Widersprüche linker Regierungen im Angesicht der Zivilisationskrise

in (09.04.2010)
Die Zivilisationskrise und die Grenzen, an die der Planet geraten ist, erfordern radikale Alternativen zum Paradigma des Fortschritts und der Ausbeutung der Natur. Eine antikapitalistische Perspektive ist unerlässlich. Die kapitalistische Akkumulationslogik erzwingt eine ständige Expansion des Kapitals in neue Gefilde; der Prozess kapitalistischer Landnahme erfolgt durch die Aneignung neuer »Ressourcen«: Energieträger, Märkte und Arbeitskräfte. Dieses Modell grenzenlosen Wachstums ist mit menschlichem Leben auf diesem Planeten nicht länger vereinbar. Doch Antikapitalismus allein reicht nicht aus. Obwohl Kapitalismus das wirkmächtigste historische Beispiel für die Ausbeutung einer Gesellschaft, für ungehemmtes Wachstum und die Vernichtung der Lebensgrundlage darstellt, wirkt diese Logik über den Kapitalismus hinaus. Das sowjetische Beispiel hat gezeigt, dass auch eine Gesellschaft ohne Privateigentum entwicklungszentriert, produktivistisch und räuberisch sein kann.

Wir können »Gesellschaft« nicht länger als etwas von der »Natur« getrenntes denken und wir können nicht länger eine Haltung der Wirtschaft akzeptieren, die die materiellen Grundlagen der Produktion ignoriert. Damit stehen wir vor allem vor der Krise eines Erkenntnismodells, das den Anspruch auf Universalität, Allgemeingültigkeit und Totalität erhoben hat und mit dem die Menschheit durch Vergegenständlichung und Verdinglichung die Welt sowohl erschaffen als auch zerstört hat.

Die verschiedenen Gesellschaftsentwürfe, die eine kritische Alternative enthalten, sind widersprüchlich und lassen sich nicht auf einer simplen Links-Rechts- Achse eintragen. Es gibt wie im Iran radikal antiimperialistische Projekte, die gesellschaftlich konservativ, undemokratisch und zutiefst patriarchal sind. Chinas Transformationsprozess trägt dazu bei, die unipolare Weltordnung der Hegemonie der USA zu untergraben, reproduziert aber zugleich die kapitalistischen Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse in ihrer krudesten Form. Zugleich lassen sich gesellschaftliche Demokratisierungsprozesse ausmachen, die Gleichberechtigung, populare Organisationsformen und eine Ausweitung der Mitbestimmung beinhalten, ohne dabei das hegemoniale Zivilisationsmodell oder die Dichotomie von Gesellschaft und Natur in Frage zu stellen. In welchem Maße entwickeln die so genannten linken oder »fortschrittlichen« Regierungen Lateinamerikas Alternativen zum kapitalistischen Zivilisationsmodell und seinem Verhältnis zur »Natur«? Die Integration Lateinamerikas in den Weltmarkt folgt seit der Kolonialzeit einem Modell der Arbeitsteilung, in dem Mittel- und Südamerika Primärgüter produzieren. Dieses Produktionsmodell basiert auf der Ausbeutung »natürlicher Ressourcen«. Im Zuge des politischen Wandels des letzten Jahrzehnts haben sich keine nennenswerten Veränderungen ergeben. Die Daten der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC) zeigen in dieser Hinsicht keine signifikanten Unterschiede zwischen rechten und linken Regierungen. In den meisten südamerikanischen Ländern ist der Anteil des relativen Werts des Exports von Rohstoffen am Gesamtexportvolumen gleich geblieben oder hat sich sogar erhöht.

