Wir nennen es linken Neoliberalismus

Ein kritischer Blick auf die digitale Bohème

Seit einiger Zeit geistert eine Spezies durch die Feuilletons, die als neue Avantgarde der Arbeitsgesellschaft gilt: die digitale Bohème. In dem 2006 erschienen Buch „Wir nennen es Arbeit“ porträtieren Holm Friebe und Sascha Lobo jene Menschen, die mit ihrem Laptop als einzigem Produktionsmittel in den Cafés sitzen. Sie wollen so arbeiten, wie sie leben – ohne Wecker, ohne Hierarchien und Vorschriften. Ihr Ziel ist ein selbstbestimmtes Leben jenseits des „erstarrenden Systems der festangestellten Erwerbsarbeit, die uns neben der Massenarbeitslosigkeit auch eine Massenunzufriedenheit beschert hat“. Das Internet, insbesondere das Web 2.0, ermöglicht die Arbeit an gemeinsamen Projekten und die Bildung virtueller Gemeinschaften.

Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung sind die Schlagworte, mit denen Friebe und Lobo die Arbeits- und Lebensweise der digitalen Bohème beschreiben. Das klingt verlockend, bleibt aber vage. Wer sich dem „kollektiven Wahnsystem“ Unternehmen entzieht, muss sich zwar weder unsinnigen Ritualen und Anordnungen unterwerfen noch sich devot an unfähigen Vorgesetzten orientieren oder seine elektronische Post überwachen lassen. Allerdings hat das „selbstbestimmte“ Arbeiten auch seine Ambivalenzen. Wer dieses Leben führt, muss sich stets selbst disziplinieren und hat im Gegensatz zum „seelenlosen“ Festangestellten statt eines dreizehnten Monatsgehaltes und durchschnittlichen 29,1 Urlaubstagen häufig existenzielle Sorgen und einen 24/7Bereitschaftsdienst. Friebe und Holm kennen diese Ambivalenzen, schlagen aber vor, sich von diesen frei zu machen. Wie das ohne (familiäre) Grundsicherung gehen soll, wird nicht beschrieben. Stattdessen mutiert ihr Buch zu einer Festschrift für die Selbständigkeit als letztem Retter des freien Marktes.

Gerne wird den Autoren – wie in der FAZ – einfach nur Naivität vorgeworfen, weil „ohne die Leute im Büro, ohne die Leute mit den festen Arbeitszeiten die Bohemiens von dem Zweig plumpsen [würden], den die beiden Autoren grün anmalen“ (FAZ v. 8.12.06). Diese auch in linken Kreisen gängige Kritik greift zu kurz und verkennt die Brisanz des Buches.
Das eigentliche Anliegen wurde auf dem von den Autoren mitorganisierten Kongress „9to5. Wir nennen es Arbeit“ deutlich, der im August 2007 in Berlin stattfand. „Was wäre ein linker Neoliberalismus?“ war der Titel einer Podiumsdiskussion, der genauso gut auch der Untertitel des Buches hätte sein können. Neben Friebe diskutierten Mercedes Bunz (Mitgründerin De:Bug) und Christian Rickens (Manager-Magazin) über die Frage, wie das richtige Leben im Neoliberalismus möglich ist.

Hier zeigt sich, dass der Neoliberalismus für Friebe und Lobo bereits feststehendes Naturgesetz ist. Nicht mehr Kritik und Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung, sondern die „berechtigte Sorge“ um den Diebstahl ihres geistigen Eigentums durch die Konzerne, für die sie arbeiten, treibt die digitale Bohème um. Bunz bringt das in ihrem Eingangsreferat auf den Punkt: „Wir leben in einer Ordnung, in der alles nach dem Modell des Unternehmens durchorganisiert worden ist. Natürlich kann man sich dagegen sperren, aber ich würde sagen: Zu spät. Wir sind schon drinnen. […] Nun geht es deshalb darum, alles was hier drinnen ist, ordentlich durcheinander zu bringen. Vielleicht ein paar Sachen anders machen.“

Der Redakteur des Manager-Magazins benennt die Schnittmenge zwischen Neoliberalismus und der Linken konkret: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Es geht also nicht in erster Linie um Ordnungsbegriffe wie Familie, Religion, Nation, Werte, Kultur. Neoliberale wie Linke sollten sich allen Versuchen entgegenstellen, gesellschaftliche Konflikte anhand solcher klassisch-konservativen Begriffe umzudeuten.“ Das sehen auch Friebe und Lobo so: die digitale Bohème könne mit „neokonservativen Positionen, die das Heil in der Nation und der Kleinfamilie suchen, genauso wenig anfangen wie mit dem linken Spießertum in den Gewerkschaften.“

Auch wenn die digitale Bohème den Gegner mit den Neoliberalen teilt, ist sie nicht einfach neoliberal à la Westerwelle. Sie ist tatsächlich links, weil sie es ernst meint mit der Selbstbestimmung. Und sie ist neoliberal, weil sie kollektive Formen gesellschaftlicher Regulierung weder für wünschenswert noch für möglich hält. Übrig bleibt die verklärte Annahme, dass der Markt mehr Selbstbestimmung ermögliche als die Festanstellung. Dem entspricht auch Friebes und Lobos politische Einschätzung der digitalen Bohemiens: über diese lasse sich wenig aussagen, „außer, dass sie aus ästhetischen Gründen nicht FDP wählen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.