Grundgesetz und Juristensozialismus

Entwurf einer Kritik

Die in Parteien organisierte Linke in der BRD versucht seit den 1970er Jahren ihre politischen Ziele u.a. mittels einer alternativen Verfassungsauslegung zu erreichen. Danach handelt es sich beim Grundgesetz um eine antifaschistische Verfassung, die zumindest die Option einer sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft offen hält. Aus Anlass des 60. Jahrestages des Grundgesetzes soll gezeigt werden, warum dies falsch ist und wieso sich diese Auslegung trotzdem in weiten Teilen der Linken durchsetzen konnte.

Anlässlich des 60. Jahrestages des Inkraftretens des Grundgesetzes (GG) melden sich auch wieder linke PolitikerInnen und JuristInnen zu Wort, die endlich die Verwirklichung des GG anmahnen. Dabei geht es ihnen nicht um das Abstellen staatlicher Verstöße gegen Menschenwürde und Freiheitsverbürgungen. Ihnen schwebt Größeres vor: Die gesetzliche Abschaffung von Kapitalismus und (Neo-)Faschismus. Denn das GG eröffnet ihrer Meinung nach den Weg zum Sozialismus, ermöglicht also die Abschaffung des Kapitalismus auf einfachem Gesetzeswege, und verbietet als antifaschistische Verfassung jede faschistische Betätigung. Diesen seit den 1970er Jahren kolportierten und aktuell wieder verstärkt rezipierten Behauptungen soll im Folgenden entgegengetreten werden. Dabei ist es sinnvoll, beide Behauptungen gemeinsam zu betrachten, weil sie etwa zur selben Zeit im gleichen Spektrum der Linken entwickelt wurden und bis heute oft in Kombination vertreten werden. Auch handelt sich um zwei strukturell eng verwandte Argumentationsmuster: Die beiden Annahmen zugrunde liegende rechtspolitische Argumentation zeichnet sich dadurch aus, gesellschaftliche Verhältnisse, die in sozialen und politischen Kämpfen zu erringen wären, als juristisch eigentlich schon vorgegeben zu suggerieren. Eine derartige Politik bezeichneten Friedrich Engels und Karl Kautsky schon 1886 als "Juristensozialismus"[1], ein Begriff der hier beibehalten werden soll.

Grundgesetz und Sozialismus

Da im GG nicht explizit formuliert ist, dass die BRD ein kapitalistischer Staat zu sein habe, vertreten nicht nur Linke die Auffassung, dass GG sei hinsichtlich der Wirtschaftsordnung unbestimmt und erlaube deshalb auch den Übergang zum Sozialismus. Der Sozialismusbegriff als solcher ist schwammig. Er soll im Folgenden im Sinne einer nichtkapitalistischen, nicht auf Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruhenden Gesellschaftsordnung verstanden werden. Das dürfte der kleinste gemeinsame Nenner unter den AnhängerInnen der „sozialistischen" Verfassung sein, und markiert gleichzeitig den Punkt, auf den es hier ankommt. Denn tatsächlich kodifiziert das GG die Prinzipien und Verfahrensweisen einer kapitalistischen Demokratie, und ist nur auf dieser Basis unbestimmt hinsichtlich der Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung.

Die Sozialismusoption wird aus drei Bestimmungen destilliert: Art. 14 Abs. 2, Art. 15 und Art. 20 GG.[2] Daneben wird die historische Auslegung bemüht, indem behauptet wird, das GG sei in einer sozialismusfreundlichen Situation verfasst worden. Demnach hätte das deutsche Volk 1945 im kapitalistisch-obrigkeitsstaatlichen System die Wurzel des Nationalsozialismus erkannt und wäre zu einer sozial-demokratischen Erneuerung bereit gewesen, was sich in einem „antikapitalistischen Konsens" niedergeschlagen hätte. In den westlichen Besatzungszonen hätten die Westmächte dieses Vorhaben allerdings vereitelt, sodass im Grundgesetz letztlich nicht der Sozialismus, aber immerhin noch die Möglichkeit dazu landete.[3]

