1968 West und 1989 Ost. Von den Mythen jüngster deutscher Umbrüche. Was bleibt den Nachgeborenen?

Angesichts der unübersehbaren Fülle von Gedenkveranstaltungen zum 40. Jahrestag der Studentenbewegung der 1960er Jahre, die man sich angewöhnt hat, mit der Jahreszahl 1968 gleichzusetzen, hat es den Anschein, als handele es sich dabei um das bedeutendste Ereignis in der Geschichte der Bundesrepublik. Zumindest hat kein vorausgegangenes „rundes Jubiläum“ zum Thema solch anhaltende Aufmerksamkeit gefunden. Feiern sich die Protagonisten noch einmal ausgiebig, bevor sie sich endgültig ins Altenheim zurückziehen, oder ist die Republik so langweilig geworden, dass dieses widersprüchliche, ebenso bejubelte wie bekämpfte Geschehen bloß dazu herhalten musste, einen farbigen Kultursommer zu garantieren? Aber könnte es vielleicht auch sein, dass sich darin das gewachsene Bedürfnis ausdrückt, gegen die allgemeine Vorherrschaft der Sachzwanglogik von Markt und Kapitalrenditen an dem emanzipativen Gehalt einer radikaldemokratischen Bewegung anzuknüpfen, die später – ähnlich wie die Prager KP-Reformer des Frühjahrs 1968 – einen „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“ anstrebte?

Die zahlreichen Veranstaltungen, die sich heuer jede damals involvierte Universitätsstadt leistete, sind auch von Jüngeren gut besucht worden, was gegen die bloße Selbstfeier der Beteiligten spricht. Unübersehbar ist aber die beginnende Mythologisierung der Studentenbewegung von „1968“. Ob dies ihre historische Entsorgung ankündigt oder Ausdruck der Bewahrung ihres utopischen Gehalts ist, soll in diesem Beitrag ebenso zur Sprache kommen wie die Schwierigkeit, die „friedliche Revolution von 1989“ angemessen im kollektiven Bewusstsein der Bundesrepublik zu verankern. Die Probe aufs Erinnerungsexempel wird man allerdings erst im nächsten Jahr, zum 20. Jahrestag des Mauerfalls machen können.1

 

„1968“ – Mythos und diffuse Chiffre

„1968“ wird zum Mythos stilisiert, weil damals – so heißt es – eine freie, kreative und spontane Jugendkultur propagiert und gelebt wurde, die sich alle jene Wünsche zu gestatten schien, welche die ältere Generation sich allenfalls in verbotenen Träumen vorzustellen wagte. Das Gelebte blieb freilich zuweilen weit hinter dem Propagierten zurück, was z.B. auch für die Kommune I gilt, die schon zu ihren Lebzeiten ein (zum Teil selbst erzeugter) Mythos wurde – und daran zerbrach. „68“ ist ein Mythos, weil mit allumfassendem antiautoritärem Gestus nichts weniger als „die Herrschaft von Menschen über Menschen“ abgeschafft werden sollte, weil für die Beteiligten wenigstens einige Monate lang die erregende Einheit von Denken und Handeln, von lokaler, nationaler und internationaler Perspektive, die absolute Indifferenz gegenüber Herkunft, Glauben und Geschlecht das Bewusstsein prägte, und weil es zunächst (in der antiautoritären Frühphase) so leicht war, die eigene moralische Überlegenheit gegenüber der schuldbeladenen Vätergeneration zu behaupten. „68“ wurde zum Mythos wegen seines überschießenden utopischen Gehalts, seiner behaupteten Aussöhnung von absoluter Freiheit und Gleichheit, der Transzendierung des Leistungsprinzips durch das Lustprinzip und wegen der Unmittelbarkeit eines entsublimierten Eros. Und dann liegt über dem hellen Bild noch ein Schatten, weil und insofern die anfängliche Trennungslinie gegenüber der Gewalt stufenweise überschritten wurde – von der Gewaltfreiheit zur Gewalt gegen Sachen und irgendwann dann – erst als Reaktion, dann als Aggression – die Gewalt gegen Personen, die dann nicht mehr tabuisiert war.

Während der erfahrungs- und aufklärungs-resistente Mythos, zumal wenn er positiv besetzt ist und die an ihm Interessierten noch die Deutungshoheit besitzen, nachträglich nur schwer wieder umgepolt werden kann, verhält es sich mit Chiffren, den semantischen Kürzeln für komplexe Sachverhalte, anders. Sie sind weniger deutungsresistent; Zeichen, die sich leichter mit verschiedenen Inhalten besetzen lassen, je nach spezifischer Interessenlage. Es genügt die diffuse Anknüpfung an den Hauptton, der mit dem assoziierten Ereignis mitschwingt, um den Gehalt der Chiffre in der öffentlichen Rhetorik zweckbezogen neu zu bestimmen, zuweilen bis ins Gegenteil der Ursprungssemantik. „68“ fungiert in der öffentlichen Rhetorik zumeist als Chiffre für Revolution, radikalen Wandel etc., und zwar entweder positiv konnotiert, als „schöpferische Zerstörung“ im Sinne Schumpeters, oder als pure Destruktion.

Im groben politischen Lagerkampf wird „68“ vorrangig als Destruktionsereignis in Dienst genommen, um seine Spätfolgen ihren Initiatoren (den „68ern“) zurechnen zu können. Im kulturellen Kontext hingegen steht die Chiffre für einen nicht mehr umkehrbaren Liberalisierungsschub im Alltagsleben, für das endgültige Ankommen der deutschen Gesellschaft in der Welt der Moderne.

 

„1968“, kein Jahresereignis, sondern ein dynamischer Prozess der 1960er Jahre

Erschwert wird die Zuordnung der damaligen Ereignisse zu einer einheitlichen Chiffre „68“ auch durch erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten. Die sog. „Studentenrevolte“ dauerte natürlich wesentlich länger als das eine Jahr, dessen besonders dramatische Ereignisse Pate für die Jahreswahl gestanden haben. Einigkeit besteht unter den Beteiligten noch meistens darin, dass sie schon 1965 mit den Forderungen zur Studien- und Hochschulreform, mit der Kritik am Vietnamkrieg, an den geplanten Notstandsgesetzen, an der Großen Koalition, an den Nazi-Verbrechen und ihren im Staatsapparat überlebenden Akteuren begonnen hat, um dann die radikale Kritik auf immer mehr soziale Sachverhalte auszudehnen und immer neue Versammlungs- und Protestformen auszuprobieren (teach-in, sit-in, go-in etc.). All dies, wie auch der Tod des von einem Polizisten erschossenen Benno Ohnesorg, der eine gewaltige Solidarisierungswelle auslöste, lag vor 1968. Deshalb haben die sog. „68er“ auch lange Zeit nur von der „Studentenbewegung“ gesprochen. Der Begriff bzw. die Chiffre „1968er“ wurde von Journalisten,  wohl in Anlehnung an die exzeptionellen Ereignisse des Pariser Mai von 1968, geprägt und dann als prägnantes Kürzel allgemein übernommen.

