Die Lähmung der Linken

Ausgerechnet in der Krise ist es still geworden um „Die Linke“. Dabei war noch vor Jahresfrist ihr Aufstieg in aller Munde. Die anhaltende gesellschaftliche Kritik insbesondere an den Hartz-Reformen trieb ihr Tausende neue Mitglieder zu, und die Erfolge bei den Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen sowie der Bürgerschaftswahl in Hamburg markierten den Durchbruch der neuen Partei im Westen der Republik und die Etablierung eines Fünfparteiensystems.

Und heute? Während im Zuge der Finanzkrise Banken ins Trudeln geraten und sich eine Wirtschaftskrise, möglicherweise gar eine große Depression abzuzeichnen beginnt, kehrt die Bundesregierung mit einer abrupten Kursänderung zur keynesianischen Wirtschaftspolitik zurück, die man noch vor kurzem für hoffnungslos veraltet erklärt hatte. Auf einmal pumpt man Dutzende Milliarden in Konjunkturprogramme, erwägt Staatshilfen für Schlüsselindustrien und beschließt am Kabinettstisch die Verstaatlichung und Enteignung von Banken.

Doch ausgerechnet die Linkspartei profitiert bislang kaum von der Krise. Offenbar nützt es wenig, dass „Die Linke“ jahrelang die Gefahren des Neoliberalismus gegeißelt hatte, die jetzt in den marktliberalen Abgrund führen. Aber wem hätte es auch je geholfen, Recht behalten zu haben? Politik folgt anderen Kriterien. Das zeigt der gegenwärtige demoskopische Aufschwung der Speerspitze des Neoliberalismus in Deutschland, der FDP, aber auch die Wiederbelebung des Keynesianismus in der SPD.

Und in der Tat: Mit welcher Geschwindigkeit die SPD jetzt, in der Krise, ohne jede Selbstkritik den Schwenk von ihrer neoliberalen Ausrichtung unter Gerhard Schröder hin zu klassischen sozialdemokratischen Inhalten zu vollziehen vorgibt, kann einem glatt die Sprache verschlagen. Hatte sie unter Rot-Grün Hedgefonds zugelassen, die Spitzen- und Unternehmenssteuersätze drastisch gesenkt sowie „Lohnnebenkosten“ (sprich: Sozialversicherungsbeiträge) zunehmend einseitig auf die Arbeitnehmer abgewälzt, fordern Schröders frühere Adlaten nunmehr plötzlich die Kontrolle von Hedgefonds, eine Begrenzung der Managergehälter, die Schließung von Steueroasen und sogar die Einführung einer Börsenumsatzsteuer, die der Tobin Tax (immerhin der Namensgeber von Attac) ähnelt.

Mit diesem Kurswechsel nähert sich gerade der kleinere Koalitionspartner in der Bundesregierung Positionen, die zuvor exklusiv von der „Linken“ vertreten wurden. Dies trifft die Linkspartei – und hier liegt das Problem – völlig unvorbereitet. Schließlich verdankt sie ihren Aufstieg, ja ihr Dasein wesentlich dem Schröderschen Rechtsschwenk der SPD. Offensichtlich weiß die Führung im Karl-Liebknecht-Haus auf diese Entwicklung bisher keine politische Antwort. Während weite Teile der (in ihren Quellparteien bzw. -milieus durchaus autoritär geprägten) Mitgliedschaft auf ein erlösendes Wort „von oben“ warten, hört man von dort, hört man gerade auch von Oskar Lafontaine, der, zum Leidwesen so manches ostdeutschen Genossen, in der Partei längst unangefochten den Ton angibt, wenig. Die Partei scheint programmatisch gelähmt – und dies ausgerechnet im Angesicht der größten Krise des Kapitalismus in der Geschichte der Bundesrepublik.

