Deviant und unmagyarisch

Ungarn nach den Wahlen: Wie wirkt sich der massive Rechtsruck auf Gender- und LGBT-Aktivismus aus? Ein Report aus Budapest.

Sonntag Abend im Café Vis Major am Pester Brückkopf der Margaretenbrücke. Im Souterrainlokal sitzen etwa zehn Personen und spielen Karten. Wer Bescheid weiß, erkennt die Codes: Das sind lesbische Frauen, auch eine F/M-Transgenderperson ist dabei. Heute ist „Pikk Dáma játékklub”, der wöchentliche lesbische Spieleabend. Dort treffe ich Mária Kristóphy, LGBT-Aktivistin und Mitinitiatorin von Pikk Dáma. Etwas abseits diskutieren wir bei hausgemachter Limonade, was der Aufschwung des Rechtsextremismus und das jüngste Wahlergebnis für Gender- und LGBT-Aktivist_innen bedeuten.

Diskurswandel. Paramilitärische Aufmärsche, Mordanschläge in Romasiedlungen und hassverzerrte Neonazi-Gesichter am Rand der Budapest Pride: Die deutschsprachige Presse griff auch schon vor den Wahlen im April 2010 die starken Lebenszeichen des ungarischen Rechtsextremismus auf. In ihrem aktuellen Buch „Aufmarsch” beschreiben die österreichischen Journalisten Gregor Mayer und Bernhard Odenahl anschaulich die Hintergründe. Dort machen sie auch deutlich, dass der populistische Wahlsieger Viktor Orbán von der rechtskonservativen FIDESZ/KDNP (1) die 16,7 Prozent der Wahlstimmen für die rechtsextreme Partei Jobbik (2) durchaus mitzuverantworten hat. Vor allem gehen die deutlichen Verschiebungen des öffentlichen Diskurses, in dem rechtsextreme Versatzstücke Platz greifen, auf sein Konto: Der rassistische Begriff „Zigeunerkriminalität”, Revisionswünsche des Trianon-Vertrages, aufgeladene Nationalsymbole, antisemitische Argumentationen und antidemokratische Äußerungen werden schließlich auch gerne von der „Mitte” bedient. (3)
Wie viel davon wird in die Regierungsarbeit einfließen? FIDESZ/KDNP hat die Zweidrittel-Mehrheit im Parlament und somit die Möglichkeit, auch Verfassungsgesetze im Alleingang zu verändern. „Was jetzt passieren wird, lässt sich schwer vorhersehen. In zwei, drei Monaten wissen wir mehr.” Mária ist vorsichtig mit Prognosen der Auswirkungen auf das Leben von Menschen, die einen Weg abseits der Heteronorm gehen. Dass sie von solchen Wegen wenig halten, haben die national-konservativen Abgeordneten bereits deutlich gemacht.

Die Reproduktion der Nation. Vera Szigeti ist feministische Aktivistin, Psychologin und Mitarbeiterin bei der Gewalt-Hotline NANE. Mit ihr spreche ich über die Gender-Bilder der rechten Parteien. „Wenn wir nur über Sexismus sprechen, ist FIDESZ/KDNP viel radikaler als Jobbik. Die Rechtsextremen konzentrieren sich auf Rassismus und Antiziganismus, Gender ist kein großes Thema. Für die National-Konservativen hingegen ist der ,Schutz der Familie’ zentral.” Zuletzt kritisierten Abgeordnete der KDNP – mit lautem Echo in rechtskonservativen Medien – eine Regierungsanordnung für Kindergärten, die vorsieht, dass Kindergartenerziehung „die Verstärkung von Geschlechterstereotypen bewusst meiden und den Abbau von Vorurteilen im Zusammenhang mit der Gleichberechtigung der Geschlechter in der Gesellschaft fördern” soll. Die Geschlechterstereotype, also die traditionelle Unterscheidung zwischen Frau und Mann und ihren Aufgaben, seien die Grundlage der Familie und des Fortbestehens der Menschheit, die „Gender-Ideologie” daher lebensfeindlich und gegen die Natur, so eine christliche Bildungspolitikerin. Die Familienrechtsordnung werde unter der neuen Regierung entsprechend geändert.
Einige Abgeordnete der Regierungsfraktion reichten auch bereits Pläne zur Änderung des Familienrechts ein, die verpflichtende eheliche Treue und Erschwernisse bei Scheidungen beinhalten. Für Vera Szigetis Beratungsarbeit bei der Gewalt-Hotline ist dieser familienideologische Diskurs auf keinen Fall hilfreich: „Viele Frauen, die ihren gewalttätigen Partner verlassen, besonders in ländlichen Regionen, haben ohnehin schon neben ökonomischen Sorgen meist Angst, nicht mehr respektiert zu werden, und schämen sich.”

