa ein bürgerlicher oder Differenz-Feminismus das Demobild dominierte, sondern dass in den Außendarstellungen ein offener und radikaler Queer-Feminismus deutlich in Erscheinung trat. Mit der Größe der Demo und der medialen Aufmerksamkeit, die diese genoss, wurde Feminismus seit langem zum ersten Mal wieder mit linken politischen und queeren Inhalten laut, bunt und radikal in der Öffentlichkeit wahrnehmbar.

Zugleich präsentierte er sich mit einem Gesicht fern jenes unpolitischen/postmodernen und unreflektiert aus einer weißen Mittelschichtsperspektive sprechenden Feminismus, der in den Medien derweil als der "Neue Feminismus" gilt (Thea Dorn, Charlotte Roche etc.) und auch fern eines bürgerlichen Feminismus à la Alice Schwarzer.

Bei der Christival-Demo handelte es sich vermutlich um das größte queer-feministische Demo-Ereignis der letzten Jahre in Bremen, wenn nicht in Deutschland. Auch in der Protestwoche blieben queer-feministische Inhalte weiterhin präsent und auch hier beteiligten sich viele Menschen an Aktionen und Informationsveranstaltungen. Alle Veranstaltungen, auch die mit einem feministischen Schwerpunkt, wurden in einem all-gender-Rahmen abgehalten.

Anhand von Erfahrungen auf der Walpurgis-Demonstration wollen wir hier aber auch die diversen Problematiken und Stolpersteine innerhalb von all-gender- und spektrenübergreifender feministischer Organisierung und Mobilisierung aufzeigen. Die Demo war geplant und organisiert als eine "Take-Back-The-Night"-Demo, deren Schwerpunkt auf der Kritik an den verschiedenen Formen von Sexismus lag, u.a. dem des Christivals. Die spezifische Mischung aus Walpurgisnacht-, Discomeilen- und Christivalprotest spiegelte sich in Redebeiträgen, Transparenten und Sprechchören wider. (Queer-)feministische Konsense der Organisator_innen äußerten sich auch in den Demostrukturen: Vorneweg ging der FrauenLesbenTrans-Block (FLT-Block), dahinter der Queerblock, gefolgt vom gemischten Block; es gab nur weiblich sozialisierte Personen unter den "Ordner_innen" und im "Demoschutz".

Trotz des Aufruftexts und der Plakate schien nicht allen Menschen, insbesondere einigen der männlich sozialisierten jüngeren, vor der Demo klar gewesen zu sein, dass sie an einer (queer-)feministischen Demo teilnehmen und dass deren Sexismuskritik und -analyse die Kritik am Christival überschreitet. Das mag z.T. daran gelegen haben, dass Einzelne über die Ankündigungen in den Tageszeitungen mobilisiert wurden, in denen nur Ort und Zeitpunkt der Demo veröffentlicht wurden und dort nur von "antisexistische Demo gegen das Christival" geschrieben worden war.

Beispiel 1: FrauenLesbenTrans-Block. Zum Teil wurde aus aufgeschnappten Kommentaren deutlich, dass die feministische Ausrichtung der Demo von einigen nur als unliebsamer Nebeneffekt verstanden wurde. Wenn als solche auftretende "Männer" nicht gerne im FLT-Block gesehen und/oder angesprochen wurden, dann löste dies zum Teil Verärgerung, Unverständnis oder aber im positiven Fall auch Irritationen und Fragen aus. Die Empörung einiger junger AntiFa-Männer, der FLT-Block "schließe Männer aus", "schaffe Grenzen und sei deshalb das Gegenteil des Gewollten", zeugte von der Unkenntnis des feministischen Konsenses, dass separate Räume als Schutz- und Freiräume nach wie vor sinnvoll und notwendig sind.

Es schien, als wurden gesellschaftlich vorherrschende, antifeministisch wirkende Gleichheitsrhetoriken übernommen, die beteuern, "die Gleichheit der Geschlechter sei längst schon erreicht", oder als würde der Glaube bestehen, auf einer linken Demo bräuchte es keine Schutzräume für FrauenLesbenTrans, denn linke Männer seien nicht sexistisch.

Breite Mobilisierung für Walpurgis-Demo

Die Fragen, die wir hierzu in Zukunft diskutieren wollen, sind: Wie sollen Bemerkungen und Fragen über Übereinkünfte bewertet werden, die den meisten von uns gerade auf feministischen Demos wahrscheinlich uralt und selbstverständlich erscheinen, die wir eigentlich längst nicht mehr diskutieren und in Frage stellen lassen wollen? Sollten sie als ein spezifisches Problem der breiteren und vor allem gemischten queer-feministischen Organisierung gesehen werden? Oder als ein Zeichen eines besonders desolaten Kenntnisstands feministischer Konsense innerhalb der linken Bewegungen? Könnte die Reibung oder Fragen in einem Setting, in dem es auf eine bestimmte Art und Weise eine (queer-)feministische Definitionsmacht gab, auch als Chance betrachtet werden, um Inhalte wieder zu diskutieren und unter die Menschen zu bringen?