1968 wandelte sich dann die antiautoritäre Studentenbewegung in ihrem aktiven Kern zur sozialistischen Opposition oder, wie der breitere Bündnisbegriff damals lautete, zur Außerparlamentarischen Opposition (APO). Dieses breite Aktionsbündnis, in das bis 1969 immer mehr Gruppen und Aktivitäten (Schüler- und Kinderläden, Stadtteilbasisgruppen, Betriebsbasisgruppen, Lehrlingsgruppen, Frauengruppen, Rote Zellen auch außerhalb der Hochschulen etc.) integriert wurden, zerbrach Anfang 1970 daran, dass die Vorstellungen darüber, wie die für strategisch gehaltene Ausweitung und Intensivierung der stagnierenden Protestbewegung in der Produktionssphäre zu bewerkstelligen sei, immer weiter auseinander drifteten. 1970 markiert daher das Zerfallsjahr der Studentenbewegung.

 

Kommunistische Sekten als Zerfallsprodukte der Studentenbewegung

Auf der einen Seite schossen jetzt die theoretischen Zirkel aus dem Boden, in denen nun statt kritischer Theorie, statt Freud und Marcuse vor allem Marx gelesen wurde und die feste Überzeugung vorherrschte, dass erst die richtige Klassenanalyse die Frage nach der konkreten Klassenorganisation beantworten könnte, in der Studenten und Arbeiter vereint die Machtfrage im Staat stellen würden. Andere hingegen hatten es eiliger, spürten den Atem der Geschichte und wollten nicht säumen, sich an die Spitze der selbst suggerierten proletarischen Bewegung zu stellen, indem sie kommunistische bzw. marxistisch-leninistische oder maoistische Parteien gründeten (vulgo: K-Gruppen). Dabei hatte es eine viele Monate währende Debatte über die essentiell erscheinende Frage gegeben, in welchem (Klassen-)„Auftrag“ die – sowohl ihrer überwiegenden Herkunft nach wie ihrer objektiven Klassenlage als Intellektuelle zufolge „kleinbürgerlichen“ – Studenten denn handelten, zumal Marx und insbesondere Lenin nichts Gutes über die revolutionäre Tauglichkeit dieser windigen Gesellen aus der Zwischenklasse hatten verlauten lassen.

Diese Wende vollzogen oft dieselben Menschen, die noch zwei Jahre zuvor den Überfall der Sowjetunion und ihrer Vasallen auf die ČSSR zur Unterdrückung des sozialistischen Reformprojekts Dubčeks gegeißelt hatten.2 Der sophistische Trick bestand in der Diskreditierung der herrschenden Parteien der Sowjetunion und der DDR als „revisionistische“ Abweichungen3 vom rechten kommunistischen (gleichermaßen dogmatischen) Weg; man durfte sie weiter kri-tisieren, nun aber mit anderen Argumenten. Die kleinen Schurken (Honecker etc.) mit dem großen Schurken (Stalin) zu kritisieren – und teilweise sogar das Pol Pot-Regime in Kambodscha zu legitimieren –, war ein besonderes Bubenstück der sog. K-Gruppen und hat wesentlich zu deren politischer Isolierung von der ehemaligen Außerparlamentarischen Opposition und der Arbeiterschaft beigetragen. Der opportunistische Dogmatismus, der auch andere Spielarten kannte, hat unter dem Gruppendruck der Kaderlinien oft nachhaltige Brüche in den Biografien der Beteiligten bewirkt und viele der Betroffenen über diese Zeit verstummen lassen. Sie waren für viele Linke der 1970er Jahre folgenreicher als der terroristische Aktionismus der Baader-Meinhof-Gruppe, der die Republik in Atem hielt und manche in eine moralisch fragwürdige Sympathisantenrolle verstrickte.

Die K-Gruppen, die im linken Lager der 1970er Jahre einen starken Akzent setzten, haben inhaltlich mit der Studentenbewegung wenig gemein (schon programmatisch strebten sie deren explizite „Überwindung“ an); allenfalls über eine gewisse Personalkontinuität bei den Führungskadern und über die von ihnen weiter gepflegte „Rhetorik der teleologischen Gewissheit“ (Bovenschen 1998: 233) lässt sich eine Verbindung herstellen. Zweifel sind daher berechtigt, ob auch die K-Gruppen der 1970er Jahre gemeint sein könnten, wenn von „68“ die Rede ist. Ganz vehement stellt das z.B. Oskar Negt (1998) in Frage, der sie sogar für die Liquidation der radikaldemokratischen Studentenbewegung haftbar macht. Gerd Koenen wehrt sich, wenn er ihm vorhält, „ein mythisiertes ‚Achtundsechzig‘ mit seinem reinen, erzdemokratischen und antiautoritären Spirit auf Flaschen zu ziehen und kategorisch zu trennen von fast allem, was dann daraus hervorging“ (Koenen 2004: 30).

Koenen, der in seinem Erfahrungsbericht ein „rotes Jahrzehnt“ identifiziert und es 1967 beginnen lässt, möchte gerade die Kontinuität und die Erbschaft von „68“ für die K-Gruppen reklamieren; es lässt sich wohl leichter mit der Last des langen Irrwegs leben, wenn man sie nicht allein tragen muss, wenn man die Verantwortung für die je eigene Entscheidung auf ein diffuses Aktionskollektiv der „68er“ abladen kann, aus dem sich dann „irgendwie“ alle linken Initiativen der 1970er Jahre entwickelt haben.4

Den gleichen Mechanismus strapaziert ein anderer früherer Sektenjünger, Götz Aly, der sich Anfang der 1970er Jahre in der Hochschulorganisation einer radikalen Politsekte am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin als scharfmacherischer Anführer hervortat, zur „Schweinejagd“ aufrief, womit die Professoren gemeint waren, und auch vor deren körperlicher Bedrohung nicht zurückschreckte. Das war – entgegen seiner Behauptung (Aly 2008: 140f.) – auch an der damaligen FU ziemlich ungewöhnlich und erst recht an anderen westdeutschen Universitäten. Einerseits entlastet die Kollektivierung individuellen Fehlverhaltens, andererseits benötigt Aly die mea culpa-Attitüde zur besseren Beglaubigung seiner hanebüchenen These, dass „die deutschen Achtundsechziger … ihren Eltern, den Dreiunddreißigern, auf elende Weise ähnelten“ (Aly 2008: 7).5 Aber während sich Aly mit diesem Pamphlet endgültig aus dem Kreis ernstzunehmender wissenschaftlicher Autoren verabschiedet hat, ist Koenen bei seiner Aufarbeitung ein ausgezeichnetes Buch gelungen, m.E. das bislang beste zur politischen Transformationsgeschichte der Studentenbewegung.

