Aussöhnung mit Polen wie mit Frankreich?

von Karol Sauerland

In Deutschland werden die deutsch-polnischen Beziehungen immer wieder mit den deutsch-französischen verglichen. So wie man sich mit Frankreich ausgesöhnt habe, werde man sich auch mit Polen aussöhnen, hört man immer wieder. Das ist ein schöner Vergleich, aber wie alle Vergleiche stimmt er nur äußerst begrenzt.

Frankreich hat für Deutschland eine ganz andere Rolle gespielt als Polen. Es hat - indirekt - viel dazu beigetragen, dass ein deutscher Nationalstaat überhaupt entstehen konnte. Abgesehen von dem intellektuellen Wettbewerb im 18. Jahrhundert, als deutsche Dichter und Denker die deutsche Sprache, Literatur und Philosophie auf die Höhe bringen wollten, die der westliche Nachbar bereits erreicht hatte, war es Napoleon, der ungewollt die Herausbildung eines politischen deutschen Nationalgefühls förderte, das sowohl von nationalistischen als auch republikanischen Vorstellungen durchdrungen war. Aber entscheidender ist ein anderer Unterschied zu Polen: dass nämlich Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhundert mehrere Kriege gegeneinander führten. 1870/71 besiegten vereinigte deutsche Truppen unter dem Oberkommando des Generals von Moltke den westlichen Nachbarn, von dem die Kriegserklärung ausgegangen war.1 Obwohl Bismarck den Gegner nicht demütigen wollte, konnte der Verlust von Elsass und Lothringen in Frankreich nicht verwunden werden. Eine Revanche war vorprogrammiert. Und mit dem Versailler Frieden von 1919/20 war die nächste Revanche abzusehen. Frankreich wurde von den Wehrmachtstruppen 1940 innerhalb von nicht ganz sechs Wochen geschlagen. Der folgende Sieg über Deutschland war nur bedingt das Werk des französischen Einsatzes, jedoch das Ende aller militärischen Konfrontationen zwischen beiden Staaten. Mit Schumanns Initiative und Adenauers Entgegenkommen wurden Brücken für die sogenannte Aussöhnung geschlagen.

Kriege zwischen Polen und Deutschland gab es dagegen in dieser Art nicht. Dies war schon deswegen nicht möglich, weil im 19. Jahrhundert Polen als Staat nicht existierte und Deutschland erst ein solcher wurde. Es gab im 19. Jahrhundert nur die Polen, die sich in großer Zahl nach einer Wiedererrichtung der Polnischen Republik zurücksehnten. Die Aufstände von 1830/31 und 1863 waren aber nicht gegen die westliche (Preußen) oder südliche Teilungsmacht (Österreich) gerichtet, sondern gegen die östliche (Russland). Staatlich unterstützte bewaffnete Auseinandersetzungen haben wir erst mit der Gründung der Zweiten Polnischen Republik zu verzeichnen, als das Schicksal bestimmter schlesischer und westpreußischer Gebiete ungewiss war. Sie ließen sich mit den Auseinandersetzungen um Elsass-Lothringen und das Saarland vergleichen, wenngleich die Unterschiede nicht gering sind.

Das wirklich bis heute unvergessene Ereignis in den deutsch-polnischen Beziehungen war der  Überfall der Wehrmacht auf Polen im September 1939. Es war doppelt unvergesslich, denn Polen wurde überraschenderweise von zwei Seiten angegriffen, wodurch die vorgesehene Truppenkonzentration der polnischen Armee im Osten unmöglich gemacht worden war. Und gerade das Faktum des doppelten Überfalls stellt den Hauptunterschied in den Beziehungen Deutschlands zu seinen beiden großen Nachbarn dar. Die deutsch-polnischen Beziehungen lassen sich mit einem Wort nicht auf die zweier Staaten reduzieren. Immer ist auf irgendeine Weise Russland mit im Spiel. Das ist bereits seit den Teilungen der Fall, bei denen Russland und Deutschland - oder besser: Russland und Preußen, der außenpolitisch aktivste Staat - zusammenwirkten. Und dieses Zusammenwirken galt auch für die Weimarer Republik: für den Beginn des „Teufelspakts", den Haffner so ausgezeichnet charakterisiert hat. Vor kurzem waren die Zuschauer des Films von Andrzej Wajda  über Katyń schockiert, als sie sahen, wie Deutsche und Russen an einem Tisch einvernehmlich darüber entschieden, ob ein Pole ins Generalgouvernement zurück durfte oder nicht.

Die „deutsch-polnische Aussöhnung" wird mit einem Wort auf Schritt und Tritt von den Beziehungen Deutschlands zu Russland durchkreuzt. Der deutsch-französischen Aussöhnung standen höchstens indirekt Dritte im Wege.