Dieses Dilemma wurde auf dem Essener Parteitag am 28. Februar und 1. März in aller Deutlichkeit sichtbar. Statt dass die Delegierten die Gelegenheit für eine offene Diskussion über die Folgen der Wirtschaftskrise und die eigene Strategie im Umgang mit ihr genutzt hätten, beherrschte ein kleinlicher Hickhack um die Listenaufstellung für die Europawahl die Tagesordnung.1

Dabei zeigte sich, dass alle drei Hauptströmungen der Partei2 in der Krise gleichermaßen wenig zu bieten haben. Den sogenannten Reformern hilft ihre im Berliner Senat mühsam erworbene Kompetenz als Sach- und Fast-Konkurs-Verwalter in der neuen Situation nicht weiter; harte Haushaltssanierung ist eine derzeit kaum gefragte Kompetenz. Der Gesinnungsfundamentalismus um die „Antikapitalistische Linke“ mag sich vorübergehend bestätigt fühlen; die in der Krise unabdingbare konkrete Problemlösungskompetenz dieser Strömung tendiert jedoch gegen Null. Und mit Blick auf die gewerkschaftliche Strömung – nicht zufällig Lafontaines Hausmacht – stellt sich die Frage, was sie jenseits von linkskeynesianischem Konsumismus und spät-fordistischer 70er-Jahre-Romantik programmatisch zu bieten hat.

Ende des Neoliberalismus?

Die inhaltliche Ratlosigkeit in Zeiten der Krise wird von der Partei bislang jedoch trotzig verleugnet. In Verkennung der realen Situation wähnen sich viele Aktivisten gar in der politischen Offensive – in der Annahme, der Neoliberalismus sei politisch tot.

Dieses Urteil scheint jedoch verfrüht. Denn auch wenn der Neoliberalismus jetzt nicht länger ideologisch „führend“ sein mag, so „herrscht“ er doch einstweilen weiter. Dies gilt umso mehr, weil er nicht nur eine wirtschaftspolitische Ideologie ist, sondern auch eine Einstellung bzw. habitualisierte Praxis. Denn der drei Jahrzehnte währende Siegeszug des Neoliberalismus ist nicht ohne Spuren an den ihm unterworfenen Subjekten vorbeigegangen. Er hat sich vielmehr tief in die Köpfe und Herzen, in das Leben und den Alltag der Menschen eingegraben. Dieser gewissermaßen „erlernte“ Neoliberalismus bleibt so lange dominant, wie er nicht durch eine andere Ideologie und Praxis „ersetzt“ wird. Doch dafür fehlen der „Linken“ – wie allerdings auch der Linken insgesamt – gegenwärtig massenwirksame gegenhegemoniale Konzepte.

Hieraus folgt, dass sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, die den Neoliberalismus hervorbrachten, in Wirklichkeit keineswegs über Nacht verändert haben, sondern einstweilen ausgesprochen stabil sind.

Zum einen besitzen die Unternehmensverbände und ihre Lobbyorganisationen – die in den vergangenen Jahrzehnten stark genug waren, den neoliberalen Kurs gesellschaftlich durchzusetzen – weiterhin entscheidenden Einfluss auf die Politik. Und ihre Zielsetzung ist ungebrochen: nämlich möglichst schnell möglichst weitgehend zum marktliberalen Status quo ante zurückzukehren. Zwar reift auch hier die Erkenntnis, dass die ökonomischen Verwerfungen schlicht zu groß sind für eine einfache Rückkehr zu Ackermannschen Traumrenditen. Entsprechend wächst auch die Bereitschaft zur Ausweitung der Rolle des Staates als „ideeller Gesamtkapitalist“. Eine dauerhafte Abkehr vom Neoliberalismus bedeutet dies allerdings noch lange nicht – zumal ja eine anschließende Rückkehr zur „Selbstregulierung des Marktes“ erklärtes Ziel der staatsinterventionistischen Politik bleibt.

Zum anderen ist die Bundesrepublik, trotz der wachsenden Armut vieler Menschen, nicht zuletzt Kinder (von denen jedes siebte inzwischen von Hartz-IV-Leistungen ernährt wird), immer noch eine Gesellschaft mit enormen Besitzständen. Die allermeisten Menschen haben hierzulande, zumal im weltwirtschaftlichen Kontext, nach wie vor weit mehr zu verlieren als ihre Ketten. Deshalb sehnen sich gerade die Mittelschichten in der Krise nach Sicherheit – und in ihren Augen ist diese eng verknüpft mit der Wirtschaftsordnung, die ihnen materiell bislang so gut gedient hat. Folglich sucht man dort nach „Wirtschaftskompetenz“, wo man sie traditionellerweise vermutete – und auf dieser Rangliste rangiert „Die Linke“ nach wie vor ganz unten. Bei den Marginalisierten und sozial Schwachen konnte man zuletzt als Protestpartei punkten; die vom Abstieg bedrohten Mittelschichten vermag die Partei, jedenfalls bislang, kaum zu erreichen.