Die Heftigkeit der Konfrontation zwischen den revoltierenden Studenten und der Staatsmacht und der große Zulauf zu den Protestaktionen des Jahres 1968 sind nicht ohne den jahrelangen Vorlauf zu erklären, und daraus resultieren auch die lang anhaltenden Fernwirkungen bis weit in die 1970er Jahre hinein. Je nachdem, wann und wohin sich die Beteiligten aus diesem Prozess verabschiedet haben, fällt die Erinnerung daran unterschiedlich aus; wobei nicht unerwähnt bleiben soll, dass das Gros der mobilisierten Studenten sich von der politischen Wende zu den sektiererischen K-Gruppen und zur bodenlosen Militanz von RAF & Co. um 1970 ferngehalten und sein kritisches Potenzial eher in praxisnaher Basisarbeit oder in etablierten Berufen eingebracht hat.

 

Wer war „68er“? „1968“ als „offene Zuschreibungsformel“

Aber nicht nur deshalb divergieren die Erinnerungen und die dabei gewonnenen Erfahrungen früherer Beteiligter beträchtlich. Sie unterscheiden sich auch in ihren Bewertungen, die häufig mit impliziten Legitimierungs- oder Delegitimierungsansprüchen einhergehen, was man an den Darlegungen von aus unterschiedlichsten Gründen heftig in die damaligen Ereignisse involvierten Autoren mit ihren Verzerrungen, falschen Analogien und unzulässigen Verallgemeinerungen erkennen kann. Aber auch unter neutralen Beobachtern und zwischen anderen sich erinnernden Akteuren ist fast alles strittig: ob „68“ schon 1967 oder früher begann, 1969 oder 1970, 1977 oder später endete, ob man zu „68“ nur die Phase der antiautoritären Studentenbewegung – die bereits 1968 zu Ende ging – oder ihre sozialistische Wende (1968/69) oder gar die Phase der Kaderparteien und Spontigruppen ab 1970 hinzurechnen soll. Die gleiche Unklarheit herrscht beim Versuch der personellen Zuordnung: Wer ist ein „68er“? Die engste Definition – nur die Aktivisten – befriedigt nicht, denn dann käme man nur auf insgesamt ein paar hundert Akteure; die weiteste auch nicht – als gesamte Generation der damals 20- bis 30-Jährigen – denn dann wären auch CDU/CSU- und FDP-Politiker wie Eberhard Diepgen, Heinrich Lummer, Edmund Stoiber und Wolfgang Gerhardt „68er“.6

Offenkundig muss man zumindest Sympathisant gewesen sein, um sich plausibel dazurechnen zu können. Aber auch dieser Status ist diffus. Wie viel Identifikation und tätiges Einwirken ist erforderlich, um den Status zu erlangen? Genügt es, von ferne zugeschaut und mit Sympathie von den Forderungen und Aktionen Kenntnis genommen zu haben, oder muss man wenigstens ein Jahr lang jedes teach-in und mindestens drei Demos mitgemacht haben, davon zumindest eine mit Wasserwerfertaufe? Verliert ein K-Grüppler mit „68er“-Vorlauf diesen Status durch die Konversion zum Maoisten? Ist der 20-jährige Jungaktivist, der 1973 zur Hausbesetzerszene der Frankfurter Spontis stieß oder als Kandidat der KPD-ML seine Bewährungsrunden in den Schulungsgruppen drehte, auch ein „68er“? – Doch wohl kaum schon deshalb, weil dieser Politzirkel auch von „68ern“ gegründet worden ist? Wie man es auch dreht und wendet, eine theoretisch schlüssige und empirisch befriedigende Definition des „68ers“ lässt sich nicht finden. Die Chiffre ist soziologisch gesehen eine „offene(n) Zuschreibungsformel“ (Bude 1995: 39), die privat und öffentlich je nach Opportunität und Perspektive eingesetzt und auch instrumentell verwendet werden kann. Negt hält die „68er“ für ein Resultat von medial verstärkten Verdrehungen und Verzerrungen, die „zur Erfindung des ‘68’ers als Eigennamen eines politischen Sozialcharakters geführt“ habe (Negt 1998: 339). Dem kommt aber, wie wir gesehen haben, allenfalls gruppenspezifische Konsistenz zu; er eignet sich daher nicht zur Konstruktion eines übergreifenden sozialen Typus.

Gegenüber dem öffentlichen Umgang mit der Chiffre „68“ ist ferner daran zu erinnern, dass die zwischen 1965 und 1969 politisch aktiven Studenten an allen westdeutschen Universitäten nur eine – wenn auch meinungsdominante – Minderheit bildeten, erst recht in den außeruniversitären Einrichtungen, die sie bald mit ihren Ideen beeinflussten. Selbst zur Hochzeit der Mobilisierung 1968 standen die meisten Mediziner und Juristen, Naturwissenschaftler und Ökonomen abseits, liberal oder konservativ schweigend und auf die Karriere konzentriert. Nur die Studierenden der Philosophischen Fakultät, insbesondere der Politikwissenschaft und der Soziologie, die „Ideologieproduzenten“, als die sie nicht länger fungieren wollten und nun als Ideologiekritiker agierend, waren in ihrer großen Mehrheit in die Revolte involviert. Dass die Generation der damals 20- bis 30-Jährigen die Generation der „68er“ gebildet habe7, mag daher vielleicht noch ein nützliches typologisches Konstrukt sein; empirisch haltbar ist es nicht. Die Werbebranche hat das Amöbische von „68“ längst erkannt und für ihre Zwecke genutzt.8

