Ein Leben in Angst

Über die Lebensbedingungen von Menschen ohne Aufenthaltspapiere in Deutschland

in (19.03.2009)

Das Erste, was Anna denkt, wenn sie morgens aufwacht, ist: „Bloß nicht reden, bloß keinen Lärm machen. Vielleicht könnten mich die NachbarInnen hören." Das Erste was Anna fühlt, wenn sie morgens aufwacht, ist Angst. Angst aufzufallen, Angst entdeckt zu werden. Die 76-jährige Kurdin lebt seit über sechs Jahren heimlich in Deutschland. Sie flüchtete aus der Türkei vor Übergriffen der Polizei, vor Armut und Perspektivlosigkeit. Wenn die Behörden sie entdecken, wird sie in die Türkei abgeschoben. „Das wäre mein Tod, da bin ich mir sicher", sagt Anna. Mit ihrer Heimat verbindet sie nichts mehr. Ihr Dorf wurde inzwischen niedergebrannt. Ihre Kinder leben in Deutschland. Bei ihnen versteckt sie sich. Aus Angst davor, entdeckt zu werden, flüchtet sie von Woche zu Woche zum nächsten Sohn, zur nächsten Tochter.

So wie Anna ergeht es in Deutschland hunderttausenden Menschen. Schätzungsweise 500.000 bis 1,5 Millionen Menschen ohne Aufenthaltspapiere leben in Deutschland. Menschen aus der ganzen Welt mit ganz unterschiedlichen Hintergründen: Arbeitssuchende, Flüchtlinge, ältere Menschen oder Kinder, die ihren Familien gefolgt sind, Studierende und Au Pairs, die länger geblieben sind, als ihr Visum gültig ist. Sie erleben in Deutschland einen krassen Anpassungsdruck, müssen immer versuchen, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Sie halten sich genau an die Gesetze, gehen nie über eine rote Ampel und fahren nie ohne Fahrschein in der Straßenbahn. Jeder kleine Fehler könnte ihre versteckte Existenz gefährden.
Da sie keine Aufenthaltserlaubnis haben, haben sie auch keine Chance auf Mittel der öffentlichen Fürsorge, wie Sozialhilfe oder eine Krankenversicherung. Sie leben von dem, was sie erwirtschaften und machen dabei oft die Jobs, die andere nicht übernehmen wollen oder für die andere zu teuer wären. Sie erhalten meist unterbezahlte Löhne. Oft kommt es auch vor, dass vereinbarte Löhne gar nicht gezahlt werden. Denn auch die ArbeitgeberInnen wissen, dass Menschen ohne Papiere nicht einfach zur Polizei oder zu einer Anwältin gehen können. Sie können sich nicht gegen nicht gezahlte Löhne, gegen Schikanierungen oder gegen sexuelle Übergriffe wehren. Wenn sie sich für ihre Rechte einsetzen, droht ihnen die Abschiebung.

So bleiben ihnen auch grundlegende Menschenrechte, wie der Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung verwehrt. Besonders hart trifft das Kinder. Sie können meist keine Schule besuchen, weil die Schulen dazu verpflichtet sind, ihre Daten aufzunehmen und an die Behörden zu senden. So bleiben viele Kinder, die keine Aufenthaltsgenehmigung haben, ohne Bildung und somit ohne jegliche Perspektive. Sie müssen sich verstecken, während andere Kinder in die Schule gehen. Genauso ist es mit der medizinischen Versorgung. Krankheiten werden verschleppt, weil Menschen ohne Krankenversicherung und Papiere keine ärztliche Hilfe erhalten können. Krankenhäuser sind verpflichtet, PatientInnen ohne Papiere zu melden. Die wenigen SchulleiterInnen, und ÄrztInnen, die sich dem widersetzen und „Papierlosen" helfen, machen sich nach bundesdeutschem Gesetz strafbar. So wiegt in Deutschland das Recht auf Abschiebung praktisch höher, als elementarste Grundrechte.

Während die Regierung  fröhlich den sechzigsten Geburtstag der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" feiert, wird die Situation von Menschen ohne Papiere in der Politik weitgehend verschwiegen. Und so beginnt für hunderttausende Menschen, wie Anna, weiter jeder Tag in Deutschland mit Angst. Dass sie diese Lebensbedingungen der Abschiebung vorziehen, lässt erahnen, was ihnen in den Ländern droht, in die sie abgeschoben werden sollen.

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