 

Entwicklung des Exports von Primärgütern in Südamerika
gemessen am Anteil am Gesamtexportvolumen (in Prozent)

Entwicklung des Exports von Primärgütern in Südamerika gemessen am Anteil am Gesamtexportvolumen (in Prozent)


Hierbei geht es nicht nur um die Verschlechterung der Handelsbedingungen durch den Export von Primär- und Industrieprodukten oder die Vorteile von Importsubstitution. Vielmehr geht es um die Rolle Lateinamerikas im globalen Modell einer Akkumulation durch Enteignung (David Harvey). In den Jahren der neoliberalen Globalisierung nahm die In-Wert-Setzung deutlich zu. Die politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und technologischen Hindernisse, denen sich das Kapital in seinen Versuchen der Landnahme gegenüber sah, wurden nach und nach systematisch abgebaut. Der Anteil Lateinamerikas an diesem Akkumulationsmodell wurde ausgeweitet. Technologische Neuerungen ermöglichten die Ausbeutung von Mineralien und fossilen Brennstoffen in Regionen oder Tiefen, die bis vor einigen Jahren unprofitabel gewesen wären. Innovationen auf dem Feld der Biologie und der Gentechnik haben den Code des Lebens offengelegt und dessen Manipulation ermöglicht. Die neuen Regime der Patente und des geistigen Eigentums haben den privaten Besitz von Lebensformen ermöglicht. Dies sind die neuen Schützengräben des Kapitals und Hauptkampfplatz ist der Globale Süden.

Wie schon während der industriellen Revolution im Vereinigten Königreich findet hier ein Prozess der Aneignung durch Enteignung statt, eine Privatisierung der Gemeinschaftsgüter, die das ermöglichen: Wasser, Wälder, Mineralien, Boden/Ackerfläche und Wissen. Die räuberische Logik der Akkumulation durch Enteignung zerstört die Bedingungen, die Leben ermöglichen, und vernichtet das Acker- und Weideland von Bauern und indigenen Gemeinden auf der ganzen Welt. Veränderungen in der internationalen Teilung der Arbeit haben die industriellen Zentren kapitalistischer Akkumulation nach Asien verlagert und dabei die Rolle Lateinamerikas auf dem Weltmarkt nicht verändert. Sowohl die Nachfrage als auch die Preise von in Lateinamerika produzierten Rohstoffen sind aufgrund der riesigen Wachstumsraten in Asien stark angestiegen. Es gab eine starke Diversifizierung der Exportziele, aber nicht der Exportgüter.

In diesen Jahren war es den meisten Ländern Südamerikas möglich, einen großen Teil ihrer Schulden bei internationalen Finanzorganisation zu tilgen, einen Vorrat an ausländischen Devisen anzulegen und damit (potenziell) einen höheren Grad an Autonomie zu erlangen, um ihre Wirtschaftspolitik neu zu bestimmen. Diese Bedingungen eröffneten die Möglichkeit der Veränderung des Wirtschaftsmodells weg von der Spezialisierung auf Rohstoffexporte. Die breite gesellschaftliche Ablehnung des Neoliberalismus brachte in den meisten südamerikanischen Ländern fortschrittliche Regierungen an die Macht. Damit schienen Bedingungen für andere Wirtschaftsmodelle geschaffen. Doch in den meisten Ländern wurde der Gewinn in Primärgüter reinvestiert, die für den Export bestimmt sind. Diese Kurzsichtigkeit geht auf die zunehmende Macht der in diesen Branchen tätigen Wirtschaftsunternehmen zurück in. Regierungen, die Veränderungen an diesem Modell vornehmen wollten, trafen auf starken Widerstand der rechten Opposition und der Wirtschaft.