Nach dem Regierungswechsel von 1998 hieß es unter Journalisten und Zeitgeistanalytikern, „die 68er“ seien an die Macht gekommen, das halbe Kabinett sei von ihnen bestimmt etc., wobei als Subkontext die mal Schrecken erregende, mal triumphierend mitschwingende Botschaft vom subversiven Marsch der „68er“ durch die Institutionen vermittelt werden sollte. Je nachdem beklagt oder begrüßt, traf es weder für das erste noch für das zweite Kabinett von Bundeskanzler Gerhard Schröder zu. In dessen letzter Regierungsphase ließen sich gerade mal zwei Minister dieser Gruppe lebensgeschichtlich zuordnen: Joseph Fischer und Jürgen Trittin. Otto Schily war nie ein „68er“, sondern zu jener Zeit ein Linksliberaler, der (anders als Horst Mahler) immer eine gewisse Distanz zu den damaligen Gruppen und Ereignissen wahrte; in den letzten Jahren hat er sich zu einem konservativen Liberalen gewandelt. Und auch Schröder war kein „68er“. Bemerkenswert ist seine Einlassung dazu in einem Fernsehduell mit seinem damaligen Herausforderer Christian Wulff bei der niedersächsischen Landtagswahl im Februar 1998. Wulff versuchte sich darin als modernes Gegenstück zum „altbackenen 68er“ Schröder zu profilieren, worauf der defensiv erwiderte: „Ich war ja nie so richtig beteiligt bei den ‚68’ern“.9 Das ist sicher zutreffend, denn von denen hätte damals sicher keiner Zugang heischend am Tor des Bundeskanzleramts gerüttelt, sondern die zu gründende neue Räteregierung in einer Fabrikhalle eröffnet.

 

Divergente Erinnerungen an ambivalente Ereignisse

In der öffentlichen Meinung differieren nicht nur die Vorstellungen vom Umfang und den Beteiligungsformen von „68ern“ an „68“, sondern auch die Selbst- und die Fremdzuschreibung, und es werden die damaligen Ideen und Ereignisse im Lichte der Gegenwart höchst unterschiedlich bewertet. Je nachdem, ob man ihnen heute positiv oder negativ gegenübersteht, fallen auch die Urteile über ihre Fernwirkungen ablehnend oder zustimmend aus. So wird entweder die befreiende Wirkung basisdemokratischer Willensbildung und gemeinsamer phantasievoller Aktionen in den Vordergrund gerückt oder aber die Normenzerstörung, die Delegitimierung der staatstragenden Kräfte und die Diskreditierung des Leistungsprinzips beklagt. Akteure und Sympathisanten bekennen gewöhnlich: „Es war eine wunderbare Zeit“10, „die APO-Zeit zwischen 1968 und 1978 war bestimmt die aufregendste Zeit meines Lebens“11, während die repräsentativen Opfer, z.B. die mit Eiern beworfenen Rektoren der FU Berlin, der Frankfurter oder der Heidelberger Universität, verständlicherweise andere Erinnerungen haben und zahlreiche namenlose Gegner der Studentenbewegung beklagen, damals sei ein ordentliches, „ungestörtes Studium ... an der Freien Universität Berlin … kaum möglich“ gewesen. So kann sich noch im Jahre 2001 ein Herr aus Baden-Baden in einem Leserbrief echauffieren, die „Art der postumen ideologischen Schönfärberei der im West-Berlin jener Zeit in Ausmaß und Häufigkeit geradezu unglaublichen Krawalle“ sei vollkommen ungerechtfertigt.12

Im Mainstream von Soziologie und Zeitgeschichte, im Medientenor und in der dominant reproduzierten kollektiven Erinnerung wird diese Polarisierung gewöhnlich ausgeblendet. Sowohl Zeitgenossen wie Nachgeborene resümieren mehrheitlich, dass die hypertroph angestrebte – und zwangsläufig gescheiterte – Revolution, mit ihren vielen „produktiven und unproduktiven Illusionen“ (Kadritzke 1989) immerhin als „Nebenfolge“ weitgehende Reformen bewirkt oder angestoßen, eine allgemeine Liberalisierung nach sich gezogen habe, mit der der patriarchalisch-autoritäre Geist aus Politik und Bürokratie, Schule und Universität, Institutionen und Verbänden vertrieben worden sei.13 Die 68er Revolte habe einen Modernisierungsschub bewirkt, der das rückständige gesellschaftliche Erbe aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überwunden und die Bundesrepublik auf das liberale kulturelle Niveau der westeuropäischen Gesellschaften gehoben habe. Die „68er“ werden in der soziologischen Analyse daher als Träger einer sozialen Bewegung identifiziert, „die eine Revision des vorherrschenden Lebenszuschnitts in den westlichen Gesellschaften bewirkt hat“ (Bude 1995: 18). Die damit erreichte „Fundamentalliberalisierung unserer alltäglichen Normalitätserwartungen“ betrachtet Bude als eine „überwältigende Erfolgsgeschichte“ (ebd.:19).

So weit würden nicht alle gehen wollen, die den kontra-intentionalen Reformerfolg der selbst beauftragten Revolutionäre durchaus anzuerkennen bereit sind. Sie fühlten sich schon damals von den Ereignissen bzw. von einigen ihrer Folgen überwältigt, die nicht mit ihrem Weltbild zu vereinbaren waren und nicht mehr ihrem ändernden Einfluss unterlagen. Insbesondere viele Repräsentanten der damals angegriffenen Mehrheitsgesellschaft haben bis heute nicht ihren Frieden mit „68“ gemacht, was mit aller Schärfe bei den Auseinandersetzungen Anfang 2001 um Demonstrationsdelikte Joschka Fischers in seiner Frankfurter Sponti-Zeit sichtbar wurde. Bei allen taktischen Manövern der um Regierungsbeschädigung bemühten Oppositionsparteien offenbarte der Konflikt doch die bis heute tiefen Gräben in der Deutung der Entwicklungsgeschichte der Bundesrepublik. Man kann ihn auch als den Versuch der konservativen und neoliberalen Kräfte um CDU und FDP auffassen, wieder und dauerhaft jene kulturelle Hegemonie zu erringen, die mit der „geistig-moralischen Wende“ Helmut Kohls Anfang der 1980er Jahre vergeblich angestrebt worden war (vgl. Negt 1998: 24).

