Routinierter Stadtguerillero tritt gegen neoliberalen Dinosaurier an
Die Präsidentschaftswahlen im Oktober stellen für Uruguay eine klare Richtungsentscheidung dar: Gegenüber stehen sich Luis Alberto Lacalle und José Mujica – ein neoliberaler ehemaliger Staatspräsident und einer der Gründer der Stadtguerilla Tupamaros. Die Vorwahlen vom 28. Juni haben die Alternativen deutlich gemacht: Mit Mujica vorwärts mit Reformen und ein bisschen 1960er-Jahre-Gefühl oder mit dem Neoliberalen Luis Alberto Lacalle zurück in die Zukunft mit den Rezepten der 1990er.
Seit 1998 sind in Lateinamerika in mindestens zehn verschiedenen Ländern linksgerichtete Regierungen gewählt worden (Venezuela, Brasilien, Chile, Argentinien, Bolivien, Ecuador, Uruguay, Paraguay, Nicaragua, El Salvador). Mal mehr, mal weniger links, immer aber wurden explizit rechte Regierungen abgewählt. Ein ehemaliger Metallarbeiter in Brasilien, ein Aymara-Indígena in Bolivien, ein ehemaliger Militär in Venezuela, eine im Exil politisierte Kinderärztin in Chile, ein Befreiungstheologe und laizierter Bischof in Paraguay, ein keynesianischer Ökonom in Ecuador, ein Onkologe in Uruguay, ein Fernsehjournalist in El Salvador: Nachdem über Jahrzehnte in vielen Ländern die sprichwörtlichen Caudillos und Vertreter urbaner konservativer Eliten mit ihren rechten beziehungsweise Mitte-Rechts-Parteien die Politik dominierten, ist das politische, soziale und professionelle Profil der Personen ebenso neu und ausdifferenziert, wie das politische Spektrum der Parteien und Bewegungen in Lateinamerika heute.
Aber ist der Linksrutsch vorbei, bevor sich in einigen Ländern
tatsächlich strukturelle Veränderungen durchgesetzt haben? Kommt jetzt
wieder die rechte Welle? Oder polarisiert sich der Subkontinent in zwei
klare Blöcke mit einem mächtigen Brasilien als Regionalmacht irgendwo
dazwischen? In Argentinien sieht es so aus, als ob die Uhr für die
Kirchners abläuft, in Panama wurde im Mai 2009 ein rechter Millionär
zum Präsidenten gewählt, in Chile, wo im Dezember 2009 Wahlen anstehen,
stehen die Chancen für das Mitte-Rechts-Bündnis gut und eine Prognose
für die Zeit in Brasilien nach Dezember 2010, die Post-Lula-Ära, traut
sich heute kaum jemand zu.
In Uruguay ist diese Polarisierung seit den Vorwahlen vom dem 28. Juni
offiziell. Mit dem 75-jährigen José „Pepe“ Mujica und „Cuqui“, dem
67-jährigen Luis Alberto Lacalle, stehen sich zwei Personen mit völlig
unterschiedlichen politischen Konzepten und Biografien gegenüber. Der
ehemalige Tupamaro Mujica, der insgesamt 14 Jahre seines Lebens im
Kerker verbrachte, ist Senator und Anführer der Bewegung für die
Beteiligung des Volkes (MPP). Der ungelernte Blumenzüchter, der eine
direkte und mitunter auch „blumige“ Sprache spricht und der besonders
bei den einfachen Leuten sehr beliebt ist, sitzt seit 1995 im
Parlament. Auf der anderen Seite tritt mit dem konservativen Lacalle
ein Vertreter jener Klasse an, die seit der Staatsgründung im Jahr 1828
die Politik in Uruguay bestimmt hat. Während seiner Präsidentschaft von
1990 bis 1995 stand er für eine neoliberale Privatisierungspolitik. Die
wurde allerdings in seinem „eigenartigen Land“, wie der am 17. Mai
diesen Jahres verstorbene uruguayische Dichter Mario Benedetti es in
einem Artikel vom 30. November 1994 für die spanische El Pais nannte,
vom Volk gestoppt: „ ... 1992, als die ganze westliche Welt von einer
Privatisierungswelle erfasst wurde und Präsident Lacalle bereit war,
den internationalen Entscheidungen mit Freude nachzugeben, vernichtete
eine weitere Volksabstimmung überlegen diese Privatisierungsgebärden.“
Trotzdem steht die Regierungszeit von Lacalle für unzählige
Korruptionsfälle (vor allem bei der Privatisierung von staatlichen
Banken), mehrere Mitglieder seiner Regierung sowie verschiedene seiner
Geschäftspartner wurden angeklagt. Der Jurist Lacalle selbst
vergrößerte sein privates Geldvermögen und seinen Landbesitz während
seiner Regierungszeit um ein Vielfaches. Mit Bankenskandalen kennt sich
Lacalle also aus, vielleicht ist gerade das in Zeiten der Krise, die
mit einigen Monaten Verspätung auch in Uruguay angekommen ist, mit ein
Grund dafür, dass er den Vorwahlkampf seiner Partei für sich entschied.