In den meisten Ländern, in denen linke Regierungen an der Macht sind, gibt es Politikansätze, die das ausbeuterische Produktionsmodell nicht nur nicht in Frage stellen, sondern es noch befördern und verfestigen. Ein typisches Beispiel für die Auseinandersetzungen im Rahmen der Akkumulation durch Enteignung war der Konflikt zwischen den Interessen der Bergbaugesellschaften und dem Kampf um die Erhaltung der Gletscher in der Andenregion zwischen Chile und Argentinien. Die Regierungen beider Länder haben neue Schritte in Richtung Mega-Bergbau unternommen und das umstrittene Lama-Projekt durchgeführt. Dabei werden in der Grenzregion der beiden Länder in einer Höhe von mehr als 4000 Metern Mineralien abgebaut. Die Gletscher, eine wesentliche Wasserquelle für die Menschen beiderseits der Grenze, werden beschädigt, wenn nicht ganz zerstört. Das Vorhaben wurde von beiden Regierungen genehmigt, obwohl es breiten Widerstand seitens Indigenen- und Umweltorganisationen gab und es von weiten Teilen der Öffentlichkeit abgelehnt wurde. Im Jahr 2008 wurde im argentinischen Parlament das so genannte Gletschergesetz in beiden Kammern einstimmig verabschiedet. Das Gesetz verbietet Tätigkeiten, die die natürlichen Bedingungen der Gletscher verändern, zerstören oder deren Verschiebungen/Bewegungen behindern. Dieses Gesetz wurde durch ein Veto der Präsidentin Cristina Kirchner gekippt. Die Regierungen Kirchners in Argentinien, der Frente Amplio in Uruguay und Lulas in Brasilien haben durch massive Subventionen die Ausbreitung von großflächigen Monokulturen gefördert, darunter Eukalyptus- und Pinienplantagen zur Herstellung von Zellulose, Holz oder Biotreibstoffen. Allein in Brasilien wurde eine Fläche von sechs Millionen Hektar hauptsächlich mit Eukalyptus bepflanzt. Landwirtschaftliche Monokultur bedeutet Verlust von Artenvielfalt und Lebensmittelanbau, ändert Hydrokreisläufe, verkarstet Böden und zerstört indigene Kulturen und Lebensweisen, die auf das ursprüngliche Ökosystem angewiesen sind. Es gibt Auseinandersetzungen über den Landbesitz von Gebieten, in denen indigene und andere traditionelle Gemeinschaften leben.

 

»United Soya Republic«

 

Sojabohnen sind der am schnellsten wachsende Zweig des boomenden Agrarsektors. Auf die rasant steigende internationale Nachfrage haben die Agrarunternehmen mit einer schnellen Ausdehnung des Anbaus in Argentinien, Brasilien, Paraguay und Bolivien reagiert. Die Konzentration von Landbesitz hat Bauern vertrieben, so dass kaum mehr Reis, Mais, Sonnenblumen und Weizen angebautwerden. Gleichzeitig stieg die Macht von Unternehmensgruppen, die an der Soja verdienen. Der Agrarkonzern Sygenta spricht arrogant von der »United Soya Republic«. Im Jahr 2009 wurden in Argentinien schätzungsweise 18 Millionen Hektar, das sind etwa 50 Prozent der gesamten Anbaufläche des Landes, für den Anbau transgener Sojabohnen genutzt und dabei etwa 200 Millionen Liter hoch giftigen Glyphosats verwendet.

Die große Macht der Agrarunternehmen wurde in Lateinamerika dazu benutzt, Regierungspolitiken durchzusetzen, Gesetze abzulehnen und sogar Regierungen zu stürzen. Ein Teil der Führung des radikalen Widerstands gegen Evo Morales im Bezirk Media Luna gehört zu den Sojaerzeugern. In Paraguay kämpfen die vertriebenen Bauern gegen den Anbau von Sojabohnen. In Argentinien hat sich die rechtsextreme Opposition gegen die Regierung von Cristina Kirchner um eine Gruppe von Sojabohnenunternehmern versammelt, die Einfuhrzölle ablehnen, mit denen die Regierung öffentliche Ausgaben und eine moderate Umverteilungspolitik finanzieren will.

Der Versuch der brasilianischen Regierung, den Anbau transgener Sojabohnen zu genehmigen, traf auf starken Widerstand von Umweltorganisationen, der Landlosenbewegung (MST) und der Arbeiterpartei (PT), die die Einführung verhindern konnten. Trotz des Verbots bauten die Sojaunternehmen die Monsanto Roundup Ready Sojabohne im Süden Brasiliens auf einer riesigen Fläche an. Nachdem Lula Präsident wurde, gewährte er den Unternehmen eine vorübergehende Amnestie und gestattete später den Anbau transgenen Saatguts per Gesetz. Dabei ist die Ausbreitung der Sojabohnenfront eine der Hauptursachen für die Abholzung des Regenwaldes am Amazonas.