Auch jenseits dieser zeitbedingt an- und abflauenden Deutungskonflikte bleiben viele Fragen offen. Hat das konservative Lager sich nun endgültig damit abgefunden, dass ein ehemaliger Straßenkämpfer, ein Mann ohne Abitur und Studium, als auswärtiger Minister die Bundesrepublik vertreten konnte? Hat es sich wirklich mit „68“ arrangiert? Oder sitzt dieses Jahr nach wie vor „wie ein Pfahl im Fleische … der offiziell immer noch als wohlgeordnet geltenden Gesellschaft der Bundesrepublik (auch ihrer glücklos erweiterten Gestalt)“, wie Negt (1998: 13) urteilt? Ist die Überführung der Ereignisse von „68“ in die politische Folklore, ihr Abgleiten ins Anekdotische gerade ein Beleg für ihre gesellschaftliche Akzeptanz oder aber der Ausdruck des „Verfall(s) linker politischer Identität“, eines „schändlichen Opportunismus“ von „68ern“, die aus den damaligen Ereignissen „einen dem Spießer verständlichen Studentenulk in revolutionären Kostümen machen“ und damit den linksalternativen Gehalt von „68“ negieren, den man für die gegenwärtige Gesellschaftskritik bewahren müsse, wie Negt in seinem „in Zorn und gegen das Vergessen“ geschriebenen Buch (ebd.: 47) meint? Negt führt einen doppelten Kampf: gegen die Lauen und Konvertiten im eigenen Lager und gegen diejenigen, die „68“ am liebsten ungeschehen machen und nachträglich durch Kriminalisierung eskamotieren wollen. Er möchte die sozialistischen Utopien der „68er“ durch deren Entmythologisierung vor der verharmlosenden Integration und der Historisierung bewahren. Aber der heroische Versuch einer Kontinuitätsbildung muss schon deshalb fehlschlagen, weil die gesellschaftlich relevanten Fronten seit den 1990er Jahren anders verlaufen: nicht mehr zwischen den Protagonisten von Sozialismus und Kapitalismus, sondern zwischen denjenigen, die den sozialdemokratisch modifizierten, den „rheinischen“ Kapitalismus ausbauen bzw. verteidigen möchten, und denjenigen, die dessen marktradikale Variante gemäß angelsächsisch geprägter Shareholder Value-Ideologie als allgemeines Wirtschaftsmuster auch in Deutschland durchsetzen wollen. Ob die Beschwörung des reinen Geistes von „68“ jene Kräfte freisetzt, die das große Emanzipationsprojekt wieder vorantreiben könnten, kann bezweifelt werden. Da ist schon ein viel stärkerer Schub von der sich zur Weltrezession auswachsenden Finanzmarktkrise zu erwarten, die selbst das Konzept des Sozialismus und die Analysen des vielmals totgesagten Karl Marx wieder diskussionswürdig werden lässt.

 

Das Verblassen der „Wende“-Erfahrung von 1989 im kollektiven Gedächtnis

Die Besonderheit der Wirkungsgeschichte von „68“ und dessen Ort im kollektiven Gedächtnis der (westdeutschen) Bundesrepublik wird vielleicht erst richtig verständlich, wenn man sie mit der kollektiven Erinnerung an ein anderes gesellschaftliches Großereignis von besonderer Dramatik vergleicht, das sich erst vor 19 Jahren ereignet hat: 1989, der Fall der Mauer und der sich anschließende Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Auffällig ist jedoch ihre unterschiedliche Relevanz im öffentlichen Bewusstsein zumindest der westdeutschen Bevölkerung, die beide Ereignisse gleichermaßen intensiv erlebt hat. Während aber von dem gewaltigen Umbruch, den die Ablösung des staatssozialistischen Regimes und die Einführung von Demokratie und Marktwirtschaft in Ostdeutschland verursacht haben, im Alltagsleben und im Bewusstsein der westdeutschen Bevölkerung – sieht man vom lustlos getätigten Solidaritätszuschlag und dem jährlichen Gedenken zum 3. Oktober ab – nahezu nichts wirksam geworden ist, bilden die Ereignisse von 1968 einen festen Bestandteil des kollektiven Bewusstseins zumindest der „älteren Generation“. „68“ und die „68er“ sind zu schnell verfügbaren, ubiquitären politischen Metaphern und zu bemerkenswert polyvalenten Chiffren geworden. In ihrem Kern stehen sie jedoch nach wie vor für Unbotmäßigkeit, alternatives Denken, Emanzipation und radikale Kritik an den damaligen gesellschaftlichen Verhältnissen.

Vergleicht man das inzwischen institutionalisierte und gleichwohl lebendig gebliebene Ereignis von 1968 mit der aktuellen „Wende“-Erinnerung der Westdeutschen (von 1989/90), dann fällt auf, wie verschieden ausgeprägt die Aufmerksamkeit für diese sehr unterschiedlichen, aber gleichermaßen folgenreichen gesellschaftlichen Großereignisse gegenwärtig ist. Seit vielen Jahren spielen die ostdeutschen Bundesländer und die Integrationsprobleme ihrer Bewohner im Alltagleben und im öffentlichen Diskurs Westdeutschlands kaum eine Rolle.14 Es ist bemerkenswert, wie schnell der Glanz der friedlichen Revolution, der die Mauer zum Einsturz brachte, verblasst ist, wie wenig er zum einheitsstiftenden Mythos zu taugen scheint und wie gering der Beitrag der ostdeutschen Bürger zum gemeinsamen Staat von den Westdeutschen geachtet wird. 1968 markiert dagegen einen gesellschaftlichen Großkonflikt, der trotz divergenter Bewertung als weitgehend pazifiziert gelten darf und gleichsam eingebaut ist in das kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik, genauer: seines westlichen Teils.15 In diesem Sinne ist er veralltäglichter Bestandteil des Politikdiskurses geworden.

Demgegenüber ist das gesamtdeutsche Ereignis, das kürzer zurückliegt und die Gesamtbevölkerung betraf, dessen widersprüchliche Folgen aber noch längst nicht überwunden bzw. verarbeitet worden sind, kaum präsent. Während die „68er“ Jugendrevolte zum festen Bestandteil der politischen Emblematik und als kulturelle Chiffre Differenzierungsmerkmal für diverse kulturelle oder soziale Veränderungsprozesse geworden ist, hat die Demokratisierung und Vermarktwirtschaftlichung der ehemaligen DDR für die Westdeutschen nur als Regionalgeschichte stattgefunden. Umgekehrt stellt für die Ostdeutschen – von einer kleinen intellektuellen Minderheit abgesehen – „68“ nur ein Ereignis der westdeutschen Regionalgeschichte dar. Permanent bestätigt durch die anhaltende ökonomische Asymmetrie, erscheint die ostdeutsche Transformation aus dem Blickwinkel „der Westler“ nur als Überwindung eines defizienten Modus, dessen normativer Orientierungspunkt in der westdeutschen bzw. Bonner Verfassungsordnung und in dem durch sie repräsentierten Wirtschafts- und Gesellschaftssystem unverrückbar feststeht.