Eigentlich ist es schwer vorstellbar, dass nach all diesen Erfahrungen
eine Mehrheit der UruguayerInnen Lacalle wieder wählt. Aber in Italien
regiert auch wieder Berlusconi und in Buenos Aires wurde Ende 2007 der
rechte Unternehmer Mauricio Macri zum Bürgermeister gewählt, insofern
ist auch in Uruguay gar nichts auszuschließen. So konkurrieren mit
Mujica und Lacalle zwei sehr unterschiedliche Kandidaten darum, nach
einem Wahlsieg im Oktober am 1. März 2010 die Nachfolge des amtierenden
Mitte-Links-Präsidenten Tabaré Vázquez anzutreten, der laut Verfassung
nicht wiedergewählt werden kann.
Einen ersten Fingerzeig, wohin die Reise geht, lieferten die Vorwahlen
am 28. Juni. Diese dienen in erster Linie dazu, die parteiinternen
PräsidentschaftskandidtInnen zu ermitteln, geben aber auch gleichzeitig
einen Hinweis auf die Kräftekonstellationen zwischen den Parteien.
Allerdings nur einen verzerrten, denn im Gegensatz zu den „richtigen“
Wahlen gibt es keinen Wahlzwang und somit auch eine wesentlich
niedrigere Wahlbeteiligung. Bei diesen stimmten 41 Prozent der
WählerInnen für die Kandidaten des seit März 2005 regierenden
Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio (Breite Front). Innerhalb des
Bündnisses konnte sich Mujica mit 59 Prozent deutlich gegen den
wirtschaftsliberalen Danilo Astori, bis August 2008 Wirtschafts- und
Finanzminister, durchsetzen. Überraschend konnte Mujica schon zwei Tage
nach der Wahl den Unterlegenen zur Kandidatur für die
Vizepräsidentschaft überreden. Welche Kompromisse er eingehen, welche
„Kröten“ er schlucken muss, wie er das selbst nennt, um die
Mittelschicht in Land, die nicht für ihn stimmte, zu gewinnen, wird
noch verhandelt. Ohne personelle und programmatische Zugeständnisse
wird es nicht gehen. Denn obwohl Mujica fast gebetsmühlenartig immer
und immer wieder die Einheit der Frente Amplio beschwört, tun sich doch
zwischen den Positionen des Astori-Blocks und Mujicas MPP, den
Kommunisten und anderen linken kleineren Parteien innerhalb der Frente
Amplio tiefe Gräben auf. Die radikalen linken Parteien und Bewegungen
Uruguays sind ohnehin fast alle bereits während der Regierungszeit von
Vázquez aus der Frente Amplio ausgetreten, der sie teilweise seit deren
Gründung im Jahr 1971 angehörten. Die gemäßigten Linken, die in der
Frente Amplio die Mehrheit stellen, sympathisieren mit Chávez, Morales
und natürlich der Kubanischen Revolution, wollen die ausländischen
Direktinvestitionen im Land an Bedingungen knüpfen und die Abhängigkeit
von den internationalen Finanzinstitutionen verringern. Zudem soll
wieder eine staatliche Fleischindustrie aufgebaut werden, nachdem in
den letzten Jahren die wichtigen Industriezweige komplett in die Hände
ausländischer, vor allem brasilianischer und argentinischer Unternehmen
fielen. Astori will das alles nicht, sieht vielmehr im weiteren Öffnen
der Märkte und in ausländischen Investitionen die Zukunft für Uruguay,
ist US-freundlich und kritisch gegenüber dem Gemeinsamen
Südamerikanischen Markt Mercosur orientiert.
