Lehren und Lernen unter neuen Bedingungen?

Ein soziologischer Kommentar

in (21.07.2009)

Die Universitätslandschaft hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Wie sind die aktuellen Veränderungen gesellschaftstheoretisch einzuordnen? Was kann eine soziologische Perspektive dazu sagen?

Als Resultat europäischer Universitätsreformen wie der Bologna-Erklärung vom 19.06.1999, Neujustierungen der nationalen Wissenschaftspolitik, wie der Änderung des Hochschulrahmengesetzes am 26.01.2005 sowie den Exzellenzinitiativen und Eliteprogrammen von Bund, Wissenschaftsrat und Deutscher Forschungsgemeinschaft haben sich die Rahmenbedingungen universitären Forschens, Lehrens und Lernens erheblich verändert. Verfechterinnen und Verfechter einer „alteuropäischen" Ordinarienuniversität tun sich nun schwerer damit, die bundesrepublikanische Wissenschaftslandschaft zu loben, selbiges gilt für jene, die einen kostenlosen Zugang aller zu Bildungschancen fordern.

Im Rahmen der verschiedenen oben genannten Initiativen wurden erhebliche Landes- und Bundesmittel bereitgestellt, die an den neuen „Eliteuniversitäten" die Einrichtung von Exzellenzclustern und Gastprofessuren ermöglichen. Die Studiengebühren werden teilweise zur Verbesserung der universitären Lehre genutzt. Gleichzeitig werden durch die Einführung von Studiengebühren jedoch Studierende „erzeugt", die weniger Zeit haben, ein ausgebautes Angebot zu nutzen, da sie aus finanziellen Gründen nur noch im „Nebenjob" Studentin oder Student sind. Die zeitliche Einschränkung der BA-Studiengänge[1] ermöglicht nur jenen ein „Studium Generale", die sich voll auf das Lernen konzentrieren können. Auch die neuen ECTS-Noten[2] verändern den Studienalltag der Studierenden, da ECTS „relative" Noten vor „absoluten" Noten präferiert und ein „Ranking" der Studierenden zueinander vornimmt. In vielen BA-Studiengängen gilt zudem das Prinzip des „Examens vom ersten Tag an", wodurch der Notendruck auf Studierende exorbitant steigt und über das ganze Studium konstant gehalten wird.

Die Asymmetrie Lehrender und Lernender

Ungleich einer politischen Herangehensweise, welche im Rückgriff auf Werte eine politische Position zu einem Sachverhalt einnimmt, liegt die Stärke einer soziologischen Perspektive darin, über gesellschaftliche Kommunikationen, Formen, Strukturen und Funktionszusammenhänge zu informieren. Und im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Professionen befinden sich Soziologinnen und Soziologen immer schon „mitten drin" in ihrem Gegenstand, der Gesellschaft, die sie untersuchen möchten.

Bei soziologischer Betrachung von Lehrenden und Lernenden in Bildungsorganisationen fällt zunächst auf, dass dieses Verhältnis sich durch eine grundsätzliche Asymmetrie auszeichnet. Die einen haben bereits einen Bildungsabschluss erlangt, um den sich die anderen noch bemühen. Die einen vergeben Scheine, die anderen erwerben diese, indem sie spezifische Anforderungen erfüllen, usw. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit dieser Beobachtung (soziologisch) umzugehen: Zum einen können die Effekte dieses (Macht-) Verhältnisses, beispielsweise im Hinblick auf Exklusionseffekte, kritisch diskutiert werden. Eine zunächst wertfreie soziologische Beobachtung interessiert sich jedoch stärker für die Frage, welche gesellschaftliche Funktion diese Asymmetrie erfüllt. Die Kritik würde also in die Zukunft verschoben, das Interesse für den „empirischen Fall" (hier: die Konsequenzen der jüngsten Universitätsreformen) in den Vordergrund treten.

Rollenunterschiede liegen jeder gesellschaftlich institutionalisierten Vermittlung von Wissen und Können zugrunde. Der „Erzieher", so der Soziologe Niklas Luhmann, versucht, „Wissen und Können an jemanden zu vermitteln, der noch nicht darüber verfügt."[3] Da sich Erziehung als „gute Absicht" vollzieht, ist ein Ausschließen jener, die sich nicht erfolgreich erziehen lassen, wie auch das Unterscheiden zwischen unterschiedlichen Leistungsniveaus der Erzogenen, systemimmanent.[4] Bei der Universität handelt es sich also um einen gesellschaftlichen Ort, an welchem Entscheidungen über Bildungskarrieren getroffen werden.