Es gibt nur wenige Orte auf der Welt, an denen es einen so klar umrissenen Kontrast zwischen zwei Anbauweisen gibt. Das eine Modell lässt sich als das Monsanto- Modell des Exports für den Weltmarkt bezeichnen: Landbesitz konzentriert sich in den Händen weniger, genetisch veränderte Organismen (GVO) werden eingesetzt, die Landwirtschaft ist mechanisiert und setzt auf Agrarchemikalien. Das andere Modell ist das MST-Modell. Es beinhaltet die Neuverteilung von Land, ökologisch nachhaltige Farmwirtschaft, Bevorzugung von Lebensmittelproduktion für den Eigenverbrauch, für lokale und Binnenmärkte sowie Kontrolle über Lebensmittel (Lebensmittelsouveränität).

Das Tempo der Ausweitung des Agrarmarktes in Brasilien ist von der Regierung Lula entschieden worden: Er hat dem Agrobusiness Vorrang eingeräumt gegenüber der Lebensmittelerzeugung der Kleinbauern. Nach Angaben der MST wurden in der Anbauzeit 2007/2008 von der Regierung Kredite im Volumen von 58 Milliarden Reais an Agrarunternehmen vergeben, aber nur zwölf Milliarden an die bäuerliche Landwirtschaft. Auf Landbesetzungen der Bauern antwortete die Regierung mit Repression.

Auch die Förderung von Biotreibstoff aus Zuckerrohr hat die Regierung Lula vorangetrieben. Die Präsidenten Bush und Lula unterzeichneten im Jahr 2007 ein Abkommen über die technologische Kooperation beider Länder, das die Erzeugung von Biotreibstoff massiv beförderte. In diesem Jahr erzeugte Brasilien 17 Milliarden Liter Ethanol. Schätzungen gehen davon aus, dass zusätzlich zu den sechs Millionen Hektar, die bereits als Anbaufläche genutzt werden, weitere 24 Millionen Hektar für den Anbau freigegeben werden. Die Genehmigung des Anbaus und der Vermarktung von zwei Sorten genetisch modifizierten Maises, von Bayer und Monsanto, wird von der Kampagne für ein transgen-freies Brasilien als größte Tragödie der Regierung Lula bezeichnet.

Droge Öl: Venezuela

Nirgendwo ist die Suche nach Alternativen zum vorherrschenden Produktionsund Zivilisationsmodell schwieriger als in Venezuela. Das gesamte Land ist abhängig von dem gegenwärtigen Energiemodell, das das Überleben der Menschheit bedroht. Nach beinahe einem Jahrhundert hat sich im ganzen Land kulturell eine träge Rentiersmentalität herausgebildet. Die Forderungen der Bürgerinnen und Bürger an den Staat gehen vom Bestehen eines reichen Landes mit unerschöpflichen Ölreserven aus. Der Lebensstandard der privilegierten Minderheit des Landes wurde seit Jahrzehnten vom Öl gespeist. Die Sozialgesetzgebung der Regierung Chávez, die einen verbesserten Zugang breiter Teile der Bevölkerung zu Lebensmitteln, Gesundheitsversorgung und Bildung eröffnet, war möglich, weil zur gleichen Zeit der Ölpreis erheblich gestiegen ist.

Die großen außenpolitischen Initiativen wie Petrocaribe und die verschiedenen Programme der Bolivarischen Alternative für Amerika (ALBA) wurden mit Öl finanziert. Vor diesem Hintergrund ist es schwer vorstellbar, dass diese Gesellschaft ihre Abhängigkeit vom Öl überwinden kann. In den Reden zu Beginn der Amtszeit von Präsident Chávez ist immer wieder davon die Rede, ein alternatives und nachhaltiges Gesellschaftsmodell zu schaffen. Chávez sagte wiederholt, dass man mehrere Planeten bräuchte, um den Konsumlevel der USA für alle Menschen der Erde zu ermöglichen. Dennoch hat sich in den zehn Jahren seiner Regierungszeit die Abhängigkeit des Landes von Öl verschärft. Im Jahr 2008 hatte Öl einen Anteil von 92 Prozent am venezolanischen Gesamtexportvolumen. Venezuela hat zum Wiederaufbau der OPEC und deren Fähigkeit der Ölpreiskontrolle beigetragen. Der Staat hat mehr Kontrolle über die Branche und ein größerer Anteil der Ölgewinne wird durch den Staat kontrolliert.