Beides lässt sich nur vertreten, weil eine Auseinandersetzung mit der Form des Verfassungsrechtes unterbleibt und die historischen Betrachtungen zur Entstehung des Grundgesetzes eher von politischen Wunschvorstellungen als von einer kritischen Analyse geprägt sind. Hervorzuheben sind hier vor allem die Einrichtungsgarantien[4] u. a. für Eigentum, Erbrecht, Vertragsfreiheit, Ehe und Familie, die wichtige gesellschaftsstrukturierende Institutionen als solche dem Zugriff des Gesetzgebers entziehen und dadurch eine absolute verfassungsrechtliche Schranke für politische Umgestaltungen der Gesellschaft errichten. D. h. der Gesetzgeber kann zwar die rechtlichen Bedingungen von Eigentum, Vertragsfreiheit und Ehe bestimmen - aber eine Abschaffung dieser Institutionen ist unter dem GG nicht möglich. Von herausragender Bedeutung ist hier die Eigentumsgarantie in Art. 14 GG als zentrales Rechtsinstitut der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft. Erkennbar wird die Einrichtungsgarantie an der Formulierung „gewährleistet". Hier scheint auf, dass das Eigentum nicht von der Verfassungsrechtsordnung geschaffen wird, sondern dieser vorausgeht und von ihr akzeptiert wird. Mit dieser schon systematisch allen weiteren Bestimmungen zur Eigentumsordnung vorangehenden und diese prägenden Vorschrift setzen sich die Anhänger des sozialismusfreundlichen Grundgesetzes aber nicht auseinander, ebenso ignorieren sie Abs. 3, der entschädigungslose Enteignungen verbietet.

Am Umgang mit Art. 14 wird so die Auslegungsmethode offenbar, mit der die „Sozialismusoption" ins GG gelesen wird. Man reißt einzelne (Ab-)Sätze aus dem Zusammenhang und stellt ihren Inhalt als zentrale Bestimmung heraus. Nach dem Motto „Der Inhalt ist alles, die Form ist nichts" ignoriert man, dass nicht nur der wörtliche Inhalt des GG, sondern auch dessen Form historische Entscheidungen und Bestimmungen des Verfassungsgebers widerspiegelt.

Weltkrieg, Kapitalismus und Grundgesetz

Auch in historischer Hinsicht stützt sich die hier kritisierte GG-Interpretation auf Auslassungen und Dekontextualisierungen. So wird etwa unterschlagen, dass die Eigentumsgarantie des GG gegenüber derjenigen der Weimarer Reichsverfassung erheblich gestärkt worden ist.[5] Die Alliierten, die im Potsdamer Abkommen die Dezentralisierung der deutschen Großindustrie beschlossen hatten, waren sich 1945 zwar darin einig, dass die deutschen Konzerne die Expansionspolitik des "Dritten Reiches" ermöglicht und vorangetrieben haben und deshalb zerschlagen werden müssten - eine verfassungsrechtlich fortwirkende Einigkeit dahingehend, dass die Umgestaltung zu einer sozialistischen Wirtschaft ermöglicht werden müsse, kann daraus aber nicht gelesen werden.

Die Idee, dass „der Kapitalismus" am Ende war, teilten 1945 bis auf die Liberalen alle politischen Parteien und die Gewerkschaften. Unter „Kapitalismus" wurde aber nicht die auf Warenproduktion beruhende Gesellschaftsform verstanden, sondern die kartellisierte, eng mit dem NS-Regime verflochtene und durch Rüstungsaufträge vom Krieg profitierende Groß- und Schwerindustrie. Folglich finden sich in sieben Landesverfassungen aus den Jahren 1946/1947 Bestimmungen zur Sozialisierung dieser Industriezweige. Dabei knüpfte sich an den Begriff "Sozialisierung" zu der Zeit eine Debatte um mögliche neue Formen gesellschaftlicher Verfügungsgewalt über Produktionsmittel - den VertreterInnen des „sozialistischen" GG reicht heute zumeist die Verstaatlichung.