Und wenn man von den deutsch-polnischen Beziehungen spricht, muss man sich bewusst sein, dass sie Teil deutscher und auch polnischer Ostpolitik sind. Im Gegensatz zum Europa westlich Deutschlands ist der Osten nach wie vor eine instabile Region. Der Prozess der Herausbildung von Nationalstaaten östlich der deutschen Grenzen, der sich in der Zeit des Ersten Weltkriegs intensivierte, ist noch zu keinem wirklichen Ende gekommen. Nicht nur Weißrussland, sondern auch die Ukraine sind nach wie vor instabile Gebilde, deren Existenz vor allem von Russland in Zweifel gezogen wird.

Die Geschichte Ostmitteleuropas nahm im Jahre 1915 eine entscheidende Wende, als die deutschen und habsburgischen Truppen nach ihrer gelungenen Sommeroffensive gegen die zaristischen Truppen am Ende jene Territorien besetzt hatten, die wesentlich von „Nicht-Russen" bewohnt waren. In Deutschland erschienen in dieser Zeit zahlreiche Publikationen, in denen die unterschiedlichsten Autoren (unter ihnen auch deutsch-jüdische) darüber reflektierten, wie dieses östliche Mitteleuropa, das von Litauern, Letten, Esten, Polen, Weißrussen, Ukrainern, Ostjuden und anderen kleinen Völkern bewohnt war, in Zukunft auszusehen habe. Mit der Rückkehr einer russischen Dominanz rechnete damals so gut wie niemand. In einem Punkt war man gleicher Meinung: Nur Deutschland könne dort als Ordnungsmacht auftreten. Dem Habsburgerreich traute man nicht viel zu, obwohl es seit mehr als fünfzig Jahren eine recht liberale Vielvölkerpolitik praktizierte. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk, der am 3. März 1918 geschlossen wurde, schien die deutsche Vormachtstellung im Osten endgültig zu besiegeln. Deutschland konnte bei der Herausbildung von selbstständigen Staaten wie Litauen und der Ukraine die Machtkonstellationen wesentlich mitbestimmen. In der heutigen deutschen Geschichtsschreibung wird dies im Allgemeinen nur damit erklärt, es habe sich darum gehandelt, einen Sicherheitsgürtel gegenüber dem Bolschewismus zu schaffen2, als hätte es nicht schon zuvor Erwägungen gegeben, wie das Gebiet (damals sprach man lieber vom Raum) zwischen Deutschland und Russland in Zukunft zu gestalten sei. Das zaristische Russland wurde in jener Zeit allgemein als Hort der Reaktion angesehen, das die fremden, d.h. nicht russischen Völker unterdrückt. Die deutschen Eroberungen galten zumeist als Befreiungen, die erst in der Besatzungszeit als Ausbeutung der örtlichen Ressourcen empfunden wurden und auf immer größeren Widerstand stießen. 1918 mussten die deutschen Militärs - für sie überraschenderweise - abziehen, obwohl die Alliierten ihnen Zeit ließen, damit nicht ein absoluter Leerraum entstand. Die Westfront war dank amerikanischen Eingreifens zusammengebrochen. Ostmitteleuropa blieb im Wesentlichen sich selbst überlassen. Einen großen Teil besetzten polnische Truppen unter der Führung von Piłsudski. Das wieder erstandene Polen drängte zu den Grenzen vor den Teilungen zurück, gleichzeitig bildeten sich die baltischen Staaten heraus.  Das alles war mit vielen Kämpfen verbunden, aus denen das Rote Russland als der eigentliche Sieger hervorging. Es unterwarf sich große Teile der zur Selbstständigkeit strebenden Ukraine und die mittelasiatischen Gebiete, die sich zu unabhängigen Staaten erklärt hatten. Besonders blutig verlief die Unterwerfung der Demokratischen Republik Georgien im Februar 1921.3 Polen konnte sich hingegen im Sommer 1920 des Sturmes der Roten Armee erwehren. Piłsudskis Bemühungen um die Herausbildung einer autonomen Ukraine scheiterten dagegen. Ihm schwebte im Gegensatz zu Roman Dmowski eine Föderation unter polnischer Dominanz vor. In einer Volksabstimmung sollten die Bewohner der Ukraine darüber befinden, für welche Option sie sich entscheiden.