Das Schachern um politische Schlüsselpositionen, vor allem im
Wirtschafts- und Finanzbereich, den der Astori-Sektor als eine Art
Erbhof betrachtet, ist jetzt voll im Gange. Nach einem Jahr
gegenseitiger Blockade, in dem es in einem personalisierten
Vorwahlkampf fast ausschließlich nur um Mujica oder Astori ging, haben
nicht wenige Sektoren der Frente Amplio aber jetzt genug davon: „Wir
wollen eine Politik der Frente Amplio, nicht eine von Mujica und
Astori“, so ein Mitglied der MPP. Tatsächlich hat „Pepe“ nur mit der
Unterstützung Astoris gute Chancen, Präsident zu werden. Allerdings
darf er die linken Basiskomitees der Frente nicht weiter verprellen,
von denen viele nach der Regierungszeit des populären, aber wegen
seiner autoritären Entscheidungen auch in der Frente selbst
umstrittenen Präsidenten Vázquez enttäuscht sind. Die blieben nämlich
in unerwartet großer Zahl bei den Vorwahlen zu Hause und sorgten so
dafür, dass Lacalles Nationalpartei mit 46 Prozent besser als die
Frente abschnitt, die eigentlich mit ihren hunderten von Basiskomitees
viel besser organisiert ist. Obwohl einige KommentatorInnen die für den
Rio de la Plata ungewöhnliche Winterkälte mit Temperaturen um den
Gefrierpunkt als Grund für das Fernbleiben von mehr als 50 Prozent der
Wahlberechtigten von den Wahlurnen ausmachten, gehen ernsthafte
politische Analysen etwas tiefer. So spricht Juan Castillo, Mitglied im
Führungsgremium des Gewerkschaftsdachverbandes PIT-CNT sowie der
Kommunistischen Partei innerhalb des Mitte-Linksbündnisses, von
„strukturellen und organisatorischen Fehlern, die wir gemacht haben“.
Im Klartext heißt das: Die traditionell starke Basis ist frustriert,
fühlt sich von „ihrer“ Regierung missachtet und ist heute viel schwerer
zu motivieren als zu der Zeit, als die „Breite Front“ in der Opposition
war.
Allerdings könnte die Kandidatenkür des politischen Gegners für eine
künftig größere Motivation der Linken sorgen: Bei der Nationalpartei,
den Blancos, erhielt Luis Alberto Lacalle 55 Prozent und schlug somit
seinen Konkurrenten Jorge Larrañaga deutlich. Das Dream Team für die
Präsidentschaftswahl stand hier schon am Wahlabend fest: Lacalle, der
für den Neoliberalismus der 1990er Jahre steht und diese Rezepte auch
heute noch für die geeigneten hält, bot dem als innerparteilichen
Reformer gehandelten, IWF-kritischen Larrañaga die
Vizepräsidentschaftskandidatur an, was dieser ohne Bedingungen
akzeptierte. Wie das alles programmatisch zusammengeht, weiß zwar
keiner, aber das ist zweitrangig. Zuerst geht es darum, die Linken zu
schlagen und vor allem Mujica zu verhindern. Dazu will auch die dritte
Kraft im Lande beitragen, die rechtsliberale Colorado-Partei. Die
schnitt mit zwölf Prozent nicht so schlecht ab, wie prognostiziert. Und
das trotz oder wegen Pedro Bordaberry. Der Sohn des ehemaligen
Diktators Juan María Bordaberry (1972-1976) gewann die Vorwahl seiner
Partei mit 71 Prozent. Summiert man die zwölf Prozent Stimmen für die
Colorados mit den 46 Prozent der Blancos ergibt das Ergebnis vom
Sonntag eine klare Tendenz: Die Frente Amplio wäre abgewählt gewesen.
