Jenseits von "Freiheit und Sicherheit"

Emanzipatorische Bürgerrechtspolitik

Die Bürgerrechtsbewegung sollte sich nicht auf eine liberale Kritik der Sicherheitsgesetze und verfassungsrechtliche Argumente beschränken. Umgekehrt ist aber bloßer Rechtsnihilismus auch keine Lösung: Juridische Verfahren und Argumente können wichtige Instrumente emanzipatorischer Politik sein.

Wenn die staatliche Sicherheitsarchitektur mal wieder mit einem neuen Baustein versehen werden soll, sind die Diskussionen in den gängigen Medien vorhersehbar. Während auf der einen Seite für die Sicherheit der BürgerInnen gestritten wird, bewegt sich andererseits auch die traditionelle liberale Kritik auf den immer gleichen Bahnen.

Als im April 2008 über die Möglichkeit des Bundeskriminalamtes diskutiert wurde, Terrorverdächtige in Wohnungen mithilfe von Videokameras zu überwachen, forderte etwa der ehemalige Bundesinnenminister und derzeitige Ikone aller liberalen BürgerrechtlerInnen, Gerhart Baum (FDP), die Abgeordneten des Bundestags auf, sich zu fragen, „ob die Einbuße an Freiheit in einem angemessenen Verhältnis zum Gewinn an Sicherheit“[1] stehe. Baum bringt damit das Credo liberaler Bürgerrechtspolitik auf den Punkt: Die Balance von Freiheit und Sicherheit solle gewahrt bleiben. Darin kommt eine grundsätzliche Akzeptanz staatlicher Sicherheitsmaßnahmen zum Ausdruck, solange die bürgerlichen Freiheiten nicht zu stark beschnitten werden. Das Abwägungsbild suggeriert zugleich, dass es sich bei Freiheit und Sicherheit um zwei gleichartige Kategorien handelt, und allein der Staat den Ausgleich zwischen beiden Polen gewährleisten könne. Das Herrschaftsverhältnis zwischen dem Staat und seinen BürgerInnen wird nicht hinterfragt, sondern bestätigt.

Daneben wird von liberaler Seite aus regelmäßig moniert, dass der beständige Ausbau der staatlichen Sicherheitsarchitektur auf übertriebenen Gefahrszenarien beruhe und auch gar nicht dazu geeignet sei, etwa terroristische Anschläge wirklich zu verhindern. Diese Kritik einer ausufernden „Terrorhysterie“ kann zwar aufdecken, welche Feindbilder von Seiten der Innenpolitik instrumentalisiert werden, um die Kontrolle der Gesellschaft zu rechtfertigen. Die Argumentation greift jedoch nicht, wenn einmal erwiesenermaßen eine große Gefahr für „das Gemeinwohl“ besteht und der Staat tatsächlich mittels umfassender Freiheitseinschränkungen in der Lage ist, diese Gefahren zu bekämpfen.

Ebenso zu kurz gegriffen ist die verbreitete Befürchtung, die weitreichenden Ansammlungen persönlicher Daten durch staatliche Behörden könnten zu Missbrauch führen. Sie übersieht, dass bereits der legale Zugriff auf Daten des/der Einzelnen ein Problem ist und inhaltlich kritisiert werden muss.

Überwachung und soziale Kontrolle

Eine linke Kritik moderner Sicherheitspolitik darf sich nicht auf das Verhältnis von Staat und BürgerIn konzentrieren, sondern muss auch die Verhältnisse zwischen BürgerInnen in den Blick nehmen. Das bloße Bestreben, Privatheit und Freiheit vor dem Staat zu schützen, übersieht nämlich, dass Räume, die von staatlichen Eingriffen frei sind, bekanntlich ebenfalls Orte der Unterdrückung sein können: Zur Privatsache wurde etwa nur allzu lange männliche Gewalt gegenüber Frauen (und Kindern) erklärt.[2] Freiheitsrechte allein gegenüber dem Staat verteidigen zu wollen, ist auch nicht zuletzt angesichts der immer noch wachsenden Macht wirtschaftlicher Akteure kurzsichtig.