Und schließlich: Braucht der queere Anspruch in transidentitären Bündnissen feministische Politik zu machen, mehr Vermittlungs-, Aufklärungs- und Basisarbeit als gewohnt? Genauere Erklärungen der Blöcke durch die Demo-Moderation oder durch Extraflyer, so besprachen wir es in der Nachbereitung, wären sicher sinnvoll gewesen, um einigem Unverständnis vorzubeugen.

Bedeutungen hängen davon ab, wer spricht

Beispiel 2: Wer spricht? Eine weitere Problematik auf der Demo war die der Raumnahme, die des Sprechens und der Präsenz der Körper. Es wurde spürbar deutlich, dass nicht nur der Inhalt von Parolen entscheidend ist, sondern auch, wer sie ruft. "Männer", die aus vollem Hals, in tiefer Stimme, aus voller Brust, gemeinsam Sprechchöre anklingen lassen, erwecken ungute Bilder und Zuschreibungen von hegemonialer, dominanter Männlichkeit, auch wenn sie diese vielleicht für sich selbst ablehnen.

Auch oder vielleicht sogar gerade wenn die Parole lautet: "Gebt den Mackern die Straße zurück - Stein für Stein", "Alerta, alerta antisexista", erscheint die Situation paradox. Die Sprüche gewinnen eine andere Bedeutung, je nachdem, aus welcher Subjektposition gesprochen wird. Den zweigeschlechtlich geprägten und konnotierten Körpern kommt dabei bei allen transidentitären und geschlechterdekonstruierenden Wünschen und Ansprüchen in der Realität immer noch eine hierarchisierende Bedeutung zu.

Geradezu absurd oder aber sich ins Gegenteil wendend wird ein Spruch, wenn er aus einem Männermund gerufen wird und sich direkt auf den weiblichen Körper bezieht, wie etwa bei der Parole "Mein Bauch gehört mir". Dieser Sprechchor kam bei der Blockade des Seminars "Sex ist Gottes Idee - Abtreibung auch?" zum Einsatz. Einige der "männlichen" Teilnehmenden standen der Parole hilflos gegenüber. Fielen sie ein, merkten sie sogleich, dass die Aussage verfliegt bzw. sich umkehrt. Nach einigem genuschelt-unterstützenden Rufen entstand "Euer Bauch gehört Euch" - was aber auch nicht mehr Überzeugungskraft entwickelte, sondern im Gegenteil eine paternalistische Klangfarbe hatte.

Vermisst haben wir auf der Demo Parolen und Beiträge aus männlich-dekonstruktivistischer Perspektive, wie etwa "Schwul ist cool", "Bundeswehr und Männlichkeit, dafür ha`m wir keine Zeit".

Beispiel 3: Kontroverse um Inhalte der Transpi-Parolen. Einige Sprüche, die auf der Demo z.T. auf Transparenten zu lesen waren und z.T. gerufen wurden, führten zu inhaltlichen Kontroversen auf der Demo und in Gesprächen danach. Kritisiert wurden Sprüche aufgrund ihrer Bezugnahme auf Sexualität, jedoch mit unterschiedlichen Argumenten, die wir im Folgenden darstellen wollen.

Die Parole "Fuck Religion" - sexistisch oder kraftlos?

Unter Bewusstsein dessen, dass es sich bei Transparentsprüchen um provokante und durch die Sache bedingt ohnehin nur um plakative, verkürzte und deshalb vielseitig interpretierbare Aussagen handeln kann, wollen wir dennoch die Kritiklinien der Debatten nachzeichnen. Denn anhand dieser lassen sich innerfeministische Differenzen verdeutlichen, die bereits in der Vergangenheit von feministischen Bewegungen zu Auseinandersetzungen und zum Teil auch Spaltungen geführt haben. Die folgenden Ausführungen haben dabei nicht zum Ziel, die jeweiligen Sprüche oder aber ihre Kritik zu bewerten; wir haben uns gerade über die Differenzen, das heißt (queer-)feministische Vielfalt auf der Demo gefreut!