Mit dem Aufflammen des Kalten Krieges sank der Willen zu deren Umsetzung und zur Kritik am Kapitalismus, so dass das Grundgesetz wesentlich „eigentumsfreundlicher" als diese Landesverfassungen gestaltet wurde. Die Erarbeitung des GG wurde entscheidend geprägt vom Ausbruch des Kalten Krieges, der ja Ursache der deutschen Teilung und somit eigentlicher Anlass zur Erarbeitung des GG war. Deshalb können die vorher erlassenen Landesverfassungen nicht zur „sozialistischen" Auslegung des GG herangezogen werden.

Sozialismus erscheint oft als bloße Verstaatlichung der wichtigsten Produktionsmittel. „Aber weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften noch die in Staatseigentum hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf."[6] Die Sozialismusoption des Grundgesetzes ermöglicht maximal eine kapitalistische, wohlfahrtstaatliche Wirtschaftsordnung mit einem hohen Anteil an Staatsunternehmen.

Grundgesetz und Antifaschismus

Der Behauptung, das GG sei eine antifaschistische Verfassung, ließe sich mit dem Argument zustimmen, dass die Errichtung einer faschistischen Diktatur mit einer Verfassung, die Bürger- und Menschenrechte sowie Mittel ihrer Durchsetzbarkeit bestimmt, demokratische Verfahren der Entscheidungsfindung festlegt und Mittel zum Schutz dieser Regelungen benennt, nicht vereinbar sei und die Verfassung demzufolge als antifaschistisch anzusehen wäre. Dann wären die Verfassungen aller demokratischen Staaten antifaschistisch. Doch darum geht es den VertreterInnen des antifaschistischen GG nicht. Denn der von ihnen vertretene und dem GG unterstellte Antifaschismusbegriff ist ursprünglich wesentlich präziser gefasst und enthält eine negative und eine positive Begriffsbestimmung. Negativ wendet er sich gegen den Faschismus (womit auch der deutsche Nationalsozialismus gemeint ist), der in der Tradition Georgi Dimitrows analysiert wird: "Der Faschismus ist terroristische Herrschaftsausübung des von besonders reaktionären Teilen der Großbourgeoisie beherrschten Staatsapparates, um eine sozialistische Umwälzung zu vereiteln oder ihr vorzubeugen."[7] Positiv steht dieser Antifaschismusbegriff für ein eigenes politisches Programm: Antifaschismus wird im Sinne der Volksfront-Politik der Kommunistischen Internationale verstanden als Politik des "Bündnisses der Arbeiterklasse mit den nicht-monopolistischen Klassen und Schichten", die (bestimmte) bürgerlich-demokratische Standards verteidigt, mit dem Ziel "der Arbeiterbewegung positive Entfaltungsmöglichkeiten im politischen Willensprozess bieten".[8]

Art. 139 GG

Die zur Begründung der Behauptung, dass GG stelle eine antifaschistische Verfassung dar, herangezogene Norm ist Art. 139 GG. Dieser, so wird argumentiert, sei Ausfluss eines zur Zeit der Erarbeitung des GG bestehenden „antifaschistischen Konsenses". Es ist verblüffend, dass sich die Annahme, Art. 139 GG enthalte eine so grundlegende Richtungsentscheidung des Verfassungsgebers wie die für eine antifaschistische Verfassung, überhaupt verbreiten und bis heute halten konnte. Denn schon eine juristisch-immanente, das übliche Auslegungsinstrumentarium nutzende Kritik widerlegt diese Behauptung.