Dennoch haben sich weder die Strategie der staatlichen Ölgesellschaft (PDVA) noch die Bedeutung von Öl in den Entwicklungsplänen des Landes verändert. Die Vorstellung eines Post-Öl-Venezuelas ist nicht in Sicht. Um die Produktion zu erhöhen, wurde in den letzten zehn Jahren stetig investiert und Partnerschaften mit internationalen Unternehmen, staatlichen wie privaten, wurden eingegangen. Die Ölreserven des Landes sind die größten der Welt, größer als die Saudi Arabiens. Die Gasvorkommen sind die bedeutendsten in Südamerika und, zählt man die jüngste Entdeckung vor der Küste mit, die weltweit bedeutendsten. Für die Orinoco- Vorkommen gibt es Verträge mit Indien, Russland, China, Spanien, Iran und Brasilien. Der Strategische Plan für die Entwicklung der Gasvorkommen sieht neben Investitionen von US-Firmen weitere von Firmen aus Italien (ENI) und Norwegen (STATOIL) vor. Die venezolanische Ölgesellschaft PDSA geht davon aus, dass die Ölförderung bis 2012 auf 5,8 Millionen Barrel pro Tag steigen wird. Dies stellt verglichen mit den Zahlen von 2006 einen Anstieg um 72 Prozent dar. Um diesen Sprung zu erreichen, werden große Teile des Staatsgebiets, inklusive des Wassers, für die Förderung von Gas und Öl freigegeben. Im ersten staatlichen Entwicklungsplan der Regierung Chávez heißt es, Venezuela werde zu einer der führenden Energiemächte der Welt werden: »Öl wird weiterhin eine entscheidende Rolle spielen bei der Akquise ausländischer Ressourcen, bei der Generierung von Produktionsinvestitionen, der Befriedigung von Energiebedarf und bei der Konsolidierung eines Sozialistischen Produktionsmodells.«

Ein weiterer Ausdruck der Weiterführung des alten kohlenwasserstoffbasierten Energiemodells zeigt sich in der Binnenmarktpolitik. Ein Liter des teuersten Benzins wird in Venezuela für ungefähr fünf US-Cent verkauft. In der Sierra von Perijá erzeugt die Regierungspolitik die größten Konflikte. Auf der einen Seite stehen Viehbauern und Bergbauunternehmen, auf der anderen indigene Gemeinschaften. Die Regierung scheint dabei zugunsten der Viehwirtschaft und der - teilweise staatlichen - Bergbauinteressen entschieden zu haben. Die in der Verfassung garantierten Rechte der Menschen in dieser Gegend, Barí, Yukpas, Japreria und Wayúum, sowie der Erhalt der knappen Wasserressourcen und der großen Artenvielfalt sind offenbar zweitrangig.

 

Die Natur als Subjekt

 

In Bolivien und Ecuador nehmen die Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Zivilisationsmodellen einen zentralen Stellenwert ein. Die Verfassungstexte beider Länder stellen einen Bruch sowohl mit der liberalen Verfassungstradition wie den überkommenen Projekten der Linken dar. In der Verfassung Ecuadors wurde zum ersten Mal »die Natur« als Rechtssubjekt anerkannt.

Art. 72: »Natur oder Pachamama, wo Leben reproduziert und realisiert wird, hat das Recht, in ihrer Existenz, Aufrechterhaltung und Regeneration ihrer Lebenszyklen, Strukturen, Funktionen und Evolutionsprozesse ganzheitlich respektiert zu werden. . ... Der Staat wird Individuen und Unternehmen und Kollektive dazu ermutigen, die Natur zu schützen und den Respekt für alle Elemente eines Ökosystems zu fördern.