Im Gegensatz zu Schulen findet jedoch an Universitäten nicht nur Erziehung, sondern vor allem Wissenschaft statt - und dies wirkt sich auch auf die Praxis der universitären Lehre aus. An Universitäten häufen Studierende nicht nur Wissen an. Sie lernen auch, wie kontingent, also wie zufällig Wissenserwerb von statten gehen kann. Die Möglichkeit (oder der Zwang) die eigenen Interessen zu steuern, Vertiefungsgebiete zu wählen und komplexe Sachverhalte über einen längeren Zeitraum zu bearbeiten, vermitteln vor allem Kompetenzen im Umgang mit „Nicht-Wissen".

Die Reform

Was macht eine Reform aus? Niklas Luhmann bemerkt zur sozialen Dynamik dieses Gegenstands: „So verständlich die Genetik des Reformbegehrens ist, so wenig ergibt sich daraus allein schon eine Prognose des Erfolgs. (...) Beobachtet man das jeweils reformierte System, hat man den Eindruck, daß das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung weiterer Reformen ist."[5] Reformen werden durch die Administration geplant und durchgeführt. Sie streben nach der Neuverhandlung und Neubewertung für Entscheidungsprämissen, nach „dem  Wechsel des Primats bestimmter Wertorientierungen(...)."[6] Was zeichnet nun die oben (holzschnittartig) angesprochenen Reformen aus? Gibt es Hinweise für die Veränderung von Entscheidungsprämissen?

Die Bildungsreformen der 60er und 70er Jahre hatten vor allem zum Ziel, möglichst viele Kinder und Heranwachsende unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Elternhaus auszubilden. Der politisch-pädagogische Diskurs beschäftigte sich vornehmlich mit der Symmetrisierung von Bildungschancen, mit der Vermehrung von Inklusionschancen. Resultat der Reformen der 60er und 70er Jahre waren unter anderem ein Boom pädagogischer Studiengänge, die vermehrte Diskussion didaktischer Mittel wie auch der Einbeziehung der „Belehrten" in die Entscheidungen ihrer Ausbildungsorganisationen (Schülervertretungen, Studierendenausschüsse usw.). Die Ungleichheit von Lehrenden und Lernenden wurden durch Strategien der Symmetrisierung und Beteiligung thematisiert.

Die „Sprache" der aktuellen Reformen ist davon deutlich abgrenzbar. Die jüngsten Reformen bedienen sich zwar auch noch der Semantik sozialer Gerechtigkeit - wer würde schon offen gegen Gerechtigkeit optieren? -, jedoch sind vor allem „Vergleichbarkeit", „Exzellenz", Effizienz im Hinblick auf Ausbildungskosten und eine sichere ökonomische Verwertbarkeit der Bildungsabschlüsse Ziele der Reform. So beobachtet bspw. oben beschriebenes ECTS Studierende wie auch Studienanforderungen durch Rankings und stellt so eine Fiktion der Vergleichbarkeit her. Ökonomische Begriffe und Themen prägen den Diskurs und befördern ein qualitativ neues Leistungsdenken, welches, wie die Praxis der Inanspruchnahme des Begriffes „Exzellenz" zeigt, quasi-religiöse Züge annimmt.

Aber in welchem Verhältnis stehen ökonomische Argumente und wissenschaftliche Argumente? Es steht zu vermuten, dass sich die ökonomische Semantik, welche die aktuellen Reformen auszeichnet, weniger gut mit dem Wissenschaftssystem vertragen, als dies für partizipatorische Formeln der 60er und 70er Jahre galt. Mit alledem soll nicht gesagt sein, dass es in der wissenschaftlichen Praxis bisher nie um Leistung, um die ökonomische Verwertbarkeit von Forschung oder das Bemühen um schnelle Resultate gegangen sei. Der prekäre Moment, welches die letzten Reformen in die Universitätsorganisation einspeisen, besteht vielmehr in einem Zeitkonflikt zwischen der universitären Forschung und einer neuen, verschulten Form der Lehre.

