"Behindert sein" = isoliert werden

Zur politischen Philosophie der Behinderung (I)

Aus: Forum Wissenschaft 2/2009

Behinderung wird immer noch häufig verstanden als Ausdruck eines körperlichen Defekts. Als Folge konkreter sozialer Strukturen, hineingestellt in die Zusammenhänge und Prozesse gesellschaftlicher Prozesse, Verhältnisse und Geschichte, somit auch in das mit ihnen entwickelte Denken - also Philosophie -, bis hin zur Disability Convention, lassen sich nicht nur Behinderung, sondern auch Gesellschaft und Wissenschaft anders begreifen: menschenwürdig. Wolfgang Jantzen legt seine Erfahrungen offen.


Politische Philosophie der Behinderung ist ein Thema, das meines Wissens bis heute noch nirgendwo behandelt wird. Es ist ein außerordentlich komplexes Thema, weil es in so viele Gebiete hineinragt, also ein interdisziplinäres, ein transdisziplinäres Thema. Denn die Philosophie irgendeines Gebietes hat sich, was die Grundlage für ihre Reflexion ist, natürlich einerseits auf die Geschichte der Philosophie zu beziehen, andererseits aber immer auch auf das, was als Gesamtwissen der Human- und Naturwissenschaften zur Verfügung steht. Die Philosophie ist Reflexionswissenschaft. Wenn man versucht, sie zu definieren, so ist sie Reflexionswissenschaft auf das Allgemeine. Und das könnte man in bestimmten philosophischen Traditionen als das gemeinsame und friedliche Zusammenleben der Menschen untereinander und mit der Natur bestimmen. Es scheint mir so, dass dies immer der Reflexionshintergrund der Philosophie gewesen ist, wenn sie nach dem guten Leben, dem wirklichen Leben, dem humanen Leben gefragt hat. Um das zu tun, muss sie allerdings den Durchgang jeweils durch das gesamte Wissen in irgendeiner Form leisten, ohne aber irgendeine Art von Superwissenschaft sein zu können. Die Philosophie kann es leisten, inhaltlich und methodologisch auf ihrer Ebene Probleme zu bearbeiten. Und das wiederum ist von großem Nutzen für die Diskussion der Einzelwissenschaften, die als solche aber jeweils ihre eigenen Methodologien, ihren eigenen Inhalt haben. Das macht vieles so schwierig.

Warum Philosophie?

In seinem Buch über das Feld der Wissenschaft verwendet Pierre Bourdieu1 einen schönen Vergleich. Er schreibt: Einen Mathematiker kann man nur mit einem mathematischen Beweis ausstechen, ihn mit einem Schwert niederzustrecken, wäre ein Kategorienfehler. Das spielt auf den römischen Soldaten an, der Archimedes mit einem Schwert niedergestreckt hat. Das heißt aber auch Folgendes: Wenn man ausgehend vom Gebiet der Behindertenpädagogik, das vor einer Reihe von Jahren noch in einem erbärmlichen Zustand war, versucht, das Ganze der Humanwissenschaften zu denken, stößt man an jeder Ecke auf diese Kategorienprobleme; man muss mit allen Humanwissenschaften diskutieren und argumentieren, ohne Kategorienfehler zu machen. Und es dauert lange, bis man sich aus dieser Ecke vergegenwärtigt, in der unser Fach gestanden hat, dass dafür gerade die Philosophie ein geeigneter Hintergrund ist. Denn sie wird in dieser Weise erst am Ende des Weges sichtbar, obwohl wir sie am Anfang brauchen könnten. Ich habe in der letzten Zeit sowohl privat als auch mit Studierenden darüber diskutiert, was mich eigentlich dazu gebracht hat, das Fach so anzugehen, wie ich es heute tue.