Der Rigaer sowjetrussisch-polnische Friedensvertrag im März 1921 bewirkte, wie Dan Diner zu Recht unterstreicht, „die Verwandlung der russischen Revolution in den sowjetischen Staat".4 Ja, fügt er hinzu, „recht besehen erfolgte" hier „die Wende zum ,Sozialismus in einem Lande‘".5 Aber auch Polen verdankte dem „Wunder an der Weichsel", d.h. dem Sieg über die Rote Armee, ein erhöhtes staatliches Selbstbewusstsein. Eine weitere Konsequenz der Grenzziehung im Osten war, dass Russland und Deutschland näher aneinanderrückten. Sie sahen in Polen einen gemeinsamen Feind, ein überflüssiges Gebilde, einen Bastard des Versailler Vertrages und ‚Saisonstaat‘, wie man in jenen Zeiten immer wieder hören und lesen konnte.

Deutschland, das in dieser Zeit nicht zu jenen Mächten gehörte, die imstande waren, eine aktive Außenpolitik zu betreiben, schloss immerhin einen ersten eigenständigen Vertrag ab: mit der Sowjetunion! Es geschah am Rande einer internationalen Wirtschaftskonferenz in Genua. Der deutsche Außenminister Rathenau und der sowjetische Kommissar für Äußeres Tschitscherin unterzeichneten den Vertrag, der sich deutsch-russischer Freundschaftspakt nannte, im April 1922 in Rapallo. Beide Seiten verzichteten völlig auf Kriegsentschädigungen. In Kürze sollte die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen erfolgen. Zugleich vereinbarten sie eine gegenseitige Meistbegünstigungsklausel im Handelsverkehr. Und insgeheim wurde auch eine militärische Zusammenarbeit beschlossen, die bereits im September 1921 ihren Anfang genommen hatte. Hier beginnt, wie Haffner erklärt, der „Teufelspakt". Deutschland war es von nun an möglich, die Wiederaufrüstung entgegen den Versailler Bestimmungen still und leise voranzutreiben. In Polen wurde dieser Vertrag als eindeutige Gefahr erkannt. Rapallo ist noch heute ein Synonym für russisch-deutsche Politik, die sich nicht nur über den Kopf Warschaus hinweg abspielt, sondern auch gegen Polen gerichtet ist. Sowohl Deutschland als auch die Sowjetunion waren an der Instabilität der zwischen ihnen liegenden Gebiete überaus interessiert, denn nur so war eine Revision der - von niemandem wirklich garantierten - Grenzen im Osten denkbar. In beiden Staaten hegten führende Politiker die Hoffnung, Polen werde in sich zerfallen; sie redeten deswegen gern von der dort herrschenden Anarchie. Dass Polen glaubte, ein Recht auf die Staatsgrenzen zu haben, die vor den Teilungen bestanden (weswegen es diese Grenzen nicht überschreiten wollte und westlichen Erwartungen, einen Marsch gegen das rote Moskau mitzumachen, nicht nachkam), wurde im Allgemeinen als ein alter Traum abgetan. Man anerkannte eher das Recht Russlands, zu den Grenzen des imperialistischen Zarenreiches zurückzukehren. In westlichen historischen Darstellungen wird der Friede, den Polen und Sowjetrussland im März 1921 abschlossen, immer wieder als ein Diktat ausgelegt; nirgends wird vermerkt, dass Polen auf Minsk verzichtete, obwohl die russische Seite mit einem polnischen Minsk einverstanden gewesen wäre. Es war der erste Friedensschluss, wie man in der polnischen Historiographie etwas übertrieben vermerkt, bei dem der Sieger auf ein Gebiet, das er besetzt hatte, verzichtete. Heinrich August Winkler schreibt dagegen: „Russland hatte 1920 im Krieg gegen Polen eine Niederlage und in deren Gefolge durch den Vertrag von Riga im März 1921 eine polnische Ostgrenze anerkennen müssen, die 200 bis 300 Kilometer östlich der von den Alliierten Ende 1919 festgelegten ,Curzon-Linie‘ lag".6 So viel und nicht mehr. Geschehnisse im östlichen Raum sind offensichtlich nicht erklärungsbedürftig. Polen wird im nächsten Satz als neuer Nationalstaat bezeichnet. In Wirklichkeit handelte es sich um die Wiederherstellung eines bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bestehenden Staates. Ein gesondertes Problem bestand darin, dass Polen ein Vielvölkerstaat war (ein lebhaftes Bild davon vermittelte Döblin in seiner noch heute lesenwerten Reise in Polen, die an der Wende 1924/25 erschien), in dem die nationalpolnischen Bestrebungen mit der Zeit überhand nahmen, insbesondere seit 1933 und noch stärker nach Piłsudskis Tod im Mai 1935. Es war kein Nationalstaat, sondern strebte immer mehr auf einen solchen zu. Einen eklatanten Ausdruck fand dies 1934, als Polen den Beitritt der Sowjetunion zum Völkerbund zum Anlass nahm, um seine Verpflichtungen zum Minderheitenschutz aufzukündigen.