Demo-Spruch "Masturbieren statt Missionieren". Der queeren Bewegung wird immer wieder vorgeworfen, sie übersehe und überspiele mit ihrer positiven Bezugnahme auf Sexualität die macht- und gewaltförmigen Seiten von Sexualität innerhalb der herrschenden (Geschlechter-)verhältnisse. Durch die als falsch bezeichnete Fokussierung von queerer Politik auf lustvolle und selbstbestimmte Aneignung von Sexualität gerate die "wichtigere" und "notwendigere" Bekämpfung von z.B. sexualisierter Gewalt aus dem Blick und verliere an Schärfe. Aneignung von Sexualität sei ein Thema, das eher individualisierend wirke und sich nicht notwendig mit politischer Organisierung und politischen Forderungen verbinde, manchmal diese sogar unterbinde.

Aus einer queeren Position wird hingegen argumentiert, dass ein reines Dagegen als politische Strategie nicht ausreichend ist. Da es nicht die völlig anderen Gegenentwürfe geben kann, da auch das Dagegen von Herrschaftsverhältnissen bestimmt und durchzogen ist, kann eine positive Umdeutung und Aneignung bestimmter abgewerteter Begriffe und Praktiken eine sinnvolle politische Strategie sein. So wurde und wird Masturbation, um beim Beispiel zu bleiben, in vielen streng christlichen/religiösen Kontexten noch immer als Sünde verurteilt.

Demo-Spruch "Fuck Religion". Die Kontroverse ist hier etwas anders gelagert. Die beiden Pole lauten: "Fuck Religion" sei "eine respektlose Religionskritik mit antifeministischem Nebeneffekt" oder aber "nur eine umgangssprachliche und provokante Weise, die Ablehnung von Religion kundzutun, bzw. ein Wortspiel, das die Sexualitätsfeindlichkeit der fundamentalen Christen kritisch-ironisch aufgreift".

Wenn die Übersetzung des Wortes "Fuck" als "Ficken" erfolgt und dieses in einem abwertenden Kontext verwandt wird, dann gehen damit folgende Implikationen einher: Die gesellschaftlich gängige Übersetzung von "Ficken" ist wohl immer noch "Heterosex" bzw. "Penetrationssex". Die Person, die jemand oder etwas "ficken" kann, muss dann als Person gedacht werden, die einen Schwanz hat. Es schwingt mit, dass das, was "gefickt wird", das Abgewertete, das Unterworfene ist. "Fuck ... (xyz)" ist also ein Aufruf zur Abwertung mit einem Frauen- und schwulenverachtenden Beiklang. Wenn gleichzeitig ein "männlicher" Demonstrant diesen Spruch mit sich trägt, so potenziert sich damit die herrschaftsförmige Bedeutung. Das heißt auch hier: Kann die Frage "Wer spricht?" zum Seismographen für die Tragbarkeit eines Spruches werden?

(Queer-)theoretisch kann das Wort "Ficken" geschlechtslos gedacht werden, da für die sexuelle Praxis der Penetration keine vergeschlechtlichten körperlichen Voraussetzungen (wie zum Beispiel "Bio-Schwänze", also natürliche Penisse) notwendig sind. Eine queere politische Praxis ist es, die übliche Bedeutung des Wortes umzukrempeln, zum einen, was seine geschlechterstereotypen Zuschreibungen anbelangt (nur Männer können ficken), zum anderen aber auch, was die Annahme anbelangt, "Ficken" im Sinne von Sex könne nur durch Penetration stattfinden.

Wenn Sex jedoch als einvernehmliche Handlung gleichwertiger Individuen gedacht wird und der Rattenschwanz an dualistischen Bedeutungsverkopplungen (auf der einen Seite aktiv=positiv=männlich und auf der anderen Seite passiv= negativ= weiblich) abgeschnitten wird, so verliert das Wort "Fuck" jede Kraft als Schimpfwort.

Beispiel 4: "Frauen" demonstrieren anders? Dieses Beispiel kann im Hinblick auf das Christival in zweierlei Hinsicht thematisiert werden. Zum einen wurde die Frage auf den Demoauftritt bezogen. Der FLT-Block an der Spitze der Demo sei durch nichts von einem ersten Block auf einer "normalen" linken (autonomen) Demo zu unterscheiden gewesen - so lautete eine Kritik innerhalb der Auswertungstreffen. Teilnehmende versteckten sich hinter hochgezogenen Transparenten und Kapuzenpullis, z.T. Sonnenbrillen, so dass das vordere Gesicht der Demo sehr verschlossen und abweisend wirkte. Durch dieses Auftreten sei ein eher "männlicher" Demo-Style reproduziert worden.

Zum anderen kann man diese Frage auf den Zaunstürm-Vorfall beziehen. Kurz nach dem Aufbruch der Demo vom Schlachthof in Richtung Bahnhof löste sich eine Gruppe von ca. 40 Menschen aus dem Demozug und lief in Richtung Christival-Gelände. Leuchtspurmunition wurde in den Himmel in Richtung des Geländes geschossen, einige überwanden den Zaun und stürmten auf das Festivalgelände. Es kam zu einer Festnahme und einer Verzögerung des Demoablaufes.