Es ist mir klar geworden, warum ich diesen Weg gewählt habe; es ist lange vor meinem Studium, in meiner Schulzeit, in meiner Kindheit mit begründet. Ich sage es gerne mit dem Filmtitel "Fräuleins Smillas Gespür für Schnee". Ich habe zwar kein Gespür für Schnee erworben, aber für Unterdrückung. Wenn ich etwas hasse, dann ist es Unterdrückung, weil ich sie selbst erfahren habe und in meinen Anfangsjahren unreflektiert weitergegeben habe, wofür ich mich heute schäme. Es ist ein langer Weg, sich aus solchen Strukturen zu befreien. Ich bin in ein Fach hineingeraten, das genau dies getan hat: Mit dem Ziel, Unterdrückung aufzuheben, wird Unterdrückung weitergegeben und manifestiert. Das wurde erst im Laufe der Jahre deutlich. Wir können es uns in besonderer Weise klarmachen, wenn wir den Kommentar von Heiner Bielefeldt zur UN-Behindertenkonvention2 ansehen: Was dort an Aussagen über Behinderung als positiv hervorgehoben wird, sind Aussagen, für die wir vor 30 oder mehr Jahren fast gesteinigt worden wären.

Ich fasse die wichtigsten solcher Aussagen zusammen: Unabdingbar ist der Begriff der Menschenwürde. Er kann und muss aber vor allem dadurch bestimmt werden, dass Menschen Schutz erhalten vor Diskriminierung. Damit ist er noch nicht positiv bestimmt. Ihn positiv zu bestimmen, macht riesige Anstrengungen, darauf kommen wir nachher noch. Der Begriff der Menschenwürde zeigt aber etwas auf, was jedem Individuum gegeben ist und was jedes Individuum aufzeigt in irgendeiner Art und Weise - egal, ob die Umgebung das wahrhaben will oder nicht. So bemerkt Spinoza in seinem politischen Traktat, dass jede/r nur so viel Macht hat, wie er oder sie Recht hat. Das Recht des Staates entsteht aber durch Machtübertragung, indem die Rechte der Bürger auf den Staat übertragen werden. Keiner der Bürger kann jedoch so viel Recht auf den Staat übertragen, dass nicht ein Rest dieses Rechtes bei ihm bliebe. Niemals kann der Staat die Emotionen, die Gefühle, das Denken der Bürger restlos bestimmen. Es bleibt ein Teil der konstituierenden Macht als Recht bei den Bürger/innen, bei den Individuen selber, wie sehr auch der Staat ein Staat der Unterdrückung sein mag. Diese Kontur, diese Linie, die damit aufgezeigt ist, bestimmt Antonio Negri in seinem Buch über die politische Philosophie Spinozas3 als den Horizont des Krieges, den Horizont des Kriegsrechts im Bürgerrecht.

Diesen Horizont sehen wir haargenau, wenn wir Goffmans Studie über totale Institutionen lesen, "Asyle"4. Die Typen, die die Anstalt hervorbringt, sind aggressiv, kataton, zurückgezogen, auf der Oberfläche angepasst. Katatonie ist ein starrer Zustand. Sie sehen die Figuren sehr schön repräsentiert in dem Film "Einer flog über das Kuckucksnest" mit Jack Nicholson in der Hauptrolle. Jack Nicholson als McMurphy ist die Inkarnation des Aggressiven, hervorgebracht durch die Anstalt und vernichtet von ihr, und der Indianer ist die Figur des Katatonen. Die Pokerrunde, das sind die, die sich durchwirtschaften durch die Einrichtung; und dann gibt es die in der Kapo-Rolle; sie sind die besseren Wärter als die Wärter selbst.