Hinzu kommt, dass viele Arbeitnehmer angesichts des drohenden Verlusts ihres Arbeitsplatzes nach konkreten, kurzfristigen Lösungen rufen. Diese können der Natur der Sache nach jedoch nur von der Exekutive kommen. Deshalb bewegen sich auch die Gewerkschaften, bei denen die Linkspartei in den vergangenen Jahren wachsenden Zuspruch verzeichnete, derzeit wieder in Siebenmeilenstiefeln auf die Sozialdemokratie zu. Erschwerend wirkt sich aus, dass gewerkschaftliche Politik sich in der Krise erschreckend schnell auf eine bloße Verteidigung betrieblich-egoistischer Interessen zurückgezogen hat – keine guten Voraussetzungen für eine linke Partei.

Wohin treibt die Krise?

Die hier skizzierten Kräfteverhältnisse sind allerdings alles andere als in Stein gemeißelt. Langfristig werden im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise die Karten neu gemischt. Damit besteht zumindest die Möglichkeit, den Marktradikalismus tatsächlich zu überwinden.

Den mit dieser Aufgabe verbundenen Herausforderungen stellt sich das Führungspersonal der Linkspartei bislang jedoch nicht. Das muss schon deshalb irritieren, weil sich bereits jetzt, zu Beginn der Krise, gewichtige Probleme im politischen Alltagsgeschäft stellen. Auch die Volksvertreter der „Linken“ finden bislang keine konkreten Antworten auf Fragen wie: Kann man eine große, „systemrelevante“ Bank pleitegehen lassen? Muss man jetzt, wie es die Gewerkschaften lautstark fordern, jede Fabrik und jeden von Abbau bedrohten Arbeitsplatz verteidigen? Soll man gar Milliardärinnen, die sich schlicht am Markt verzockt haben, mit Staatsgeldern wieder auf die Beine helfen, wie es die IG Metall im Fall Schaeffler vorschlägt?

Zwar mögen sich auch die anderen politischen Akteure schwertun im Umgang mit den Folgen der Krise. Sie sind aber – zunächst – weniger davon betroffen, weil sie in Gestalt von Union und SPD an den Schalthebeln der Exekutive sitzen, sich also Zustimmung gewissermaßen „erkaufen“ können (allerdings auch, gerade angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl, zunehmend werden erkaufen müssen). Der Populismus des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering im Fall Opel („systemrelevantes Unternehmen“) bestätigt dies.

Um die „Krise als Chance“ nutzen zu können, müsste die Linkspartei ein politisches Angebot für die im Gefolge der Krise zu erwartende Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung und deshalb eine Vorstellung davon entwickeln, wie sich der wachsende Unmut politisieren lässt.

Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass für „Die Linke“ eine bloße Apologie des Bestehenden nicht genügen kann. Zwar ist der Kapitalismus derzeit noch keineswegs am Ende. Langfristig wird sich jedoch erweisen, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise „nur ein, wenn auch besonders wichtiges Moment der kapitalistischen Systemkrise“ ausmacht.3 Auf Dauer wird man daher grundlegenderen Fragen nicht ausweichen können. Zugespitzt formuliert: Hat der Kapitalismus angesichts der geballten globalen Krisen überhaupt noch eine Zukunft? Oder gebietet das wirtschaftliche und ökologische Desaster auf lange Sicht die politische Ausrichtung auf eine eher antikapitalistische, systemtransformierende Perspektive?

Eine Frage der Alternative

In dieser Situation fehlender Alternativvorschläge rächt sich einmal mehr, dass „Die Linke“ seit ihrer Gründung über kein echtes Grundsatzprogramm verfügt. Aus Sorge um die heterogene Zusammensetzung der jungen Partei wird immer noch zu wenig kontrovers debattiert – und zu viel in Formelkompromissen erstickt.4

Das Grundproblem liegt dabei in der eindimensionalen Ausrichtung der Partei. Es ist völlig unklar, was die eigene politische Identität ausmacht, wenn der Keynesianismus, und sei es nur vorübergehend, politisches Allgemeingut wird. Hinter ihrem staatsinterventionistischen Linkskeynesianismus ist „Die Linke“, so scheint es, inhaltlich nackt.