Ebenfalls sollte man sich nicht auf eine singuläre und isolierte Betrachtung einzelner staatlicher Maßnahmen beschränken, denn Sicherheitspolitik findet nicht im gesellschaftlichen Vakuum statt. Die Sicherheitsarchitektur einer Gesellschaft muss vor dem Hintergrund ihrer ökonomischen, politischen und kulturellen Bedingungen diskutiert werden.[3] Präventiv angelegte und verdachtsunabhängige Kontrollmaßnahmen wie Schleier- und Rasterfahndung oder die Videoüberwachung öffentlicher Plätze finden so keineswegs erst, wie von liberaler Seite häufig behauptet, im Zuge der bereits erwähnten „Terrorhysterie“ seit dem 11. September 2001 statt. Die Ausweitungen und Neuorientierungen staatlichen Handelns zum Zwecke gesellschaftlicher Kontrolle sind vielmehr bereits seit Längerem zu beobachten.[4] Diese Entwicklung ist unter anderem auf eine seit den 1970er Jahren zunehmende ökonomische Verunsicherung zurückzuführen, welche die Sicherheitsbedürfnisse innerhalb der Gesellschaft verstärkt. Der neoliberale Abbau sozialstaatlicher Sicherheit scheint gewissermaßen als Kompensation mehr Sicherheit vor Kriminalität zu verlangen – und sei letztere auch noch so symbolisch.

Eine emanzipatorische Analyse und Kritik der Sicherheitsgesetze muss auch diese Rahmenbedingungen hinterfragen. Politisch-praktisch bedeutet das, Bürgerrechtspolitik als Teil von sozialen Bewegungen zu verstehen, anstatt sich im kleinen Kreis von JuristInnen nur mit Grundrechtsverletzungen zu beschäftigen.[5]

Der Doppelcharakter des Rechts

Wenn staatliche Sicherheitsgesetze allein mit (verfassungs-)rechtlichen Argumenten kritisiert werden, besteht zugleich die Gefahr, Interessenskonflikte zu entpolitisieren. Insbesondere an die demokratietheoretisch bedenkliche Funktion des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) als oberstem Streitschlichter müssen daher liberale BürgerrechtlerInnen hin und wieder erinnert werden.[6] Gerade die orthodox-marxistische Linke hat allerdings traditionell noch ganz andere Probleme mit dem Recht: Zu lange wurde das herrschende Recht schlicht als das Recht der Herrschenden, als ein unmittelbar aus der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ableitbares Überbauphänomen angesehen. Die Gesetzesförmigkeit staatlicher Herrschaft konnte da nur als in Wahrheit repressive Verschleierung von Macht gedeutet werden. Gegenüber diesen Vereinfachungen, die jede Eigengesetzlichkeit der Rechtsform leugnen, gilt es den ambivalenten Charakter des Rechts zu reflektieren.

Dass die Rechtsform nämlich „zum einen ein strukturelles Hindernis gesellschaftlicher Emanzipation darstellt, zum anderen jedoch zumindest einen Aufschub, wenn nicht gar einen Schutz vor unmittelbarer Gewalt darstellt, macht ihre Komplexität aus, die nicht zu einer Seite hin theoretisch aufgelöst werden kann“[7]. Die formale Anerkennung der Menschen als freie und gleiche Rechtssubjekte sowie insbesondere die Verzögerung der Macht des/der Stärkeren sind nicht zu unterschätzende Effekte der Rechtsform. Ob Rechtsregeln eher die sozial Schwachen vor Eingriffen schützen oder ihrer Beherrschung dienen, entscheidet sich „im Spannungsfeld politischer und sozialer Kräfte; denn erst im Konflikt erhalten Regeln ihre spezifische Bedeutung“[8]. Bei ihrer scheinbar rein technischen dogmatischen Arbeit reproduzieren JuristInnen hegemoniale Ideologie: „Was unter bestimmten historischen Bedingungen als Recht gesprochen wird, ist durch das Rechtssystem selbst nicht vorgegeben, sondern Ergebnis einer ins Recht eingeschriebenen ‚Weltanschauung’, erarbeitet von juridischen Intellektuellen.“[9] Kritische JuristInnen haben gerade wegen des Doppelcharakters der Rechtsform die Aufgabe und Chance, die politische Funktion der scheinbar neutralen Rechtsanwendung zu benennen und gegen-hegemoniale Projekte voranzutreiben.