Art. 73: »Die Natur hat das Recht der integralen Wiederherstellung. Die Wiederherstellung ist unabhängig von den Verpflichtungen des Staates und der natürlichen oder juristischen Personen, Individuen und Gruppen zu entschädigen, die von den betroffenen Natursystemen abhängig sind. In Fällen ernster oder dauerhafter Auswirkungen auf die Umwelt, auch durch die Ausbeutung nicht erneuerbarer Naturressourcen, wird der Staat den effektivsten Ablauf für die Wiederherstellung festlegen und geeignete Maßnahmen ergreifen, die schädlichen Konsequenzen für die Umwelt einzudämmen.«

Doch auch wenn der Verfassungstext von Ecuador den größtmöglichen Bruch mit Vorstellungen von Natur als Objekt oder zu vernutzende Ressource darstellt, gibt es starken Widerstand gegen Versuche, die Produktionsweise und hegemoniale Zivilisationsmodelle zu verändern. Der kommt nicht nur von der Opposition und aus der Wirtschaft, sondern auch von offizieller Seite. Das Regierungshandeln steht nicht immer im Einklang mit dem Text der Verfassung. Es besteht eine Spannung zwischen Vorstellungen vom guten Leben, den Rechten der Natur und von Plurikulturalismus auf der einen und der traditionellen Entwicklungsfixierung, wie sie in einigen Entscheidungen der Correa-Regierung zum Ausdruck kommt, auf der anderen Seite. Einige Gesetze weisen in eine deutlich andere Richtung. Ganz im Einklang mit dem Geist der Verfassung, obwohl schon früher geschrieben, formulierte Ecuador einen innovativen Vorschlag hinsichtlich des Klimawandels und des Einflusses fossiler Brennstoffe, ein Hauptfaktor im Klimawandel. Es wurde vorgeschlagen, auf die Förderung der reichen Ölvorkommen im Yasuní Nationalpark im Amazonas zu verzichten, um so die Erderwärmung einzudämmen. Das stellt ein Viertel der nachgewiesenen Ölvorkommen des Landes dar. Die Ölvorkommen unter Tage ruhen zu lassen, würde zum Erhalt einer der artenreichsten Gegenden des Planeten beitragen und gleichzeitig die Gebiete der Ureinwohner schützen. Dieser Vorschlag - der einen radikalen Bruch mit dem hegemonialen produktivistischen Modell darstellt - erfordert im Rahmen der Logik der Umweltgerechtigkeit als Gegenpart die Einrichtung eines Entschädigungsfonds. Dieser würde durch die Zusammenarbeit und Solidarität der internationalen Gemeinschaft finanziert.

Anstelle dieses Vorschlags verabschiedete der Kongress im Januar 2009 ein neues Bergbaugesetz, das von Indigena- und Umweltorganisationen abgelehnt wird. Sie argumentieren, dass mit dem Gesetz ihr verfassungsmäßiges Recht auf ein gutes Leben und die Rechte der Natur beeinträchtigt werden. Die Ausweitung des Bergbaus, insbesondere des Tagebaus, der durch dieses Gesetz genehmigt werde, führe zu einer Verschmutzung des Lands, der Flüsse und Wasserläufe. Darüber hinaus wurde kritisiert, dass ein Gesetz mit solch weitreichenden Konsequenzen für das Land ohne öffentliche Debatte verabschiedet wurde und der Inhalt nicht mit den indigenen Gemeinschaften, Völkern, Menschen und Nationalitäten beraten worden sei, wie die Verfassung es vorsehe, wenn ein Gesetz die Kollektivrechte einschränkt. Im März 2009 reichte die Konföderation Indigener Nationalitäten Ecuadors (CONAIE) beim Verfassungsgericht eine Klage auf Verfassungswidrigkeit ein. Die größte Umweltorganisation Ecuadors schloss sich dieser Forderung an. Eine Entscheidung steht noch aus.

 

Aus dem Englischen von Catharina Schmalstieg

 

Erschienen in Luxemburg - Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 1-2010, S.76ff.