Frankreich hatte sich mit dem Locarno-Vertrag von 1925 aus seinen Verpflichtungen Ostmitteleuropa gegenüber zurückgezogen, nachdem es keinen Ost-Locarno-Vertrag hatte erwirken können, d.h. eine Garantie der Ostgrenzen, insbesondere der deutsch-polnischen. An eine Garantie der polnisch-sowjetischen  Grenzen war nicht zu denken, denn die Sowjet-union stellte für die Westmächte noch keinen gleichberechtigten Partner dar. Nach Haffner zog Frankreich aus dem Locarno-Vertrag die Folgerung, dass es sich auf Selbstverteidigung umstellen müsse.7 So blieb Polen als Staat zwischen Deutschland und der Sowjetunion auf sich allein gestellt. Es versuchte, sich sowohl nach Osten wie auch nach Westen mittels Nichtangriffspakten abzusichern, die aber, wie sich 1939 zeigte, keinen Wert hatten. Stalin und Hitler zertrümmerten es rücksichtslos. 52 Prozent des polnischen Territoriums wurden der Sowjetunion zugeschlagen, der Rest wurde in ein deutsches Generalgouvernement und ein Gebiet aufgeteilt, das von nun an dem Reich angehören sollte. Die Teilung währte nur bis zum 22. Juni 1941, bis zum Weitermarsch der Wehrmacht gen Osten, aber die Folgen dieser 21-monatigen Teilung waren nicht nur im westlichen, sondern auch im östlichen Polen verheerend. Hunderttausende Menschen wurden nach Sibirien und Kasachstan deportiert, ein großer Teil der Elite wurde bereits im Frühjahr 1940 ermordet, darunter die Offiziere, die in den Lagern von Katyń und Umgebung interniert waren.8

Die Kriegswende, die mit Stalingrad einsetzte, bedeutete für Polen keineswegs die Aussicht auf eine wirkliche Wende. Der Schriftsteller Andrzej Bobkowski schreibt in seinen Tagebuchaufzeichnungen, die er in Frankreich verfasste, er wisse nicht, was ihn mehr beschäftigen müsse: die Niederlage der deutschen Truppen an der Ostfront oder der Vormarsch der Roten Armee.9 Einerseits sehne er sich nach dem Abzug der deutschen Besatzer, andererseits fürchte er sich vor dem Einmarsch der Sowjettruppen. Und er hatte recht. Als die Sowjettruppen gen Westen vorrückten und ostpolnisches Gebiet betraten, behandelten sie dieses wie eigenes Territorium. Sie machten sich an die sofortige Vernichtung der Armia Krajowa (AK), der Landes- oder Heimatarmee, die an die Vorkriegstradition anknüpfte. Kaum war eine Stadt wie Wilna (die Kämpfe dauerten dort vom 7. bis zum 13. Juli 1944) oder Lemberg durch vereinigte sowjetische und polnische Kräfte von der deutschen Armee befreit, wurden letztere schon entwaffnet und in Lager geschickt, wenn sie sich nicht der sowjethörigen polnischen Volksarmee anschließen wollten. So verhaftete der NKWD am 17. Juli 1944 den Führungsstab der AK von Wilna. Unter den Verhafteten befanden sich der Kommandant des Südostbezirks, Oberst Aleksander Krzyżanowski, und der Delegierte der Londoner Exilregierung,  Stefan Federowicz. Vom 22. bis 28. Juli 1944 wurde Lemberg von sowjetischen und AK-Truppen befreit. Zwischen dem 1. und 3. August wurden der gesamte AK-Militärstab unter Führung von General Władysław Filipkowski sowie der Delegierte der Londoner Exilregierung, Adam Ostrowski, verhaftet - mehr als zwanzig Offiziere. Insgesamt wurden über 50.000 AK-Kämpfer von den Sowjets interniert.10