Wir sehen, wie in unterschiedlicher Weise, wenn ich es spinozanisch sage, das Kriegsrecht im Bürgerrecht wahrgenommen wird, durch Verweigerung, durch Aggression, durch Ausweichen, durch Lavieren ähnlich Goffmans Analyse. Alles, was Goffman in "Asyle" als das "Unterleben" der Einrichtung beschreibt, der Unterwelt der realen Gesellschaft entsprechend, finden wir auch in allen Großeinrichtungen für Behinderte. So z.B. das Horten von Eigentum, das insgesamt vorenthalten wird. Je mehr vorenthalten wird, desto mehr wird gehortet, Konservendosen, Murmeln, die in die Fußleisten gesteckt werden, Kuscheltiere, wenn sie da sind. Bei Goffman heißt das Überdetermination. Wenn mir alles Eigentum entzogen wird, dann muss ich das wenige Eigentum bewahren und ausweiten, das ich habe, um mein Selbst zu erhalten.

Wir sehen an dieser Stelle schon, dass sich Würde als jene des nichtknechtischen Subjekts5 immer zeigt, in all diesen Formen. Was dahintersteht, ist eine ganz andere Frage; darauf kommen wir später zurück. Es bleibt auch in der Debatte um die ,disability convention' unklar. Was die ,disability convention' tut, ist folgendes: Sie setzt an der Überwindung des Defizitdenkens an, indem sie einerseits einen Diversity-Ansatz verwendet und davon ausgeht, Behinderung setze eine der vielen Varianten von Vielfalt in der Differenz. Und dass sie andererseits damit verbunden soziale Problemlagen in den Mittelpunkt stellt, die Defizite darstellen. Der Begriff des Defizits verlagert sich also in die soziale Situation, die Naturalisierung am Individuum als Defizit wird aufgebrochen. Und dies bedeutet natürlich die mehr oder weniger bittere Einsicht, dass behinderte keine anders gearteten Menschen sind, die einfach von Natur aus so sind, sondern dass sie so sind wie wir, dass wir ihnen in Geschwisterlichkeit verbunden sind und verbunden zu sein haben als Grundlage einer humanen Gesellschaft, die nicht nur Menschenrechte postuliert, sondern sie auch zivilgesellschaftlich praktiziert.

Behinderung, auf diesem Hintergrund - und jetzt kommt der Begriff, den Heiner Bielefeldt verwendet und für den man uns wirklich fast gesteinigt hätte -, Behinderung ist eine gesellschaftliche Konstruktion. Das heißt keineswegs, dass es nicht gewisse Besonderheiten der Natur gäbe, die es überall zwischen uns Menschen gibt, soweit wir als nicht behindert bezeichnet werden. Wir sind unterschiedlich groß, wir haben unterschiedliche Haarfarben, Augenfarben, wir haben unterschiedliche Geschlechter, manchmal sind wir besser keinem der beiden Geschlechter zuzurechnen - das alles gehört zu Vielfalt und Differenz. Dass daraus gesellschaftliche Problemlagen entstehen, hat etwas mit dem defizitären Blick der Gesellschaft zu tun, aber auch mit der historisch-kulturellen Inkompetenz, Problemlagen zu beheben, an denen wir uns mit Hand und Kopf stoßen.

Defekt = Behinderung?

Dreimal in der Geschichte der Behindertenpädagogik ist herausgearbeitet worden - ich hatte das Glück, einer von den dreien zu sein6 -, dass nicht der sogenannte Defekt der körperlichen Schädigung die Behinderung hervorbringt, sondern die dadurch hervorgebrachte soziale Isolation.