Konsequenzen für Lehrende und Lernende

Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien, das ist seit langem bekannt, nehmen seltener ein Studium auf, als Kinder aus Akademiker-Familien.[7] Die jüngst veröffentlichte Sozialerhebung der Studentenwerke und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zeigt, dass sich dieser Trend durch die Einführung von Studiengebühren verstärkt hat.[8] Erhebungen des deutschen Studentenwerks und der EU-Studienreport geben Anlass zu der Befürchtung, dass der Anteil an Studierenden mit psychischen Erkrankungen (z.B. stressinduzierten Angsterkrankungen, Arbeitsstörungen, Depressionen), ansteigt.[9] Die psychosozialen Beratungsstellen der Universitäten betreuen Studierende, die von hohem Druck und Existenzängsten berichten. Es steht zu vermuten, dass sich diese Entwicklungen nicht nur mit einem erhöhten Individualisierungs- und Kontingenzdruck begründen lassen, wie ihn zum Beispiel der Psychologe Alain Ehrenberg[10] beschreibt, sondern gleichsam aus den veränderten Anforderungen einer Studierendenkarriere resultieren.

Auch auf Seiten des Lehrpersonals steigt der Druck. Ein unbefristeter Arbeitsvertrag ist zumeist erst mit der Professur zu erreichen. Das Bewusstsein für den Stellenwert guter Lehre wird durch die Anforderungen einer Forscherkarriere, in der es darum geht, in Zeitschriften mit besonders gutem Ranking einen Artikel zu veröffentlichen und Drittmittel zu aquirieren, konterkariert. Die Einrichtung von Lecturer-Stellen, also Stellen, deren Inhaberinnen und Inhaber alleine für die Lehre zuständig sind und sich nicht weiterbilden, ist hierbei keine Hilfe, wenn man, wie der Soziologe Armin Nassehi postuliert, annimmt, dass gute Forschung nur das Derivat guter Lehre sein kann, einer Lehre, die sich als Forschung beobachten lässt.[11] Dies, so Nassehi weiter, sei nur möglich, „wenn die Universität „Studierende weder als Schüler noch als Kunden anspricht, sondern als (potentielle) Wissenschaftler".[12]

Abnahme von Freiheitsgraden

Es steht zu vermuten, dass sich die Plausibilitätsbedingungen dessen, was an Universitäten möglich ist, verändert haben. Es handelt sich um die Einschränkung von Freiheitsgraden im Hinblick auf die Ausbildung der Studierenden und den Einzug einer ökonomischen Logik, die über das Erheben von Studiengebühren hinaus geht und sich in den Sprachspielen der Exzellenz- und Eliteuniversitäten täglich aktualisiert. Der Einzug ökonomischer Argumente an Hochschulen ist natürlich nichts vollkommen Neues und es geht dabei nicht nur „ums Geld"! Ökonomische Semantik finden wir an den schwarzen Brettern der Institute, die mit Zeitmanagement- oder Networking-Seminaren für Studierende werben, in Aufforderungen politischer Akteure, das Studium als Berufsausbildung zu betrachten und diese Ausbildung effizient zu gestalten. Dies klingt nicht nur nach wenig Spaß: Es wird auch Konsequenzen dafür haben, wie Studierende und Lehrende in Zukunft miteinander arbeiten.

Zwei negative Konsequenzen können aus dieser Abnahme von Freiheitsgraden resultieren: Erstens steht zu befürchten, dass Forschung und Lehre im Alltag der Universität weiter auseinanderstreben. Eine verschulte und möglichst schnelle Ausbildung verträgt sich nur schwerlich mit der Zeitperspektive „exzellenter" Forschung. Diese ist auf Langsamkeit und Unterbrechungen angewiesen, welche mitzuvollziehen Studierende zukünftig weniger Zeit und Gelegenheit haben werden. Wenn man Armin Nassehi folgt, wird dies Folgen für Anschaulichkeit und Qualität der Lehre zeitigen.[13] Wie kann sich unter verschulten Bedingungen die sinnvolle Illusion halten lassen, es mit Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern zu tun zu haben? Wie soll eine (effektive!) Arbeitsbeziehung möglich sein, wenn die Studierenden nur kurze Zeit im Blickfeld der Lehrenden auftauchen? Weiterhin gehen mit den BA-Studiengängen genaue Lehrpläne im Sinne des ECTS einher, in welche sich viele interessante Forschungsinhalte nur schwerlich einordnen lassen. Das kann zur Folge haben, dass Forschende sich demotiviert aus der Lehre zurückziehen.