Die Bekämpfung der Heimatarmee fiel den Sowjets insofern leicht, als die Polen von der Exilregierung in London den Befehl erhalten hatten, der herannahenden Sowjetarmee zu helfen, die Deutschen zurückzuschlagen, um damit zu beweisen, dass sie nicht tatenlos bleiben. Sie sollten wie Herren im eigenen Hause auftreten. In einer bedeutend schwierigeren Lage würden sich, heißt es in dem Befehl, ein Befehlshaber und die ortsansässige polnische Bevölkerung befinden, deren Gebiet einzig mit Hilfe der Russen von den Deutschen befreit worden wäre. Der Befehlshaber der örtlichen polnischen Streitkräfte hatte die Aufgabe, die Militärführer der sowjetischen Armee zu begrüßen und mit ihnen über die nächsten Schritte, vor allem die Errichtung einer Zivilverwaltung, zu beraten. Dazu kam es jedoch nicht, stattdessen wurden die Offiziere und Soldaten entwaffnet und aufgefordert, entweder der Roten Armee oder den ihr unterstellten Einheiten der polnischen „Volksarmee" (Armia Ludowa) beizutreten, d.h. die Wiedererrichtung der Republik Polen wurde unterbunden. Am 22. Juli 1944 setzte die Sowjetunion eine sogenannte polnische Volks-Regierung ein, die am nächsten Tag ein Dekret erließ, wonach alle die Heimatarmee betreffenden Fragen von sowjetischen Militärgerichten, d.h. von NKWD-Gerichten, zu behandeln waren. Machtpolitisch gesehen, hatten die polnischen Kommunisten keine andere Wahl, denn ohne sowjetische Hilfe hätten sie nicht die geringste Chance gehabt, sich auch nur für kurze Zeit zu etablieren. Stalin selber soll den polnischen Kommunisten im Oktober 1944 gesagt haben: „Wenn ich mir eure Arbeit anschaue, so würdet ihr euch ohne die Rote Armee nicht eine Woche halten."11

Am 26. Juli 1944 ließ die Londoner Exilregierung nach heftigen Diskussionen der AK-Führung in Warschau die Entscheidung mitteilen, sie gebe grünes Licht für einen Aufstand, d.h. für die Befreiung der polnischen Hauptstadt aus eigenen Kräften. Der Zeitpunkt, zu dem der Aufstand beginnen soll, werde der Warschauer AK-Führung überlassen. Am gleichen Tag begab sich Ministerpräsident Mikołajczyk nach Moskau, um sich der Unterstützung von Stalin zu vergewissern. In den Gesprächen mit ihm kam er zu der Überzeugung, dass er auf Hilfe rechnen könne. Am letzten Julitag wurde in der polnischen Hauptstadt beschlossen, dass die AK am 1. August um 17 Uhr losschlagen werde. Die Armee unter der Führung der Sowjetgeneräle Rokossowski und Shukow bewegte sich auf Praga zu, den Warschauer Stadtteil auf der rechten Weichselseite. Die ersten Panzer waren am 31. Juli dorthin vorgedrungen.

Bei Stalin fiel bekanntlich um den 12. August herum die Entscheidung, dass man nicht nur den kämpfenden Aufständischen nicht helfen werde, sondern auch die Hilfe, die vor allem Churchill gewähren wollte, nicht zu fördern gedenke. Konkret hieß dies, dass man den britischen und amerikanischen Flugzeugen keine Landeerlaubnis in den von den Deutschen befreiten Gebieten geben werde. Bereits am 16. August wurde der amerikanische Botschafter in Moskau offiziell vom stellvertretenden Kommissar für Äußeres Andrej Wyschinskij darüber informiert. Churchill nannte dies eine Episode von tiefer und weitreichender Bedeutung. Viele Historiker sollten dies später als den Beginn des sogenannten Kalten Krieges ansehen. Am schärfsten griff zu dieser Zeit Orwell in einem Artikel zum 5. Jahrestag des Kriegsbeginns am 1. September 1944 die Haltung der Sowjetunion an.

So mussten die zahlreichen britischen Flugzeuge dreizehn Stunden in der Luft bleiben, um den Weg aus Italien nach Warschau und zurück mit schwerer Ladung über Feindesland (sie flogen über Österreich und Südpolen) hinter sich zu bringen. Und über Warschau hingen noch dazu Rauchwolken. Die Deutschen hatten ähnlich wie beim Ghettoaufstand ein Jahr zuvor begonnen, die von Aufständischen besetzten Häuser anzuzünden. Churchill beharrte jedoch darauf, dem kämpfenden Warschau zu helfen. Die Lufteinsätze erfolgten im August achtzehn Nächte lang.

Wie man auf einen Versuch, sich selbst zu befreien, anders reagieren kann, bewies der Aufstand in Paris, der am 19. August begann. Es war eine recht spontane Aktion. Die westlichen Alliierten waren nicht benachrichtigt worden. Sie hatten ursprünglich die Absicht, bei ihrem Vormarsch die französische Metropole zu umgehen. Doch als bekannt wurde, dass die Pariser selber aktiv geworden waren, veränderten vor allem die Amerikaner ihre Pläne und marschierten auf Paris zu. Am 29. August feierten Dwight D. Eisenhower, sein britischer Stellvertreter Arthur William Tedder, Oberbefehlshaber sämtlicher alliierter Luftstreitkräfte im Mittelmeerraum, und Charles de Gaulle den Sieg am Triumphbogen in Paris.