 

Der DDR-Beitritt als strukturkonservative Assimilation

Die Konsequenz dieser gedankenlosen Selbstsicherheit war für den Vereinigungsprozess folgenreich: Statt eine gemeinsame neue Verfassung zu schaffen, wie dies die Gründungsväter der Bundesrepublik 1949 für den Vereinigungsfall vorgesehen hatten, blieben die überkommenden Strukturen unangetastet. Die Bonner Republik als Status-quo-Republik der Besitzstandswahrer, wozu auch viele strukturkonservativ gewordene „68er“ gehörten, verweigerte die fällige demokratische und soziale Modernisierung. Also fand keine Beschleunigung der Rechtsprechung durch Reduktion des vierstufigen Gerichtssystems auf drei Stufen statt – wie seit der Weimarer Republik gefordert und in der DDR realisiert – und es unterblieben die Modernisierung des Gesundheitssystems (z.B. durch Erhaltung und Ausdehnung der ostdeutschen Polikliniken) und des Bildungssystems (z.B. durch Ausweitung und Verbesserung der Vorschulerziehung, Einführung der Ganztagsschule, des Abiturs nach zwölf Jahren) sowie die Reform des Steuersystems oder des Föderalismus etc. Vieles davon ist bis heute nicht angepackt worden, manches mit zwölf- oder dreizehnjähriger Verspätung.

Der Umbau des Staates hätte ein gemeinsames Projekt beider Bevölkerungsteile werden und den Ostdeutschen wirkliche Teilhabe, die aktive Aneignung dieser anderen, neuen Gesellschaft ermöglichen können. Stattdessen wurden sie zum Beitritt zugelassen, blieben sie die Azubis der westdeutschen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit begrenzter Partizipationsbereitschaft. Wenn man von der befristet tätigen – und gewiss problematischen – Treuhandanstalt absieht, ist die Integration, d.h. der ostdeutsche Transformationsprozess, ohne jede institutionelle Innovation bewerkstelligt worden! Daher ist es analytisch abwegig, von der vereinigten als einer ganz anderen, strukturell neuen „Berliner Republik“ zu sprechen.16 Mit der Vereinigung hat sich zwar die außenpolitische Situation der Bundesrepublik Deutschland geändert; im Innern aber ist die erweiterte Zweite Republik sich sehr ähnlich geblieben. Diese strukturkonservative Kontinuität wird durch die scheininnovative Namensgebung „Berliner Republik“ nur verschleiert.

Wenn „1989“ nun schon kaum noch ein gemeinsames, Identität stiftendes Element der kollektiven Erinnerung Gesamtdeutschlands ist, was bedeutet es dann für die Ostdeutschen?

Es existiert ein offizielles Datum für die Erinnerungskultur – der 3. Oktober, das Beitrittsdatum – und ein inoffizielles – der 9. November mit dem Fall der Mauer –, das zum Staatsfeiertag nicht werden durfte, weil an diesem Tag auch die Reichspogromnacht stattgefunden hatte. Zwischen dem Fall der Mauer, mit dem gedanklich vielleicht noch die Montagsdemonstrationen verknüpft werden können, und dem offiziellen Beitrittstermin klafft eine Erinnerungslücke. Es war die Zeit der „Wende-DDR“, der Runden Tische und der Bürgerbewegung, wo Neues ausprobiert und gestaltet wurde, aber keinen Bestand hatte. Was scheitert, wird leichter vergessen oder, wie es einmal ein Beteiligter formulierte: „Wir haben die Tür aufgemacht, aber die hinter uns standen, haben uns überrannt“.

So ist „1989“, das ein grandioses Narrativ für einen neuen Mythos enthielt – der friedliche Marsch der Massen bringt die Waffen zum Schweigen und die Mauern zum Einsturz –, nur ein Teilmythos geworden, verschattet vom Nachfolgenden und verwässert von analytischer Dreinrede: Ohne die Vorarbeit der Polen, die Grenzöffnung der Ungarn, ohne Gorbatschow usw. hätte es keine Grenzöffnung gegeben. Aber wenn man solche Relativierungen noch als Nörgelei beiseite schieben kann, so liegen die verfehlten Erwartungen und enttäuschten Versprechungen, die fortwährenden Defizite im Vergleich zum Westen wie Mehltau über dem einstmals strahlenden Ereignis. Gleichzeitig wird der Protestgrund der Mauerbrecher durch DDR-Nostalgie nachträglich in Zweifel gezogen: Angesichts der Kälte der Konkurrenzgesellschaft habe es sich doch damals viel heimeliger gelebt, usw. Der Kohäsionsverlust wird gegen den Freiheitsgewinn in Stellung gebracht und damit der Mythos untergraben.

 

Die Ohnmacht der Akteure – ohne Mythenstifter keine Mythenbildung

All dies könnte ihm vielleicht noch nichts anhaben, vergleicht man damit die ähnlich kontrovers gedeuteten Ereignisse von 1968, wenn es hierfür jene deutungsmächtige Intellektuellenschicht gegeben hätte, die für die Etablierung des „68er“-Mythos gesorgt hat. Dafür kommen stets nur die Protagonisten, die Akteure der ersten Stunde in Frage. Deren politische Enteignung infolge des Bündnisses zwischen schweigender Mehrheit im Osten und den regierenden Besitzstandswahrern im Westen hat auch ihre ideologische Marginalisierung zur Folge gehabt. Damit fehlt das Subjekt der Mythologisierung. Das heißt: Ohne Mythenstifter keine Mythenbildung. Die Geschichte zeigt allerdings, dass Mythen auch Generationen später etabliert werden können, wie z.B. nach 40 Generationen der Nibelungenmythos als germanische Saga im 19. Jahrhundert; doch solche Mythenbildung ist fragil.