Damit ist nicht gesagt, dass der Linkskeynesianismus im Umgang mit der Krise keine Rolle spielen sollte. Mit Blick auf eine Umkehr der Umverteilungspolitik von oben nach unten oder auch auf die notwendige staatliche Lenkungspolitik ist er sogar unverzichtbar. Und dennoch: Die verhandelten Ansätze verharren zumeist auf nationalstaatlicher Ebene5 und unterschätzen aufgrund des eigenen EU-kritischen Kurses die gewachsene Bedeutung der europäischen Ebene für eine Antikrisenpolitik. Hinzu kommt die allzu oft primär konsumistische Stoßrichtung, die dazu beitragen kann, dass die Lenkungsfunktion staatsinterventionistischer Politik nicht für einen echten, gerade auch ökologischen, Kurswechsel genutzt wird.

Ein linker, gegenhegemonialer Entwurf, der dem Ernst der Lage gerecht wird, kann sich also nicht auf die klassischen (links-)keynesianischen Ansätze beschränken. Vielmehr bräuchte die Linkspartei zunächst eine offene Debatte darüber, wie die Alternative zu den neoliberalen und „postneoliberalen“ Konzeptionen aussehen könnte. Dazu bedarf es allerdings des Bruchs mit der innerparteilich weit verbreiteten Vorstellung, der Neoliberalismus sei nur das Werk einiger böser Politiker und Unternehmer gewesen – und nicht Ausdruck geänderter, globalisierter Strukturbedingungen und gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.

Fest steht, dass die entscheidende politische Kontroverse der nächsten Monate und Jahre um den Charakter des wirtschaftlichen Neuanfangs geführt werden wird.6 Konkret: Wie kann der Marktliberalismus überwunden werden? Und wie soll, wie kann die Gesellschaft nach dem Neoliberalismus aussehen? Gefragt sind konzeptionelle Vorschläge für ein neues gesellschaftliches Regulationsmodell.

Will man einen alternativen „historischen Block“ (Antonio Gramsci) begründen, der – und hier liegt das politische Gebot der Stunde – die Hegemonie des Neoliberalismus tatsächlich beendet, wird es darauf ankommen, die Risse im bestehenden Machtgefüge, die sich im Verlauf der Krise weiter vertiefen werden, taktisch zu nutzen. Dies erfordert eine vorurteilsfreie Analyse der Kursänderungen und Kräfteverschiebungen, denn auch hier werden sich – mit der zunehmenden Einsicht, dass es kein einfaches Zurück zum Neoliberalismus geben wird – noch substanzielle Änderungen ergeben.

Inhaltlich muss „Die Linke“ ein Angebot formulieren für eine Gesellschaft, die die Wirtschaft in den Dienst der Menschen stellt und nicht umgekehrt. Die Chance, die Herausbildung eines neuen Regulationsmodells zu beeinflussen, bietet sich jedenfalls nur alle paar Jahrzehnte. Man sollte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.

1 Vgl. „Neues Deutschland“, 2.3.2009.
2 Vgl. Albert Scharenberg, Dem Morgenrot entgegen? In: „Blätter“, 5/2007, S. 520-524, hier S. 524.
3 Elmar Altvater, Die kapitalistischen Plagen. Energiekrise und Klimakollaps, Hunger und Finanzkrise, in: „Blätter“, 3/2009, S. 45-59, hier S. 53.
4 Vgl. Albert Scharenberg, Die doppelte Linkspartei, in: „Blätter“, 5/2008, S. 5-8.
5 Überhaupt wird Politik im Linkskeynesianismus einseitig auf staatliches Handeln verengt; vgl. den Beitrag von Ulrich Brand in diesem Heft.
6 Vgl. Immanuel Wallerstein, The Politics of Economic Desaster, 15.2.2009, www.binghamton.edu/fbc/251en.htm.
Kommentare und Berichte - Ausgabe 04/2009 - Seite 5 bis 9