In dieser sozialen (Entwicklungs-)Situation der Isolation ist die Umgebung unfähig, einen sozialen Verkehr so zu gestalten, dass er den besonderen Bedingungen gerecht wird. Daraus resultiert ein sinnvoller und systemhafter Aufbau der psychischen Prozesse innerhalb der Isolation. Am deutlichsten kann man das nachlesen in Donna Williams' Versuch einer Übersetzung von Besonderheiten autistischer Menschen. Was andere Menschen für Autismus halten und erklären, so sagt sie, die selbst als autistisch gilt, sind unsere Selbstverteidigungsmechanismen.7 Genauso wie die Aggressivität McMurphys. Wendet man das alles rückwirkend auf die Geschichte des Faches an, dann entsetzen wir uns vor der alten Einteilung in den Einrichtungen für Behinderte in torpide und erethische Idioten: Wir sehen genau, dass hier - durch die Isolation und durch die Einrichtung produziert - der Typ des Indianers wieder auftaucht als torpider Idiot, und der Typ des McMurphy taucht wieder auf als erethischer Idiot oder in der alten Terminologie als Idiot oder Imbeziller, als Extrasozialer oder Antisozialer.8 Behinderung als gesellschaftliche Konstruktion, hervorgebracht durch Bedingungen der sozialen Isolation, die tief greifend unser Selbst verändern und die tief greifend uns an gesellschaftliche Ränder schieben, dort, wo dann Behinderung in Schicksal umgedeutet wird, fatalisiert wird - von Fatum (Schicksal) - oder in Natur umgedeutet wird, naturalisiert wird.

Aber der Begriff, der dort auf Natur angewendet wird, ist nicht der Begriff von Natur selber, sondern ein spezifisch von Menschen entwickelter Begriff von Natur, um auszugrenzen. Wenn wir das in die Geschichte rückverfolgen, sehen wir eine andere philosophische Spur, die hier auftaucht - die Spur des Spinoza habe ich genannt -: die Spur des Descartes. Ich habe alles andere vor, als ihn zu denunzieren, dazu ist er mir persönlich viel zu sympathisch - als das historische Vorbild einer Romanfigur, die ich als Junge verehrt habe, das historische Vorbild von d'Artagnan in Dumas´ "Die drei Musketiere".9 Diese Figur hat mich immer begeistert, zumal bei intellektuellen, geistigen Auseinandersetzungen das Florett meine Lieblingswaffe ist. Wie ist die Anlage der Theorie des Descartes, zu welchen Zeiten entsteht sie und was für Nachwirkungen hat sie? Wir stehen bei Descartes an einem Wendepunkt von Wissenschaft, der einerseits in die Aufklärung hineinführt und sie andererseits verhindert. Er führt in die Aufklärung hinein, indem Descartes eine Denkfigur findet, mit der er die Wissenschaft aus der mittelalterlichen Befangenheit löst und eigenständig bearbeitbar macht.10 Er unterscheidet in seiner Lehre zwei Substanzen, die "ausgedehnte" und die "erkennende" Substanz, die res extensa und die res cogitans.

Substanz ist in der Philosophie das, was nur aus sich heraus und durch nichts anderes erklärt werden kann. Gott ist Substanz. Und Descartes unterscheidet hier die ausgedehnte und die erkennende Substanz. Aus dem mittelalterlichen Gottesbild schält er heraus die natürlich gegebene Welt als eigene Substanz (res extensa). Sie kann erkannt und über sie kann nachgedacht werden. Sie ist Gottes Schöpfung, aber von Gott losgelöst. Gott als spirituelles Prinzip realisiert sich als res cogitans, bei Descartes nicht ganz so ausgedrückt, aber in der Nachfolge schon so, dass die Seele (ich denke, also bin ich) durch Gott in uns hineingesetzt ist. Nichts Ausgedehntes denkt also und nichts Denkendes ist ausgedehnt. Diese durch die Auseinandersetzung mit dem ausgehenden Mittelalter geprägte Figur hat den Weg für die Aufklärung freigemacht. Das ist die Spur, der Hume, Kant und viele andere folgen und die Stück für Stück dessen, was als Glaubensdogmatik gesetzt war, nun als Wissen der Welt entreißen. Aber das hat seinen Preis.