Der Wortlaut des Art. 139 GG besagt nichts weiter, als dass die Geltung der von den Besatzungsmächten erlassenen Entnazifizierungsvorschriften nicht vom GG eingeschränkt werden kann. Allerdings sind diese Vorschriften von den Besatzungsmächten selbst ab 1948 sukzessive außer Kraft gesetzt worden. Seine Stellung im Kapitel der "Übergangs- und Schlussbestimmungen" - noch nach dem die Rechtsverhältnisse der Beamten des "Dritten Reiches" regelnden Art. 131 GG - zeigt, dass es sich keineswegs um eine Vorschrift handelt, die eine das GG prägende Aussage enthält. Die Diskussion um Art. 139 GG im Parlamentarischen Rat war von dem Bemühen geprägt, die Entnazifizierung zu beenden und ihre Auswirkungen zu minimieren. Eine umfassende und materialreiche Auseinandersetzung mit dem Art. 139 GG, in der sie dessen Charakter als antifaschistische Grundsatznorm widerlegen, publizierten Cornelius Pawlita und Frank Steinmeier (ja, der heutige Bundesaußenminister) 1980 in der Zeitschrift „Demokratie und Recht", einer juristischen Fachzeitschrift, herausgegeben u. a. von Helmut Ridder, Wolfgang Abendroth und Wolfgang Däubler, die von 1973 bis 1993 im Pahl-Rugenstein-Verlag als Zeitschrift linker, vor allem DKP-naher JuristInnen erschien.[9]

KPD und Grundgesetz

Dass die Behauptung, im Grundgesetz werde ein zur Zeit seiner Erarbeitung bestehender antifaschistischer (und sozialistischer) Konsens aufbewahrt, eine rückwärtige Projektion politischer Wünsche ist, macht nichts so deutlich wie die Sichtung kommunistischer Quellen aus der Zeit zwischen 1945 und 1955. Die KPD, die wie keine andere Partei daran interessiert gewesen sein müsste, Antifaschismus und zumindest optionalen Sozialismus zu Verfassungsprinzipien der BRD zu machen, bekämpfte das GG auf das erbittertste. Max Reimann, für die KPD Mitglied im Parlamentarische Rat, erwähnt in seinen Schriften nicht einmal, dass das GG antifaschistisch und sozialismusfreundlich gestaltet wurde. Er wirft dem Parlamentarischen Rat vor, nicht eine demokratischen Verfassung, sondern die „Restauration der monopolkapitalistischen Gesellschaftsordnung" zu besiegeln.[10] Angesichts des oben skizzierten Antifaschismus-Verständnisses schließt dies einen antifaschistischen Charakter des GG explizit aus.

Erst das weitere Schicksal der KPD gab den Anstoß für die Entwicklung der hier kritisierten GG-Interpretationen. 1956 proklamierte die KPdSU das Prinzip der „friedlichen Koexistenz" zwischen sozialistischen und kapitalistischen Staaten. Für die KPD bedeutete dies, dass der Übergang zum Sozialismus nun durch den parlamentarischen Kampf um Abgeordnetenmandate anzustreben war, was eine grundlegende Akzeptanz der Verfassungsordnung voraussetzte.[11] Am 17. August 1956 schließlich wurde die KPD vom Bundesverfassungsgericht verboten.[12] Die Legalisierung einer kommunistischen Partei in der BRD war nur unter der Bedingung eines Bekenntnisses zur verfassungsmäßigen Ordnung möglich. So wandelte sich unter dem Druck des Parteiverbotes das Verhältnis der KPD zur Verfassung grundlegend, sie bekannte sich schließlich zu einem in ihrem Sinne interpretierten GG, was die legale Neukonstituierung der DKP 1968 mitermöglichte.

Grundgesetz, Antifaschismus und Versammlungsfreiheit

Einen Aufschwung erlebte die hier kritisierte Grundgesetzinterpretation erstaunlicherweise mit der deutschen Einheit. Erstaunlicherweise deshalb, weil die sich an der DDR orientierende oder zumindest mit ihr sympathisierende Linke, von der die antifaschistische und sozialismusfreundliche Grundgesetzinterpretation entwickelt wurde, mit der Wende und dem Beitritt zur BRD eine erhebliche Niederlage erlitt. Allerdings wurde diese Auslegung des GG schnell in die Programmatik der PDS aufgenommen, die damit den Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit abwehren und sich als legitimen Teil des demokratischen Parteienspektrums darstellen wollte.