Stalin ließ dagegen die Einheiten an der Weichsel, in Praga, haltmachen. Sie hatten in aller Ruhe zuzuschauen, wie der Aufstand niedergeschlagen und die Innenstadt anschließend dem Erdboden gleichgemacht wurde. Wir wissen heute, dass Shukow und Rokossowski zuvor die Absicht hatten, bis Warschau vorzudringen.12

Mit der Bekämpfung der AK durch die Rote Armee und vor allem durch den NKWD war Polen ein neuer Feind erwachsen: die Sowjets, die wie Besatzer auftraten, und deren Helfer, die polnischen Kommunisten. Beide wurden von Teilen der AK und verschiedenen Widerstandsvereinigungen mit der Waffe in der Hand bekämpft. Es war ein ungleicher Kampf. Hinzu kam, dass die Angehörigen der Heimatarmee, die wieder in den Untergrund gegangen waren, keine klaren Anweisungen von oben bekamen, so dass sich die ehemalige antideutsche Front nicht in eine reguläre antisowjetische verwandeln konnte. Es bildeten sich lediglich verschiedenste Formen der Verteidigung gegen den Terror des NKWD heraus. Dennoch war der nationalpolnische bewaffnete Widerstand erst Anfang 1947 gebrochen. Die Führung der Heimatarmee saß bereits seit dem März 1945 im Moskauer Gefängnis, d.h. auf fremdem Boden! Es handelte sich um 16 Personen, die auf hinterlistige Weise verhaftet und sofort in die Lubjanka transportiert worden waren. Ihr Prozess fand in Moskau in der zweiten Junihälfte statt. Die sowjetischen Machthaber demonstrierten damit, dass sie nicht bereit waren, die in Polen vorgefundene politische Ordnung anzuerkennen. Gleichzeitig verhandelten sie mit einer Delegation aus Lublin (neben den Kommunisten gehörten ihr Stanisław Mikołajczyk, ehemaliger Ministerpräsident der Londoner Exilregierung, und Władysław Kiernik von der Bauernpartei sowie der Sozialist Zygmunt Żuławski an) über die Zusammensetzung der neuen Regierung. Die Verhandlungen wurden am 28. Juni 1945 - nach der Urteilsverkündung gegen die sechzehn - beendet. In der neuen Regierung sollten die Kommunisten siebzehn, die Opposition vier Ministerposten (Landwirtschaft, Verwaltung, Volksbildung, Gesundheitswesen) erhalten.

Schikanen aller Art wurden begleitet von Verhaftungen und Todesstrafen. Władysław Gomułka, der Generalsekretär der Polnischen Arbeiterpartei, erklärte im Juni 1945: „Wir werden alle reaktionären Banditen ohne Skrupel vernichten. Ihr könnt schreien, Blut des polnischen Volkes werde vergossen; dass der NKWD über Polen herrsche, aber das wird uns nicht vom Weg abbringen".13 Tausende von Menschen befanden sich in dieser Zeit in volkspolnischen Gefängnissen. Viele hatten aufgegeben, so mancher war auch zur Gegenseite übergewechselt, deren Informant geworden.14

Kazimierz Moczarski, der im Informationsbüro der AK (zusammen mit bekannten Intellektuellen und dem damals noch jungen Władysław Bartoszewski) seit spätestens 1942 tätig war und darüber hinaus einer Abteilung für die Verfolgung von Kollaborateuren angehörte (im April 1944 wurde er Leiter einer entsprechenden Abteilung), wurde am 11. August 1945 von der polnischen Geheimpolizei auf Weisung des NKWD verhaftet.15 Die Anklage warf ihm wider besseres Wissen Kollaboration mit den Nazis, Mord an polnischen Widerstandskämpfern, Verrat an seinem Volk und Agententätigkeit für die Gestapo vor. Er wurde mehrfach gefoltert und am Ende zum Tode verurteilt. Besonders perfide war, dass er eine Zeitlang (vom 2. März bis 11. November 1949) mit dem an Polen ausgelieferten SS-Brigadeführer Jürgen Stroop, dem Chef der Vernichtungsaktion des Warschauer Ghettos, in eine Zelle gesperrt wurde. Das Todesurteil an Moczarski wurde allerdings nicht vollstreckt. 1956 kam er frei. Er schrieb seine Gespräche mit Stroop auf, die Anfang der 1970er Jahre in der Monatsschrift „Odra" erschienen. Die Buchveröffentlichung „Gespräche mit dem Henker" erlebte er nicht mehr. 1993 erschien endlich eine unzensierte Ausgabe in Polen. Die deutsche liegt seit 1978 mit einem Vorwort von Andrzej Szczypiorski vor. Moczarski zeichnete sich durch eine unerhörte Erinnerungsgabe aus. Das Ganze ist ebenfalls eine deutsch-sowjetische Geschichte, wie makaber dies auch klingen mag.