Es gibt aber noch ein weiteres Problem bei der Mythologisierung von „1989“. Soziologisch betrachtet, ist der Mythos ein identitätsstiftendes Erklärungsangebot für komplexe gesellschaftliche Situationen mit hohem Inklusionscharakter („Sinnstiftung“). Wer sich positiv darauf bezieht, ist anschlussfähig im kollektiven Diskurs. Soweit gilt das für beide Umbruchserfahrungen. Und doch scheint damit der mythische Gehalt beider Ereignisse noch nicht recht erfasst, wenn die Mythologisierung von „1968“ gelungen ist, die von „1989“ aber nicht. Es bedarf für die Konstitution eines Mythos offenbar noch eines überschießenden Sinnelements, eines utopischen Gehalts, der aus der Vergangenheit in die Zukunft weist. Und der ist für „1989“ wohl noch nicht recht sichtbar geworden.

Das wurde auch an der prominent besetzten Veranstaltung „Crossing 68/89“17 am 30. Mai 2008 in der Akademie der Künste in Berlin wieder deutlich, die den Ereignissen des Jahres 1968 gewidmet war, insbesondere denen in Berlin und Prag, ihren wechselweisen Bezügen und den Nachwirkungen auf „1989“. Alle Redner beschworen Aufbruch und Hoffnung, die mit „68“ verbunden waren, und das galt auch für die kritische Jugend der DDR. Aber kaum einer zog die Verbindung bis zur Gegenwart18, nur Oskar Negt verlangte darüber hinaus, dem liegen gebliebenen Projekt einer emanzipativen Demokratisierung neues Leben einzuhauchen und es gegen die marktradikale Liberalisierung zu setzen. Von einer von „1989“ ausgehenden Botschaft für die Gegenwart sprach niemand, auch die Vertreter des „Prager Frühlings“ thematisierten dies nicht.

Wie werden künftige Generationen mit dem Mythos der Studentenbewegung umgehen? Schon jetzt zeigt sich, dass die Ausstrahlung der „68er“ auf ihre Kinder gering ist. Die protestierenden Studenten von 1998 wollten ihre eigenen Erfahrungen machen und distanzierten sich explizit von „68“ und den Ratschlägen von „68ern“. Die Protestbewegung zur Verbesserung der Studienbedingungen war trotzdem nicht sehr erfolgreich. Es ist also ungewiss, ob auch noch in dreißig oder fünfzig Jahren, wenn auch der letzte „68er“ seine reale Transzendenz erfahren hat und sich die Historiker beim Geschichte schreiben nicht mehr durch Zeitzeugen behelligt fühlen müssen, wenn keine neu erzählten Anekdoten mehr die Legendenbildung speisen, die erratischen Biografien vollständig durch glatt gefönte Lebensläufe ersetzt sein werden – ob es dann noch einen Mythos „68“ geben wird, von dem man raunend erzählt, oder ob dann nur noch von Fachkundigen und Archivaren über ein Ereignis aus dem vorigen Jahrhundert gesprochen wird, so wie heute z.B. vom „Hambacher Fest“ von 1832.

Auch bei der ostdeutschen Jugend wird keine gesteigerte Aufmerksamkeit für den basalen Umbruch der DDR-Gesellschaft registriert. Stärker als die Jugend von „68“ ist sie mit der unmittelbaren Gegenwart und der nahen Zukunft beschäftigt. Die vergleichsweise gemäßigte Diktatur, in der noch die Eltern ihre prägenden Erfahrungen gewannen, nötigt niemanden von ihnen zu einer besonderen kritischen Anstrengung. Das Notwendige scheint gesagt, der Mauerfall: ein schönes Event, das fortlebt in ikonografischer Visualisierung. Und doch kann es sein, dass man auch künftig zum 3. Oktober noch immer die jubelnden Menschen auf der Mauer vom November 1989 zeigen wird: Mythologisierung durch institutionalisierte Repetition.

 

Anmerkungen

1             Angesichts eines so vielgestaltigen, fluiden Ereignisses verfüge ich als beteiligter Zeitzeuge auch nicht über die für eine adäquate Gegenstandsbeschreibung wünschenswerte Gewissheit. Dort, wo schriftliche Quellen nicht weiterhalfen, gaben andere kundige Beobachter und ExpertInnen kritischen Rat, wofür ihnen hiermit Dank gesagt sei, ohne sie hier einzeln aufzuführen. Dass es sich bei dieser Skizze gleichwohl um eine persönlich gefärbte Deutung handelt, ist bei diesem Thema unvermeidlich. Teile des Textes erschienen zuerst unter dem Titel: „1968 – ubiquitäre Chiffre im politischen Deutungspuzzle“. In: J. John/D.van Laak/J.von Puttkamer (Hg.): Zeit-Geschichten. Miniaturen in Lutz Niethammers Manier. Essen: Klartext 2005, S. 237-248.

2             Zwar wurde von der westdeutschen Linken der Prager Reformprozess auch kritisch beäugt, weil befürchtet wurde, dass neben der (begrüßten) Demokratisierung der Marktliberalisierung darin zu viel Raum gegeben werden könnte, aber das Interesse daran und die Sympathie dafür waren groß. – Siehe dazu den Bericht über den Besuch Rudi Dutschkes, begleitet von Jürgen Treulieb und Clemens Kuby, am 8./9. April 1968 in der Prager Universität, wo Dutschke mit Studenten der Philosophischen Fakultät (zwei Tage vor dem Attentat auf ihn) über die Konzeptionen der westdeutschen Linken und der Prager Reformer diskutierte, in der Mai-Nummer der Zeitschr. Konkret von 1968. – Das widerspiegelt sich auch im Protestbrief der wichtigsten Organisationen der Westberliner APO an die fünf intervenierenden Warschauer-Pakt-Staaten vom 21.8.1968 und in der großen spontanen Demonstration zur tschechischen Militärmission in Berlin-Dahlem am selben Tag (vgl. FU Berlin 1983: 109). Der Tag markiert auch das Ende des partiellen Aktionsbündnisses der APO mit der SEW in Westberlin.

3             Entsprechend gehörten auch die DDR-Lobbyisten von der DKP zu den „Revis“.

4             Helmut Lethen, ein ebenso kluger wie sensibler Literaturwissenschaftler, der sich auch erst spät (1977) von seiner K-Gruppe zu lösen vermochte, bietet sich und anderen Betroffenen einen sehr eigenwilligen, Gesellschaftsrelevanz heischenden Trost dafür, „die kostbarsten kreativen intellektuellen Jahre für die politische Parteiarbeit geopfert zu haben“ – nicht zu reden von den vielen auf andere Weise beschädigten Biografien – indem er die K-Gruppen zu „Kühlmaschinen“ erklärt, die „die ‚frei flottierenden kriminellen Energien‘ der Siebziger abgesogen und die überhitzten Leidenschaften zum Erkalten gebracht habe – ein Zivilisierungsprojekt“ (in einem Interview mit S. Schrak in der Süddeutschen Zeitung v. 11.11.2004).