Die Einschätzungen über diesen Zwischenfall gingen auseinander, zum einen, was den Sinn der Aktion anbelangt, und zum anderen, welche Rolle die Tatsache der all-gender-Teilnehmer_innenschaft der Demo darin spielte. Einige äußerten in der Nachbereitung die Einschätzung, dass die Demo ohne "Männer" an bestimmten Orten anders abgelaufen wäre. Dem wurde entgegnet, dass an allen genannten Beispielen ebenso "Frauen" beteiligt waren und dass eine Stereotypisierung in "männlichen" und "weiblichen" Demonstrationsstil zu einfach und gleichzeitig die Zweigeschlechtlichkeit reproduzierend sei.

Dem stimmen wir zu, und dennoch denken wir, dass durch Habitus, bestimmte Rituale und Strukturen hegemoniale Männlichkeit in der autonomen AntiFa und anderen Bereichen linken Szene reproduziert werden. Für uns knüpfen sich folgende Debatten an diese beiden Beispiele an: Welches Auftreten halten wir zu welchen Anlässen für sinnvoll? Wie kann eine Dominanz durch "männliche" Inszenierungen von anti-sexistisch inspirierten Menschen reflektiert und durchbrochen werden?

Paternalistische Rufe?: "Euer Bauch gehört euch"

Ob sich in dem Power der Christival-Proteste das Nachwachsen einer jüngeren (queer-)feministischen Bewegung abgezeichnet hat oder ob es sich um ein Protestereignis außer der Reihe handelt, wird sich noch zeigen. Entgegen dem oft beschworenen Niedergang von feministischer Bewegung in den 1990er Jahren könnten die Proteste ein Zeichen dafür sein, dass ein linker, politisch-radikaler Feminismus heute lebendig und politisch handlungsfähig ist. Die Erfahrungen der Christival-Proteste legen nahe, dass feministische Inhalte, wenn sie sich auf greifbare Ereignisse beziehen, auf Interesse innerhalb verschiedener sozialer Bewegungen und in der Öffentlichkeit stoßen.

Die Themen Homophobie und Abtreibung, aber auch Religionskritik, zeichneten sich als neue (alte) Themen ab, die es eventuell aus feministischer Perspektive erneut aufzugreifen gilt. Das Christival hat einen Anlass geboten, um queer-feministische Inhalte und alte feministische Grundkonsense während der Aktionswoche öffentlich zu thematisieren. Gleichzeitig wurde auch deutlich, dass Protest gegen ein Feindbild (wie es durch die diskriminierenden Inhalte der Evangelikalen geliefert wurde) immer auch die Gefahr der Externalisierung der problematischen Themen in sich birgt. Anders ausgedrückt: Sobald es ein Außen gibt, bleibt unklar, ob dadurch auf Reflexion über Sexismus in den eigenen Strukturen und dem eigenen Handeln verzichtet wird.

Demonstrieren "Frauen" anders als "Männer"?

Rückblickend wurde in der Auswertung deutlich, wie neu das Phänomen der all-gender-Mobilisierung und Organisierung in einer (queer-)feministischen Kampagne für uns war. Insbesondere am Geschehen der Demo zeigte sich, dass es für Teilnehmende und Organisator_innen einiges zu durchdenken gibt, was bei FLT-Demos nicht zwingend notwendig ist.

Die Schwierigkeiten, die sich in der Praxis gezeigt haben, können als ein Einwand gegen feministische all-gender-Organisierung angeführt werden, aber sie können auch als Herausforderung und Chance für einen gemeinsamen Lernprozess verstanden werden.

Einige aus dem NoChristival-Bündnis

Kontakt: nochristival@yahoo.com

Anmerkung:

1) Wir benutzen hier die durch die FrauenLesbenTransgender-Bewegung eingeführte Schreibweise des Unterstrich-i (Bsp.: Student_innen). Damit sollen auch diejenigen Menschen in der Sprache berücksichtigt werden, die sich nicht in die binäre Logik von "Mann" und "Frau" einordnen können oder wollen. Durch das Schriftbild werden im Unterschied zum Binnen-I Räume jenseits der Zweigeschlechtlichkeit sichtbar. Ziel ist es, den Leser_innen die Möglichkeit zu geben, über spontane normalisierte und als selbstverständlich erlebte Bilder und Assoziationen hinaus zu denken. (Siehe auch Hermann Kitty in arranca 28, www.gender-killer.de) Aus dem selben Grund werden Begriffe wie "Männer" und "Frauen" in Anführungsstriche gesetzt.

ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 535/16.1.2009