Die Sowjetunion behandelte die anderen Völker Ostmitteleuropas (um nur diese und nicht auch die kaukasischen zu nennen) nicht viel anders. Und sie kehrte zu den Grenzen zurück, die sie 1939 mit Hitler ausgehandelt hatte. Um den Schein zu wahren, wurden die Ukrainische SSR und die Belorussische SSR als relativ selbstständige Republiken anerkannt, sie bekamen sogar einen eigenen Sitz in der UNO, was Moskau nur recht sein konnte. Die Minderheitenfrage wurden durch einen „ethnischen Bevölkerungstransfer" gelöst, d.h. die Polen im östlichen Teil der Zweiten Polnischen Republik wurden gen Westen abgeschoben, die Ukrainer, die im Osten des heutigen Polen lebten, hatten sich innerhalb kürzester Frist in die Sowjet-ukraine zu begeben. Der überwiegende Teil der polnischen Bevölkerung begrüßte diesen Schritt; sie lebten noch in einem Rachegefühl angesichts der blutigen Auseinandersetzungen in Wolhynien 1943, bei denen fünfzig- bis sechzigtausend Polen ums Leben kamen.16 Die Zahl der getöteten Ukrainer beträgt etwa zehntausend. Da hierüber nie eine offene Diskussion geführt worden ist, belasten diese furchtbaren Geschehnisse die Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine immer wieder. Andererseits ist es Polen, das als EU-Staat die Unabhängigkeit der Ukraine am stärksten unterstützt. Eine Garantie dafür wäre deren größtmögliche Annäherung an den Westen. Gleichzeitig tut Moskau alles unter den gegebenen Umständen nur Erdenkliche, um die Ukraine als Einflussgebiet zu behalten.

Deutschland möchte sich aus den hier von mir vorgestellten Konflikten am liebsten heraushalten, aber dazu ist es zu groß und zu wichtig für das europäische Gleichgewicht. Hinzu kommt, dass die Ukraine verglichen mit Russland ein überaus demokratisches Gebilde ist. Das sah man bei den letzten Wahlen, bei denen es keineswegs ausgemacht war, welche Partei siegen wird. In der Ukraine gibt es keinen Putin, der bestimmt, wie es weitergehen wird. Wer an allgemeinen demokratischen Strukturen in Europa interessiert ist, muss einfach die Ukraine unterstützen, auch wenn die Wirtschaft, insbesondere die deutsche, dadurch gewisse Einbußen erleiden sollte. Im Endeffekt können diese so groß nicht sein, denn in demokratischen Staaten kann es zu keinen radikalen Lösungen - etwa zu Enteignungen - von einem Tag auf den anderen kommen.

Ganz Ostmitteleuropa (wie auch Georgien) ist im Prinzip an einer Westbindung interessiert (der lange Weg nach dem Westen, um Winklers Titel zu paraphrasieren,  sollte nicht nur auf Deutschland bezogen sein), wobei sich die größten Erwartungen auf Deutschland konzentrieren. Um so leidvoller werden solche Gesten wahrgenommen wie die von Gerhard Schröder gegenüber Wladimir Putin, der offensichtlich nie einen Gedanken daran verlor, dass Russland und Deutschland schon lange keine gemeinsamen Grenzen mehr haben.

Im nächsten Jahr wird der siebzigste Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs begangen. Schon jetzt ist vorauszusehen, dass man sich an die fatale Rolle der Sowjetunion wird erinnern müssen, denn am 23. August 1939 schlossen Molotow und Ribbentropp ihren Freundschaftsvertrag, ohne den es zu diesem Zeitpunkt sicherlich nicht zum deutschen Überfall auf Polen und die anschließende Kriegserklärung Englands und Frankreichs gekommen wäre. Schon heute frage ich mich, wie die Reden und Gesten aussehen werden.

Die Aussöhnung mit Polen ist nach allem Gesagten komplizierter als die mit Frankreich, denn sie verlangt von den deutschen Partnern eine gute Kenntnis osteuropäischer Geschichte, zumindest der seit zweihundert Jahren ungesicherten Existenz Polens.

 

Anmerkungen

1           Zur Frage der „Kriegsschuld" in Verbindung mit der Emser Depesche siehe Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933, Bonn 2002, S. 202f.

2           So etwa Winkler, ebd., S. 358.

3           Karl Kautsky nannte das Vorgehen der Roten Armee in seiner 1921 verfassten Schrift „Georgien: Eine sozialdemokratische Bauernrepublik. Eindrücke und Beobachtungen" ,Moskauer Bonapartismus‘.