Kampf um die Verfassung

Max Reimann, Vorsitzender der KPD-Gruppe im Parlamentarischen Rat, brachte schon bei Verabschiedung des Grundgesetzes zum Ausdruck, dass gerade die Verfassung ein Feld sein würde, auf dem um Hegemonie gerungen wird: „Wir unterschreiben nicht. Es wird jedoch der Tag kommen, da wir Kommunisten dieses Grundgesetz gegen die verteidigen werden, die es angenommen haben!“ Im Laufe der Geschichte der Bundesrepublik machten Linke – wenn auch nicht die 1956 illegalisierten ParteikommunistInnen – diese Prophezeiung wahr. Nicht nur im berufsjuristischen Alltag, zum Beispiel in der Strafverteidigung, sondern auch in den großen gesellschaftlichen Debatten kämpften sie gegen die Schleifung demokratischer oder rechtsstaatlicher Standards. Es gelang dabei durchaus, das Grundgesetz im Bündnis mit sozialen Akteuren wie den Gewerkschaften gegen Rückschritte zu verteidigen, ohne es dadurch zur besten aller möglichen Ordnungen zu (v)erklären. Ganz überwiegend wurden diese Auseinandersetzungen allerdings letztlich verloren – zu erinnern sei an die Wehrverfassung in den 1950er Jahren, die Notstandsgesetze in den 1960ern oder den „großen Lauschangriff“ und die faktische Abschaffung des Asylrechts in den 1990er Jahren. Aktuell gilt es, die von Bundesinnenminister Schäuble (CDU) geplante Verfassungsänderung zur Militarisierung der Innenpolitik zu verhindern.[10]

Mindestens genauso effektive „Verschiebungen im Verfassungskompromiss“[11] zu Lasten einmal erreichter demokratischer, sozialer oder rechtsstaatlicher Standards erfolgten seit 1949 im Wege der (Um-)Deutung gleichbleibender Grundgesetzartikel. Neben der „Wirtschaftsverfassung“ waren vor allem Reichweite und Gehalt der Grundrechte Gegenstand heftiger verfassungspolitischer Auseinandersetzungen. Die Meinungsäußerungsfreiheiten als politische Teilhaberechte mussten dabei gegenüber der politischen Strafjustiz der 1950er und 60er Jahre ebenso verteidigt werden wie zu Zeiten der Berufsverbote und der Terrorismusbekämpfung der 1970er und 80er Jahre. Heute sind die Versuche, (auch) mit Mitteln der Verfassungsinterpretation am Folter-Verbot sowie allgemein an der Unantastbarkeit der Menschenwürde zu rütteln, besonders bedrohlich. Es bleibt eine Kernaufgabe jeder Bürgerrechtspolitik, verfassungsrechtliche Gegen-Reformen dieser Art öffentlich anzuprangern und ihnen – wissenschaftlich und zugleich politisch – entgegenzutreten.

Rechtlosigkeit und Rechtskollisionen

Die Schutzfunktion als ein Charakteristikum der zwiespältigen Rechtsform wird daneben dann besonders spürbar, wenn das Recht für bestimmte Personen und Räume faktisch ausgeschlossen ist. Das gilt vor allem für die Vielzahl von Menschen ohne Aufenthaltsstatus, welche gemeinhin als „Illegale“ bezeichnet werden. Diese Menschen – nach ungefähren Schätzungen allein in Deutschland 1,5 Millionen – leben nicht in einer autarken Parallelwelt, sondern sind Teil dieser Gesellschaft, welche etwa auf ihre Arbeitskraft zurückgreift, ihnen allerdings die gleichberechtigte Teilhabe als Rechtssubjekte vorenthält. Dies kann verdeutlichen, dass die Zuschreibung als Rechtssubjekt oder Staatsangehörige/r keineswegs nur und unbedingt ein unterdrückendes Moment enthält.

Das Bestreben, rechtsfreie Räume zu schaffen, ist auch bei der europäischen Flüchtlingspolitik zu beobachten. So wurde die Forderung nach extraterritorialen Lagern vor den Grenzen Europas vom damaligen Innenminister Schily (SPD) damit untermauert, dass „die Asylbewerber nicht zu Gericht gehen können wie Asylbewerber in Deutschland“[12]. Im Zusammenhang mit europäischen Operationen zum „Schutz der Grenzen“ auf Hoher See wird argumentiert, dass die einschlägigen Menschen- und Flüchtlingsrechte auf extraterritorialem Gebiet keine Anwendung fänden.[13]

Diese Situationen verdeutlichen, dass das Recht immer auch ein Ausschlussinstrument sein kann, wenn es nämlich nicht mehr universell und für jeden Menschen gilt. Dieser immanente Widerspruch kann aber zugleich dazu genutzt werden, um der Exklusion eines großen Teils der Weltgesellschaft entgegenzutreten, indem man sich positiv auf das Recht bezieht.