Dieses Wissen um die Welt baut auf der Erkenntnis der Vernunftnatur des Menschen auf und - wie Kant das sagt - der Möglichkeit, die selbstverschuldete Unmündigkeit zu verlassen.11 In diesem Prozess spielt aber etwas Wichtiges keine Rolle mehr: die Gefühle, die Emotionen. Denn die gibt es nach Descartes bei Tieren sowieso nicht, weil Tiere seelenlose Automaten seien. Der Mensch ist bei ihm das einzige Lebewesen, das beseelt ist. Da der Mensch aber aus Körper und Geist besteht, ist eine Verbindung beider erforderlich (was natürlich der Annahme zweier Substanzen restlos widerspricht). Und diese Verbindung denkt Descartes als Affekte, als Emotionen. Die aber kann er wiederum nur zweiteilen in niedere Emotionen - alle unsere lebhaften Gefühle, die wir haben - und in höhere - das ist letztendlich der freie Wille. Damit ist eine systematische Trennung geistiger und körperlicher Prozesse vollzogen. Und damit ist die Möglichkeit gegeben, einen Menschen, der oder die geistige Prozesse nicht so zeigt, wie es die Vernunft definiert, dass sie zu zeigen wären, auf Natur zu reduzieren. Entweder überwiegt dann also die Seite des seelenlosen Automaten in Form der körperlichen Gefühle, oder das Leben verliert im rein Geistigen alle Gefühle und wird sinnlos - so das schreckliche Ergebnis der Zweiteilung.12 Den Preis, den die Aufklärung für die Entwicklung der Vernunft zu zahlen hat und zunächst im Denken zahlt, muss sie später auch wirklich zahlen. Im strikten Sinne seiner Theorie war Kant der Ansicht, die Vernunft komme nicht allen Menschen zu, sondern sei erst in einem bestimmten Alter vorhanden; bei psychisch Kranken sei sie nicht gegeben, bei Kindern auch nicht, sondern trete etwa mit 25 Jahren auf. Ich weiß nicht, wie Kant sich das gedacht hätte für Angehörige anderer Völker - ob das nicht tendenziell eine rassistische Komponente enthielt. Zumindest in dieser Hinsicht, wenn auch sonst in keiner Weise, konnte Eichmann im Jerusalemer Prozess sich auf Kants kategorischen Imperativ berufen, insofern dieser Imperativ letztlich nur den Vernunftmenschen akzentuiert.13 So zu handeln, dass das eigene Handeln einem möglichen allgemeinen Gesetz entspricht, widerspricht, bezogen auf Vernichtung, dann nicht dem Verständnis, dass der Mensch stets als Ziel und nicht als Mittel zu gebrauchen sei, wenn die Menschen, über die gesprochen wird, vom Begriff der Vernunft ausgeschlossen, als bloße Dinge definiert, naturalisiert und fatalisiert sind. Und ein solches Denken bestand in den Theoriegeflechten der früheren Jahrhunderte fast überall. Denn der eigentliche Mensch als vernünftiger, als normaler Mensch ist das, was eine amerikanische Psychologin vor einigen Jahren im "American Psychologist" geschrieben hat:14 Der normale Mensch ist der gut situierte, gut ausgebildete, gut verdienende mitteleuropäische/nordamerikanische weiße Mann in gesicherter Stellung, alles andere ist Anormalität. Dieser "normale" Mann ist Bezugspunkt der so genannten differentiellen Psychologie.

Aufklärung, zum zweiten

Wir sehen also, dass mit diesem Hervorbringen der Normalität als Wertmaßstab gleichzeitig Maßstäbe gesetzt werden, die man als Abwertungsmaßstäbe betrachten kann. Sie werden nicht nur im Bereich der Behinderung gebraucht, sondern überall. Gleichzeitig mit der Aufklärung sind Prozesse der Verdinglichung entstanden, indem Menschen, die anders waren, auf bloße Natur reduziert wurden. Damit ist aber etwas außer Kraft gesetzt worden, was zentral ist für menschliches Dasein: die Anerkennung menschlicher Subjektivität. Jetzt haben wir wieder die andere Spur, die nach Spinoza erneut bei Hegel auftaucht, die bei Feuerbach und Marx wieder auftaucht - Anerkennung als reziprokes Verhältnis -, und die dann erneut auftaucht in den Entwürfen einer Utopie angesichts einer zerbrechenden Welt nach dem Ersten Weltkrieg bei Buber, Rosenzweig und Walter Benjamin. Wie wäre in einer Zeit, die aus den Fugen ist und Zerstörung hinterlässt, Humanität neu zu gründen und zu überdenken? Sie sehen, wir sind mitten in einer über Jahrhunderte andauernden Debatte, wenn wir anfangen, über das zu reflektieren, was Heiner Bielefeldt aus der UN-Menschenrechtserklärung zu den Rechten behinderter Menschen hervorhebt.