Und auch im Hinblick auf die Praxis des Universitätsseminars stellen sich neue Fragen: Ist es unter den Bedingungen eines dreijährigen Studiums, welches sich als Berufsausbildung - im Gegensatz zur wissenschaftlichen Ausbildung - versteht, sinnvoll, komplexen Stoff zu unterrichten? Um den Studierenden einen Eindruck von der Forschung an ihrem Institut zu vermitteln, wäre dies nötig. Und ist es, angesichts des Drucks, der auf der aktuellen Studierendengeneration lastet überhaupt zumutbar, ist es fair, sie mit Texten zu „belasten", für die im Idealfall ein mehrjähriges Studium ohne den Druck einer Benotung der „Lernphase" dienlich wären? Diese Fragen ergeben sich gleichsam automatisch aus der Logik, welche die aktuellen Reformen in die Universität einspeisen.

Wissenschaft als Beruf?[14]

Der Eigenlogik der meisten BA-Studiengänge entspricht es zweitens, die wissenschaftliche Ausbildung, welche über Grundlagenwissen eines Faches hinausgeht, in den Master zu verlegen. Die Masterstudiengänge werden aber voraussichtlich nur einem Teil der BA-Studierenden Zugang gewähren, jenen, welche die besten Noten erlangt haben. Die Frage, wie der in der Diskussion so viel beachtete Arbeitsmarkt auf den „Rest", reagieren wird, steht offen.

Zu Beginn dieses Artikels wurde betont, dass Studierende an Universitäten nicht nur Wissen ansammeln, sondern vor allem lernen, mit Nicht-Wissen umzugehen. Sie erwerben Techniken, um komplexe Probleme selbständig zu bearbeiten. Das ist eine Fähigkeit, die Absolventinnen und Absolventen für den Arbeitsmarkt interessant macht. In der Konsequenz bestände das „Worst-Case-Resultat" der aktuellen Reformen im Hinblick auf die Arbeitsmarktchancen von Studierenden darin, dass der „verschulte" BA diese Techniken nicht ausreichend vermitteln kann und die Absolventinnen und Absolventen mit ihrer „Berufsausbildung" gelinde gesagt, auf der Straßen stehen werden.

Jasmin Siri ist Soziologin, lebt und promoviert in München. Seit 2006 unterrichtet sie Studierende der Soziologie an der LMU, momentan auch die erste Kohorte des BA-Studienganges Soziologie.

 

 

Literatur

Bourdieu, Pierre u.a., Die Erben: Studenten, Bildung und Kultur, 2007.

Euro Student Report 1997/2007, www.eurostudent.eu (13.12.2008).

Ehrenberg, Alain, Das erschöpfte Selbst, 2004.

Isserstedt, Wolfgang u.a., 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System, 2006.

Luhmann, Niklas, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, 2002.

Nassehi, Armin, Eine bayerische Katastrophe. Über Stoibers ruinöse Bildungspolitik, SZ vom 18.11.2003.

Nassehi, Armin, Die Universität - ein Forscherparadies? Die Einheit von Forschung und Lehre und das historische Selbstmißverständnis eines beliebten Arguments, Forschung und Lehre 8/2005, 1 ff.

Arbeiterkind.de (widmet sich dem Abbau von Herkunftsschranken an Universitäten)

[1] Bachelor of Arts.

[2] ECTS (European Credit Transfer System) soll die Vergleichbarkeit der Studienleistung innerhalb Europas sicherstellen und „misst" den Arbeitsaufwand, den Studierende in einem Seminar erbringen.

 3] Luhmann 2002, 59.

[4] Ebda., 62 ff.

[5] Ebda., 166.

[6] Ebda.

[7] Mit der sozialen Wirkung der Herkunft Studierender beschäftigen sich ausführlich Bourdieu u.a. 2007.

[8] Euro Student Report 1997/2007; Isserstedt u.a. 2006.

[9] Euro Student Report 2007.

[10] Ehrenberg 2004.

[11] Nassehi 2005, 2.

[12] Ebda., 3.

[13] Nassehi 2005.

[14] Vgl. gleichnamigen Vortrag Max Webers, welcher bereits 1922 die Kluft zwischen „althistorischer Ordinarienuniversität" und „kapitalistischem Universitätsunternehmen" beschreibt.