Für die Wahl am 25. Oktober 2009 bedeutet das nichts Gutes. Falls dann
weder Mujica noch Lacalle mehr als 50 Prozent erhalten, könnten die
Colorados dem Duo Lacalle-Larrañaga bei der Stichwahl einen Monat
später die entscheidenden Stimmen zum Sieg verschaffen. Und Lacalle
würde mit Bordaberry eine Koalitionsregierung bilden, der nicht zum
Parteiestablishment gehörende Larrañaga hätte seine Schuldigkeit getan.
Beide „Traditionsparteien“, wie Blancos und Colorados bis zum Erstarken
der Frente Amplio in den 1990er Jahren genannt wurden, werden alles und
jeden mobilisieren, um das Linksbündnis zu schlagen. Schon die
Niederlage im Oktober 2004 war für sie eine Katastrophe. Würde es die
Frente Amplio ein zweites Mal schaffen, die Regierung zu stellen, wären
alle die Pfründe und Erbhöfe vielleicht ja auf Dauer verloren.
In den vier Monaten bis Oktober ist ein harter polarisierter Wahlkampf
zu erwarten, alles sieht nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Doch am
Ende könnte sich mit José „Pepe“ Mujica eine weitere schillernde
Persönlichkeit in die Riege der lateinamerikanischen Präsidenten
einreihen. „Wir müssen daran denken, dass die Welt sich geändert hat,
weil ein Schwarzer in den USA regiert, weil Lula in Brasilien dran ist
und Evo in Bolivien. Ich will, dass alle wissen, dass ich die vertrete,
die unten sind und ich empfinde Stolz und Verpflichtung dabei“, so
Mujica nach Bekanntgabe der ersten Ergebnisse. Und für „El Pepe“, der
sich als Freund von Chávez bezeichnet, ist das brasilianische Modell
das Vorbild, mehr noch: „Mein Modell für Uruguay ist Lula. Lula hat
eine Revolution erreicht. Er hat erreicht, dass eine große Anzahl von
Menschen die Leiter emporklettern konnte“.
„Pepe“ hat in seiner Chacra, seinem kleinen Bauernhof, auf dem er heute
noch Blumen züchtet, ein Foto von Che Guevara an der Wand und eine
Fahne von Kuba an der Tür hängen. Hugo Chávez, die Castro Brüder und
Evo Morales wird das sicher freuen. Der 25. Oktober 2009 könnte aber
auch der Anfang eines „Rechtsrutsches“ sein, wenn in Uruguay mit
Lacalle eine Figur aus dem Laboratorium des Neoliberalismus der 1990er
Jahren im Jahre 2010 wieder den Dienst antritt.
Am 25. Oktober wird noch eine weitere Abstimmung in Uruguay
stattfinden. Zeitgleich mit der Wahl wird ein Referendum darüber
entscheiden, ob das „Gesetz über die Hinfälligkeit des Strafanspruchs
des Staates“ von 1986, das allen Polizei- und Militärangehörigen
Straffreiheit für vor dem 1. März 1985 begangene
Menschenrechtsverletzungen zusichert, abgeschafft wird. Ein erstes
Referendum dazu scheiterte 1989, begleitet von Drohungen der Militärs
kurz nach dem Ende der Diktatur. Doch dieses Mal stehen die Chancen
gut, dass, ganz gleich wer der nächste Präsident sein wird, auch in
Uruguay die Straflosigkeit definitiv ein Ende findet, weil die
Bevölkerung es mehrheitlich so entscheidet. Wie so oft in Benedettis
„eigenartigem Land“.
Ausgabe: Nummer 421/422 - Juli/August 2009