Diese Motivation wurde jedoch schon bald von einer anderen überlagert. Nach der Wiedervereinigung nahm die Häufigkeit rechtsradikaler Aufmärsche massiv zu. Gegen diese verhängte Verbote scheiter(te)n regelmäßig am Grundrecht der Versammlungsfreiheit. So entstand - in durchaus über die Linke hinausreichenden Kreisen - das Bedürfnis, ein verfassungsrechtliches Gegengewicht zur Versammlungsfreiheit zu entwickeln, um Naziaufmärsche rechtswirksam verbieten zu können. Zu diesem Zweck wurde die antifaschistische GG-Interpretation aufgegriffen, deren zugrundeliegender Antifaschismusbegriff auf die Parolen „Verbot aller faschistischen Organisationen!" und „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!" reduziert wurde.

Allerdings schob das Bundesverfassungsgericht in seiner berühmten Auseinandersetzung mit dem Oberverwaltungsgericht Münster der praktischen Anwendung einer antifaschistischen GG-Interpretation einen Riegel vor.[13] In Folge dessen versuchte die PDS/Linkspartei in Bund und Ländern den antifaschistischen Charakter der Verfassungen, auf dessen Existenz sie weiterhin beharrte, durch „Antifa-Klauseln" zu bekräftigen, also Bestimmungen, die (neo-) faschistische Betätigungen für verfassungswidrig erklären. Sie scheiterte - wohl vor allem auf Grund der mit dem Begriff "Antifaschismus" verbundenen politischen Implikationen - mit diesem Vorhaben überall, außer in Mecklenburg-Vorpommern. Hier gelang es der PDS/Linkspartei durch eine Volksinitiative politischen Druck aufzubauen, der die Ablehnung einer solchen Klausel deutlich erschwerte. In Verhandlungen mit CDU, SPD und FDP einigte sie sich auf die Einfügung eines Art. 18a in die Landesverfassung: „Alles staatliche Handeln muss dem inneren und äußeren Frieden dienen und Bedingungen schaffen, unter denen gesellschaftliche Konflikte gewaltfrei gelöst werden können. Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker oder der Bürger Mecklenburg-Vorpommerns zu stören und insbesondere darauf gerichtet sind, rassistisches oder anderes extremistisches Gedankengut zu verbreiten, sind verfassungswidrig."

Abgesehen davon, dass diese Formulierung nicht gerade ein Ausbund an Konkretheit ist, erhebt sie tatsächlich die unsägliche Extremismus-These zum Verfassungsrecht, auf deren Gleichsetzung von Antifa und Nazis u. a. die Arbeit des Verfassungsschutzes beruht. Aber das sind offensichtlich zu vernachlässigende Probleme, wenn man glaubt, mittels staatlicher Verbote gesellschaftliche Probleme lösen zu können.

Emanzipation statt Staatsräson

Man nimmt einzelne Sätze aus dem GG, deren Wortlaut einem passt, ohne ihren Zusammenhang zu beachten. Dazu konstruiert man eine Geschichte, die den gewünschten Inhalt zu stützen scheint, und unterlässt es, sich kritisch mit Verfassung, Staat und Volk auseinander zu setzen: Diese Position ist nicht nur in rechtstheoretischer und -kritischer Hinsicht falsch, sie steht auch emanzipatorischen Bestrebungen entgegen. Da das Grundgesetz schon sozialistisch und antifaschistisch sei, ist nach dieser Ansicht der einzig legitime politische Kampf der für die Verwirklichung des Grundgesetzes. Der Kampf für das bessere Leben, der sich nicht um die Staatsräson kümmert, erscheint dann verdammenswert.

Dies zeigt nichts so gut wie Abendroths Positionierung zur radikalen, sich auch militanter Aktionsformen bedienenden Frauenbewegung der 1970er Jahre und deren Kampf gegen das Abtreibungsverbot des § 218 Strafgesetzbuch: „Ist es ein Wunder, wenn einige Frauen jeden Rest an Selbstbeherrschung und kritischer Vernunft verlieren und zu kriminellen Kampfmitteln greifen? Die Verwendung derart illegitimer und den Massen unverständlicher Mittel ist jedoch die beste Stärkung für solche Feinde des sozialen und demokratischen Rechtsstaates, die in den Spitzen von Wirtschaft und Staat noch immer manipulieren."[14] Vermittelt durch einen Rechtsstaatsfetischismus schlägt sich Abendroth also gegen eine Emanzipationsbewegung auf die Seite von Staat und deutschem Volk.