5             Eigentlich hätte Aly sein Buch „Mein Kampf“ nennen müssen. Aber zum einen war dieser Titel schon vergeben, und zum anderen erschien ihm bei aller Neigung zu rabulistischer Rhetorik und seinem medialen Inszenierungsbedürfnis dieser Titel dann wohl doch zu kontaminiert. Einen Zweck hat diese Methode aber schon erreicht – Aly ist zum begehrten Gastschreiber bei der von ihm einstmals bekämpften Springer-Presse avanciert.

6             Der frühere CDU-Generalsekretär Peter Hintze benutzt zwar ebenfalls die Chiffre „68“ als generationelles Referenzmuster, aber nur, um sich antithetisch darüber zu definieren: „Ich bin ein alternativer ‘68’er… Was ich an den Hochschulen erlebt habe, hat mich stark geprägt. Der Gedanke war für mich unerträglich, dass die marxistische Protestbewegung die Universitäten, die Schulen, Gerichte, Verwaltung, den Staat übernehmen sollte oder würde“ (SZ-Magazin, 27.02.1998).

7             So Bude (1995: 18).

8             So legte die Euro RSCG-Gruppe 1995 unter dem Titel „Die ‘68’er – Rebellen von gestern, Wertkonservative von heute?“ eine Marketingstudie vor, mit der sie die Aufmerksamkeit der Werbekundschaft auf diese häufig vernachlässigte, aber kaufkräftige Altersgruppe lenkte, die passend für diesen Zweck zur Gruppe der 40- bis 60-Jährigen ausgeweitet wurde (Süddeutsche Zeitung v. 31.10.1995).

9              Süddeutsche Zeitung v. 27.02.1998.

10             Wolf-Dieter Narr, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.02.2001.

11             Barbara Sichtermann, Süddeutsche Zeitung v. 08.02. 2001.

12             Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.03.2001.

13             Dieser Deutung hat unlängst H.-U. Wehler entschieden widersprochen. Die Beweisführung im Band 5 seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ (2008: 310-321  u.a. ) ist dabei bemerkenswert dürftig und erinnert eher an den polemisierenden Meinungsjournalismus von Kai Diekmann oder Götz Aly. Wehlers aporetische Argumentation kumuliert in der kühnen These,  die Bundesrepublik habe sich damals längst in einem starken Modernisierungsprozess befunden und die „68er“ hätten daran gar keinen Anteil. Mit anderen Worten: Wenn es keinen Grund für eine solche (immerhin langjährig wirksame) Protestbewegung gegeben hat, dann hätte sie auch nicht stattfinden dürfen. So nimmt Wehler, ein Hauptvertreter der historischen Sozialwissenschaft und Strukturanalyse, Zuflucht zum Konstrukt der „Ideenbewegung“ (2008: 312), also zu einer idealistischen Deutung, nicht gerade sein Markenzeichen und eher Ausdruck analytischer Hilflosigkeit.

14             „Warum bleibt der Beitrag des Ostens zum wiedervereinigten Deutschland so merkwürdig blass?“ (Dietrich Pollack, Die Zeit, Nr. 42/2002)

15             Zumindest die kulturellen Innovationen der Studentenbewegung wurden 1968 von der kritischen Jugend der DDR sehr wohl registriert (vgl. Wolle 2008: 93ff.), größeren Einfluss jedoch hatte die innovative Entwicklung in der ČSSR, weil man sich hiervon viel konkretere Auswirkungen auf das eigene Land erhoffte (Wolle 2008: 74ff., 138ff.).

16             Diese falsche Begriffsbildung wird nur noch übertroffen von Budes Erfindung einer „Generation Berlin“. Bude, dessen bewundernswürdige Imaginationskraft sich gelegentlich bis zur selbst attestierten  Prophetie steigert, glaubte mit dem Regierungsumzug Ende der 1990er Jahre eine neue „Generation Berlin“ – gewissermaßen die Smart-Ausgabe der „Generation Golf“ – heraufkommen zu sehen (vgl. Bude 2001).

17             Mit dem Untertitel ‚Protest, Reform und kultureller Aufbruch zwischen Prag und Berlin‘ und einem international besetzten Podium: Frank-Walter Steinmeier, Jiři Dienstbier, Jiři Gruscha, Lionel Jospin, Adam Michnik, Oskar Negt, Friedrich Schorlemmer, Ludek Sefzig, Stepan Benda, Gert Weisskirchen u.a.

18             Schon die Verbindung vom Prager Frühling zum Systemumbruch von 1989 zu ziehen, fiel den meisten schwer. „Zu sehr unterscheidet sich die Utopie des Prager Frühlings von den Resultaten der Samtenen Revolution“ (ZIPP 2008: 6).

 

Literatur

Aly, Götz, 2008: Unser Kampf 1968. Frankfurt a.M.

Bovenschen, Silvia, 1998: Die Generation der Achtundsechziger bewacht das Ereignis. Ein kritischer Rückblick. In: W. Kraushaar (Hg.): Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995. Bd. 3. Hamburg, S. 232-238.

Bude, Heinz, 1995: Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938–1948. Frankfurt a.M.

Bude, Heinz, 2001: Generation Berlin. Berlin.

FU Berlin (1983): Freie Universität Berlin 1948–1973. Hochschule im Umbruch, Teil V: 1967–1969: Gewalt und Gegengewalt (1967–1969), ausgewählt und dokumentiert von S. Lönnendonker, T. Fichter und J. Staadt unter Mitarbeit von K. Schröder. Berlin.

Kadritzke, Ulf, 1989: Produktive und unproduktive Illusionen in der Studentenbewegung. In: H. Bude/M. Kohli (Hg.): Radikalisierte Aufklärung. Studentenbewegung und Soziologie in Berlin 1965–1970. Weinheim/München, S. 239-282.

Koenen, Gerd, 22004: Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977. Frankfurt a.M.

Negt, Oskar, 1998: Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht. Frankfurt a.M.

Wehler, Hans-Ulrich, 2008: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5. München .

Wolle, Stefan, 2008: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968. Berlin.

ZIPP, 2008: Deutsch-Tschechische Kulturprojekte, 1968/ 1989, Kafka, Lebenswelten, Utopie der Moderne: Zlin. Berlin.

 

Prof. em. Dr. Rudi Schmidt, Soziologe, Jena

 

aus: Berliner Debatte INITIAL 19 (2008) 5, S. 3-13