Prozesse politisieren!

Der Rückgriff auf das Recht kann in vielerlei Hinsicht Bestandteil linker Politik sein. Dabei ist zunächst an die schützende Funktion von Recht im Rahmen politischer Aktivitäten zu denken. Hier sei etwa an den Einsatz des „Legal Teams“ während des G 8-Gipfels 2007 oder die Arbeit der Roten Hilfe erinnert. Diese Tätigkeit in „politischen Prozessen“ darf indes nicht den Eindruck erwecken, andere Prozesse seien unpolitisch. Gerichtsverfahren können insgesamt als Bühne genutzt werden, um am Einzelfall erkennbare allgemeine politische Forderungen zu formulieren. Gerade auf der kommunalen und regionalen Ebene bieten Gerichtsverfahren die Gelegenheit, etwa beim Vorgehen gegen Videoüberwachung auf öffentlichen Plätzen auch die Hintergründe derartiger Maßnahmen eines „hyperpräventiven Sonderpolizeirechts“[14] zu thematisieren. Nicht selten ist Überwachung ebenso wie die Vertreibung unerwünschter „Randgruppen“ durch Alkohol- oder Bettelverbote[15] Teil einer Strategie, den öffentlichen Raum „aufzuwerten“, also zu einem möglichst „sauberen“ Ort ungestörten Konsums zu machen.

In solchen und ähnlichen Fällen können politische Anliegen sozialer Akteure übersetzt werden, um im Recht Gehör zu finden. Die Justiz darf hierbei allerdings umgekehrt nicht zur neutralen Vermittlerin gegenüber der politischen Macht verklärt werden. Ebenso wenig können gut geführte Prozesse und selbst noch so progressive Urteile die alltägliche Arbeit gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse ersetzen – aber sie können Elemente der politischen Auseinandersetzung sein.

Matthias Lehnert und John Philipp Thurn promovieren in Münster und Freiburg.


[1] Tagesspiegel v. 19.04.2008.

[2] Vgl. Schmidt, Anja, Grundannahmen des Rechts in feministischer Kritik, in: Foljanty, Lena/Lembke, Ulrike (Hrsg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2006, 66, 72 ff.; Lembke, Ulrike, Gewalt und Freiheit, ebd., 155 ff.

[3] Singelnstein, Tobias/Stolle, Peer, Die Sicherheitsgesellschaft – Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, 2. Aufl. 2008, 25 ff.

[4] Garland, David, Culture of Control, 2001; Lindenberg, Michael/Schmidt-Semisch, Henning, Sanktionsverzicht statt Herrschaftsverlust, in: Kriminologisches Journal 1995, 2 ff.

[5] Stolle, Peer/Singelnstein, Tobias, Forum Recht (FoR) 2008, 126 ff. (in diesem Heft).

[6] Siehe Steinke, Ron, FoR 2008, 120 ff. (in diesem Heft).

[7] Buckel, Sonja, Subjektivierung und Kohäsion, 2007, 314.

[8] Seifert, Jürgen, Verfassungsregeln im politischen Konflikt (1968/69), in: ders. (Hrsg.), Kampf um Verfassungspositionen, 1974, 83 ff., 86.

[9] Buckel, Sonja/Fischer-Lescano, Andreas, Hegemonie im globalen Recht – Zur Aktualität der Gramscianischen Rechtstheorie, in: dies. (Hrsg.), "Hegemonie gepanzert mit Zwang". Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis von Antonio Gramsci, 2007, 85 ff., 94. Dany, Ben, FoR 2008, 83 ff.

[10] Vgl. Thurn, John Philipp, FoR 2008, 26 ff.

[11] Vgl. Fisahn, Andreas/Viotto, Regina, Verschiebungen im Verfassungskompromiss von den Landesverfassungen zum europäischen Reformvertrag, PROKLA 149 (2007), 623 ff.

[12] „Ich finde nichts Anstößiges daran, Menschen zurückzuführen“ - Interview mit Otto Schily, in: Süddeutsche Zeitung, 02.08.2004. Siehe auch Lehnert, Matthias, FoR 2007, 120 ff.

[13] So u.a. das Bundesministerium des Inneren, Effektiver Schutz für Flüchtlinge – Wirkungsvolle Bekämpfung illegaler Migration, Pressmitteilung v. September 2005.

[14] Frankenberg, Günter, Kritische Justiz 2005, 370 ff., 377.

[15] Steinke, Ron, FoR 2006, 128 ff.