Kennzeichnend für „sozialistische" GG-Interpretationen ist eine nur oberflächliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinem Fortwirken nach 1945. Argumentationen, die die Funktion des Privateigentums vorrangig aus Art. 14 Abs. 2 GG herleiten, grenzen sich oft nur ungenügend von der nationalsozialistische Lehre von der „Gemeinschaftsbindung des Eigentums" ab.[15] Nicht berücksichtigt wird die Sozialstaatskritik, die von der Erkenntnis ausgeht, dass im deutschen Sozialstaat der unter dem Namen „Volksgemeinschaft" fungierende Klassenkompromiss des Nationalsozialismus aufgehoben ist. Eine Auseinandersetzung mit dieser Geschichte würde einer positiven Bezugnahme auf den Staat als Agenten emanzipatorischer Veränderungen entgegenstehen.

Beide rechtsideologischen Behauptungen sind ein Resultat der etatistischen Tradition und Ausdruck der Schwäche der Linken im postfaschistischen Deutschland. Theoretisch basieren sie auf einer Analyse des Nationalsozialismus, die diesen nur als auf die Spitze getriebenen Kapitalismus wahrnimmt und so seine Spezifik verkennt. Sie sind weder geeignet, die Verfassungsordnung dieses Staates zu analysieren, noch auch nur kleine Schritte in Richtung Emanzipation zu gehen. Denn Voraussetzung jeder emanzipatorischen Entwicklung ist eine radikale Kritik, die ihrem Gegenstand gerecht wird.

Hannes Püschel lebt in Potsdam und beschäftigt sich mit Rechts- und Geschichtspolitik.


[1] Engels, Friedrich / Kautsky, Karl, Juristensozialismus, MEW Bd. 21, 492-509.

[2] Z. B. Neskovic, Wolfgang, Fazit: Das Grundgesetz fordert den demokratischen Sozialismus, http://www.dielinke.pds-rlp.de/fileadmin/kv/trier-saarburg/diverses/PM_W_Neskovic.pdf.

[3] Abendroth, Wolfgang, Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme, 1966.

[4] Grundlegend Mager, Ute, Einrichtungsgarantien - Enststehung, Wurzeln und grundgesetzmäßige Neubestimmung einer dogmatischen Figur des Verfassungsrechts, 2003.

[5] v. Brünneck, Alexander, Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, 1984, 88 f.

[6] Engels, Friedrich, Herrn Eugen Dühring's Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), MEW Bd. 20, 239-303 (260).

[7] Stuby, Gerhard, Bemerkungen zum verfassungsrechtlichen Begriff der "freiheitlich-demokratischen Grundordnung", Demokratie und Recht (DuR) 1976, 143-152 (149).

[8] Stuby, Gerhard, DuR 1976, 143-152 (149).

[9] Pawlita, Cornelius/Steinmeier, Frank, Bemerkungen zu Art. 139 GG - Eine antifaschistische Grundsatznorm, DuR 1980, 393-416.

[10] Reimann, Max, Entscheidungen 1945-1956, 1974, 123 ff.

[11] v. Brünneck, Alexander, Politische Justiz gegen Kommunisten in der BRD 1949-1968, 1978, 39 f.

[12] BVerfGE 5, 85.

[13] Informativ und mit umfangreichen Quellennachweisen Scholle, Thilo, Rechts und Ordnung - Der Streit um das Verbot von Aufmärschen der rechten Szene, Forum Recht 2003, 22-24.

[14] Abendroth, Wolfgang, Das Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, Kritische Justiz 1975, 121-128 (127).

[15] Vgl. v. Brüneck, Alexander, Die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, 1984, 52.