Ein Exkurs: Ich bin gerade dabei, mit einer Reihe von KollegInnen ein zehnbändiges Handbuch herauszubringen. Ich hoffe, dass im Frühjahr 2009 die ersten Bände kommen: "Behinderung, Bildung, Partizipation. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik". Eine der prominentesten Mitarbeiterinnen ist Julia Kristeva von der Universität in Paris, Linguistin, Philosophin, Feministin, einer poststrukturalen Philosophie verpflichtet, gebürtige Bulgarin, daher kennt sie die russische Linguistik. Sie hat uns mit einem Kollegen zusammen einen Essay geschrieben, "Behinderung und Verwundbarkeit"; darin fordert sie eine zweite Aufklärung, die als Wesensmerkmal des Menschen nicht nur die Vernunft, sondern die Verletzlichkeit festschreibt.15 Das ist genau die Auseinandersetzungslinie, in der sich das Kriegsrecht im Bürgerrecht setzt, um es mit Spinoza zu sagen; die Linie, die auch in der ,disability convention' auftritt und in unseren Versuchen aufleuchtet, all das, was Behinderung als Defekt zugeschrieben wird, als Folge sozialer Isolation neu zu begreifen, als sinnhaften, systemhaften Aufbau von Bewusstseinsprozessen unter Bedingungen der Isolation, Ausgrenzung, Ächtung und Unterdrückung. Wenn man sich auf ein solches Unternehmen einlässt, heißt das: Man ist verpflichtet, keine Kategorienfehler zu machen. Wer mit dem Rücken zur Wand steht, kann es sich weniger leisten als jede/r andere, die Dinge nicht exakt zu durchdenken, durchzuarbeiten und sie immer wieder zur Praxis gelangen zu lassen. Mit Praxis meine ich nicht die verdinglichten Techniken der Be-Handlung behinderter Menschen, sondern einen auf Anerkennung aufbauenden Handlungszusammenhang, der als Redemokratisierung einer entdemokratisierten Gesellschaft Stück für Stück zeigen muss, dass unsere Gedanken EURheit für sich haben, weil sie diejenigen ermächtigen, sich wieder in ihrem Sein zu entwickeln, denen dies zuvor vorenthalten wurde. Das ist das eigentliche Kriterium.

Das Wahrheitskriterium liegt nicht bei uns als Behindertenpädagoginnen und -pädagogen, denn wir sind in einer Machtposition. Das Wahrheitskriterium liegt dort, wo tatsächlich eine Redemokratisierung stattfinden kann. Und man muss definieren, was das ist. Dafür würde ich Hannah Arendts Begriff der potestas in populo verwenden - der Macht, die im Volk liegt.16 Wenn behinderte Menschen, die bis dahin keine Stimme hatten, durch das, was wir tun, ihrer Stimme, ihrer Sprache mächtig werden und sich gegen uns verbünden, dann ist der Prozess, den wir vorhaben, erfolgreich. Natürlich ist es nicht immer angenehm, wenn jemand, dem wir helfen wollen, sich gegen uns wendet, aber es hat dann Gründe, und die sind herauszufinden, auf einer neuen Ebene zu verhandeln. Das ist das Wesen von Demokratie: Über Gründe darf nicht mit Macht, sondern es muss durch Verhandlung auf der Basis von allen geteilter Grundsätze (z.B. der Menschen- und Bürgerrechte) entschieden werden und unter Bedingungen der Vernunft, die zugleich die Verwundbarkeit der anderen respektiert, die nicht verwunden will und wird - und wo sie dennoch verwundet, es zurückzunehmen hat. Das ist entscheidend. Es ist eine grundsätzliche Figur der Anerkennung. Man findet diese Gedanken, die ich jetzt hier zusammenfüge, im Rahmen der politischen Philosophie an vielen Stellen. Ich habe von Hannah Arendt gesprochen; ihre Formulierungen zur Frage der Aggressivität sind wunderbar, denn Aggressivität in einer Situation, wo die Vernunft zur Falle wird, ist nicht unvernünftig, sondern ein Gebot der Vernunft.