4           Dan Diner: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999, S. 105.

5           Ebd., S.106.

6           Winkler [Anm. 1], S. 423.

7           Sebastian Haffner: Von Bismarck zu Hitler. Ein Rückblick, München 1987, S. 191.

8           Unter den Ermordeten befanden sich 300 erstklassige Ärzte (darunter die damals führenden Chirurgen Polens), 21 Universitätsdozenten bzw. -professoren, bekannte Journalisten und auch Industrielle. Fünf Prozent der Internierten waren jüdischer Herkunft. Siehe Allen Paul: Katyń. Stalinowska masakra i tryumf prawdy (engl. Originaltitel: Katyn. Stalin's Massacre and the Seels of Polish Russerection), Warszawa 2003, S. 97.

9           Am 26.09.1943 schrieb er in seinem Tagebuch, welches er in Paris zu dieser Zeit führte: Es werde immer wärmer und wärmer, denn die Rote Armee nähere sich immer mehr dem polnischen Gebiet (wobei er an die Grenzen von Vorkriegspolen denkt), und er kommentiert: „in Kürze werden sie uns ,befreien‘", um hinzuzufügen: „und sie befreien uns für die nächsten fünfzig Jahre". Es sollten nur fünf Jahre weniger werden. Siehe Andrzej Bobkowski: Szkice piórkiem (Francja 1940-1944). Część pierwsza [Mit der Feder geschriebene Skizzen (Frankreich 1940-1944]. Teil 1, London 1985, S. 335.

10          Siehe hierzu auch die Berichte von Berjia an Stalin, in: Teczka specjalna J.W. Stalina. Raporty NKWD z Polski 1944-1946 [J.W. Stalins Spezialakte. Berichte des NKWD aus Polen 1944-1946], Warszawa 1998, S. 36-44.

11          Vgl. Protokoły posiedzeń Biura Politycznego KC PZPR 1944-1945. Dokumenty do dziejów PRL [Protokolle der Sitzungen des Politbüros des ZK der PVAP 1944-1945. Dokumente zur Geschichte der Volksrepublik Polen], H. 2, Warszawa 1992, S. 28.

12          Vgl. zu all den Fakten: Norman Davies: Powstanie '44 [Der Aufstand '44], Kraków 2004.

13          Władysław Gomułka: Artykuły i przemówienia [Artikel und Reden], Bd. 1, Warszawa 1962, S. 296.

14          Über die Rolle der Informanten bei der Bekämpfung der polnischen Heimatarmee (AK) im ehemaligen Ostpolen durch den NKWD siehe u.a. Andrzej Chmielacz: Likwidacja podziemia polskiego na Nowogródczyźnie i Wileńszczyźnie (lipiec 1944 - lipiec 1945) [Die Liquidierung des polnischen Untergrunds im Gebiet von Nowogródek und Wilna (Juli 1944 - Juli 1945)], in: Z dziejów Armii Krajowej na Nowogródczyźnie i Wileńszczyźnie. Studia (1941-1944) [Zur Geschichte der Heimatarmee im Gebiet von Nowogródek und Wilna. Studien (1941-1944)], Warszawa 1997, S. 188-194.

15          Siehe hierzu das Vorwort von Andrzej Krzysztof Kunert zu Kazimierz Moczarski: Zapiski [Aufzeichnungen], Warszawa 1990, S. 24-29.

16          Am 11. Juli 1943 griffen Verbände der UPA (Ukrainische Aufständische Armee) gleichzeitig mehr als 150 polnische Dörfer und Siedlungen in Wolhynien an. In den darauf folgenden Tagen wurden etwa elftausend polnische Bewohner mit oft furchtbarer Bestialität ermordet. Es gibt auch Hochrechnungen, wonach 1943 und 1944 bis zu 150.000 polnische Bewohner den ukrainischen Massakern in Wohlynien zum Opfer gefallen sind. Nach ukrainischer Zählung wurden fünfhundert, nach polnischen Schätzungen mehr als 1.150 polnische Dörfer zerstört. Sie verschwanden für immer von der Landkarte. Als Hintergrundinformation zu der Frage, wie die polnisch-ukrainischen Beziehungen in diesem Teil der Zweiten Republik Polen aussahen, vgl. Cornelia Schenke: Nationalstaat und nationale Frage. Polen und die Ukrainer in Wolhynien (1921-1939) (= Hamburger Veröffentlichungen zur Geschichte Mittel- und Osteuropas, Bd. 12), Hamburg, München 2004.

 

Prof. Dr. Karol Sauerland, Germanist und Literaturwissenschaftler, Universität Warschau

 

aus: Berliner Debatte INITIAL 19 (2008) 6, S. 15-22