Entwürdigungs-Normalität

In der Psychiatriesituation, die in "Einer flog über das Kuckucksnest" geschildert ist, sind der Indianer und McMurphy die Vernünftigen in einer, was soziale Vernunft betrifft, restlos aus den Fugen geratenen Situation. Was in dieser Einrichtung praktiziert wird, ist Terror. Ich nehme das exemplarisch für alle Psychiatrie- und Behinderteneinrichtungen und ich behaupte - gern mit empirischen Nachweisen aus vielfältigen Stellen -, dass dies die Regel in allen Einrichtungen ist und nicht die Ausnahme. Aus all dem, was wir - andere und ich - über Rehistorisierende Diagnostik aufgedeckt haben in Hunderten von "Fällen", wissen wir: Die entwürdigende und demütigende Behandlung in Einrichtungen ist ein Normaltatbestand, den die Bundesrepublik unterbinden müsste, weil sie die Antifolterkonvention ratifiziert hat. Wenn man die ,disability convention' ernsthaft durchsetzen will - sie ist in Artikel 15 direkt mit der Antifolterkonvention verbunden -, sind alle Einrichtungen unter Folterverdacht zu stellen. Dass das Gegenteil zuträfe, hätten sie zu beweisen. Sie müssten beweisen, dass sie keine Foltereinrichtungen sind. Das sage ich aus tiefer Kenntnis. Die Belege sind eindeutig.

Nun sind wir aber in einem Problem, das wir sofort zu beachten haben. Die Diskussion um Kybernetik zweiter Ordnung, z.B. Heinz von Foerster und die Folgerungen, machen uns darauf aufmerksam, dass es keinen Beobachterstandpunkt gibt, der außerhalb der Situation ist. Jeder Beobachter muss sich als Beobachter mit beschreiben. Es gibt also keinerlei Grund, uns zu erheben über die Kolleginnen und Kollegen, die in Einrichtungen so handeln. Sondern wir müssen die Strukturen dechiffrieren, die das Handeln hervorbringen. Für mich war es die schmerzliche Lebenserfahrung, das selber lernen zu müssen, als ich mit der Vergangenheit meiner Eltern konfrontiert wurde. Mein Vater war Mitglied der Waffen-SS, er ist 1944 an der Westfront gefallen. Meine Mutter war KZ-Ärztin bis unmittelbar vor meiner Geburt 1941. Ich habe lange gebraucht, bis ich akzeptieren konnte, dass ich keine Versicherung abgeben kann, dass ich einen ähnlichen Weg nicht gegangen wäre. Alles, was beobachtet wird, muss auch auf den Beobachter angelegt werden. Nur dann werden wir in der Lage sein, Menschen, die in bestimmten Verhältnissen leben, nicht alleine für die Verhältnisse verantwortlich zu machen. Aber ein Stück Verantwortlichkeit bleibt bei jedem von uns. Wir werden jedoch eher nach den Verhältnissen fragen, die Verhaltensweisen hervorbringen. Das ist ein großes Gebiet, das sich der politischen Philosophie dann eröffnet, wenn sie über Behinderung als gesellschaftliche Konstruktion verhandelt. Und insbesondere dann, wenn sie Heiner Bielefeldts weitere Kommentare zur ,disability convention' aufgreift.

Anmerkungen

1) Bourdieu, P.: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Konstanz 1998

2) Bielefeldt, H. (2006): Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenkonvention. Deutsches Institut für Menschenrechte. Essay No. 6. Bonn. Nach Meinung von Bielefeldt, Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, ist es vorrangig und neu an der Konvention, dass sie neben einer Abwehrkomponente eine Gestaltungskomponente der Menschenrechte aufnimmt: Behinderte Menschen sollen in eine Situation versetzt werden, die ihnen hilft, ein Gefühl der eigenen Würde zu entwickeln, einen "sense of dignity", ein Zugehörigkeitsgefühl, das bisher vielfältig gebrochen ist durch persönliche Erfahrungen mit sozialem Ausschluss und Bevormundung.

3) Negri, A. (1982): Die wilde Anomalie. Spinozas Theorie einer freien Gesellschaft. Berlin

4) Goffman, E. (1972): Asyle. Frankfurt/M.

5) Ich greife hier eine Formulierung aus dem Abituraufsatz von Karl Marx auf.

6) Die beiden anderen Autoren waren Edouard Séguin und Lev S. Vygotskij.

7) Williams, Donna (1994): Ich könnte verschwinden, wenn du mich berührst. Erinnerungen an eine autistische Kindheit. München, sowie dies. (1997): Krankheit als Schicksal. Donna Williams im Interview. Videoaufnahme 25.01.97. Spiegel TV: Hamburg

8) So hat Sollier, der einflussreichste Autor Ende des 19. Jahrhunderts, "torpide" und "erethische Idioten" benannt. Sollier, P.: Der Idiot und der Imbecille. Hamburg 1891; vgl. W. Jantzen (1980/2005): Die Entwicklung des Begriffs Imbezillität als Beispiel des gesellschaftlichen Umgangs mit Minderheiten. http://bidok.uibk.ac.at/library/jantzen-imbezillitaet.html

9) Davidenko, D. Ich denke, also bin ich. Descartes' ausschweifendes Leben. Frankfurt/M. 1993

10) Vgl. S. Toulmin (1994): Kosmopolis. Die unerkannten Aufgaben der Moderne. Frankfurt/M.

11) Kant, I.: Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte der Philosophie. Göttingen

12) Vgl. Vygotskij, L.S. Die Lehre von den Emotionen. Münster 1996

13) Arendt; Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen. Leipzig 1986

14) Espín, Olivia M.: Giving voice to silence: The psychologist as witness. American Psychologist, 48 (4), 408-414

15) Gardou, C.; Kristeva, Julia (2008): Behinderung und Vulnerabilität. In: Ulrike Lüdtke; O. Braun (Hrsg.): Sprache und Kommunikation. Bd. 8 des Enzyklopädischen Handbuchs der Behindertenpädagogik "Behinderung, Bildung und Partizipation" (Hrsg.: W. Jantzen, Iris Beck, Georg Feuser, Peter Wachtel). Stuttgart: i.V.

16) Arendt, Hannah (1970): Macht und Gewalt. München (S.45). Macht als potestas in populo entspricht insofern der menschlichen Fähigkeit, "nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen zu handeln." (ebd.)

Prof. Dr. Wolfgang Jantzen ist emeritierter Hochschullehrer der Universität Bremen und Doyen der materialistischen Behindertenpädagogik in der Bundesrepublik. Sein Fach ist an der dortigen ehemaligen "Reform"universität inzwischen liquidiert, Ausbildung des fachlichen Nachwuchses, Voraussetzung der Versorgung für die gesamte Region, findet nicht mehr statt. - Sein bearbeiteter und gekürzter Beitrag beruht auf einem Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung "Behinderung ohne Behinderte? Perspektiven der Disability Studies" des Zentrums für Disability Studies (ZeDiS) der Universität Hamburg am 01.07.2008. Die Originalversion war erstmals publiziert in Behindertenpädagogik 3/2008, 47. Jg., S.147-166. - Teil II folgt in Forum Wissenschaft 3/2009.