Rechte Gender-Repräsentationen. Der rechten Ideologie folgend besteht das FIDESZ/KDNP-Kabinett ausschließlich aus Männern. Die Praxis der rechtsextremen Jobbik unterscheidet sich im Bezug auf Gender jedoch tatsächlich. „Jobbik und andere rechtsextreme Organisationen sind in diesem Punkt sehr widersprüchlich”, erklärt Vera Szigeti. Denn trotz ihres völkisch begründeten Geschlechterverständnisses scheinen die männerbündischen Reihen bisweilen durchlässiger. Das weibliche Aushängeschild von Jobbik ist Krisztina Morvai, die 2009 triumphierend ins Europäische Parlament einzog. Sie galt einst als Feministin und Kämpferin für ein Wegweiserecht für prügelnde Ehemänner. Seit 2006 unterstützt die Juristin die rechtsextremen Umtriebe der Jobbik-Partei mit intellektueller Argumentation und Menschenrechtsdiskursen. Sie präsentiert sich selbst als selbstbewusste Frau, betont aber zugleich ihr Muttersein und tritt auch gerne in der Uniform der paramilitärischen Ungarischen Garde auf. Auch diese ist scheinbar selbstverständlich für Frauen offen, erstaunlich viele marschieren in Reih und Glied mit ihren Kameraden.
Zwar sorgte sich auch Jobbik im Wahlprogramm um die Familie, denn die ungarische Nation und deren Bevölkerungsbestand seien in Gefahr. Doch die völkischen Familienvorstellungen scheinen kaum die üblichen Fragen zu den Geschlechterrollen heraufzubeschwören. Umso mehr herrscht hasserfüllte Ablehnung von Homosexualität: Die Familie müsse gegen unmagyarische „deviante Lebensformen” verteidigt werden. Und das tun sie dann auch: Mit allen Mitteln solle diese Provokation der guten Sitten verhindert werden, verlautbarte Jobbik etwa im Vorfeld der Budapest Pride Parade 2009.

Geliebtes Feindbild. Sowohl FIDESZ/KDNP als auch Jobbik sind erklärte Gegner des Partnerschaftsgesetzes für gleichgeschlechtliche Paare, das seit Juli 2009 in Kraft ist. FIDESZ/KDNP hat bereits wiederholt angekündigt, das Gesetz zurückzunehmen – der zuvor erwähnte Änderungsantrag zum Familienrecht nennt dies eine dringende Angelegenheit.
Solche Pläne delegitimieren alternative Lebensweisen und unterstützen gleichzeitig das tätliche Vorgehen rechtsextremer Gruppen gegen die jährliche Parade zum Christopher Street Day, die seit einigen Jahren ein beliebtes Angriffsziel darstellt. Auch 2009 lieferten sich Neonazis Straßenschlachten mit der Polizei, doch konnte im Unterschied zum Juli 2008 – als die Demonstrierenden aus direkter Nähe mit Steinen und Eiern beworfen worden waren – die Polizei die Teilnehmer_innen des Umzugs vor direkten Konfrontationen schützen. Mária Kristóphy, u.a. Mitorganisatorin der Budapest Pride, ist zuversichtlich, dass mit derselben Strategie auch heuer ein sicherer Ablauf der Demonstration am 10. Juli möglich sein wird. Die Route ist polizeilich genehmigt, bisher sind noch keine Aufrufe rechtsextremer Gruppen bekannt. Kristóphy erwartet aber politische Interventionen, im Anschluss an die bevorstehenden Neubesetzungen hoher Polizeiposten. Die Parade, so die Aktivistin, werde der erste Anlass nach den Wahlen sein, bei dem alle Parteien ihre Positionen deutlich machen müssen.

Homosexualität kennenlernen. Die Pride-Parade als eine Provokation der guten Sitten – solche Meinungen diskutiert Mária Kristophy auch in ungarischen Schulen. Unter dem Titel „Melegség és Megismerés” (Homosexualität kennenlernen) organisieren die Lesbenorganisation Lábrisz und die Schwulenorganisation Simpozion ein Programm für Schulklassen. Zwei Aktivist_innen stellen dabei jeweils ihre persönliche Geschichte in den Mittelpunkt der Diskussion und klären Missverständnisse rund um Begriffe wie Homophobie, Travestie und Transgender. Nicht nur um Homosexualität gehe es dabei, sondern auch um eine allgemeine Sensibilisierung für Diskriminierung. Die Rückmeldungen seien überwiegend positiv oder zumindest neutral, und die meisten dieser Jugendlichen noch nicht stark politisiert. Dennoch erzählt Mária von einer 16-jährigen Jobbik-Aktivistin in einer Waldorfschule, die sich weigerte, an dem Programm ihrer Klasse teilzunehmen. „Nachdem ihre Mutter darauf bestand, musste sie uns zuhören, auch wenn sie am Ende nur schmollend in einer Ecke saß.”
Wird dieses Programm weiter stattfinden können? Wie nach jedem Machtwechsel in Ungarn, ist mit einem massiven Personalwechsel in der Administration zu rechnen, speziell im Bildungswesen könnte sich ein solcher bemerkbar machen. „Meine größte Befürchtung ist, dass die Rechten einen wesentlichen Einfluss auf die Bildung ausüben werden – der auch deshalb so nachhaltig sein kann, weil sie dadurch ihre Ideologie verbreiten”, so Vera Szigeti.
Wie anhaltend die rechte Hegemonie wirken kann, das wird nicht zuletzt davon abhängen, wie breit und vielfältig sich Widerstand formiert, an bestehende Gruppen und NGOs anknüpft und sich thematisch vernetzt – etwa mit antirassistischen Initiativen. Es wird darum gehen, dieser Hegemonie öffentlich Realität und Utopien der „unmagyarischen devianten Lebensformen” entgegenzusetzen. Solcher Widerstand könnte rund um die Pride-Vorbereitungen wachsen – und vielleicht ebenso im Café Vis Major, wo auch der monatliche Gobbi Hilda Filmklub stattfindet, bei Pikk Dáma am Sonntag Abend.

Rosemarie Ortner lebt und arbeitet in Wien und Budapest.

Anmerkungen:
(1) FIDESZ (Bund junger Demokraten) und KDNP (Christlich-demokratische Volkspartei) bilden eine Fraktionsgemeinschaft, die nun die absolute Parlamentsmehrheit hat.
(2) Jobbik („die Besseren”, auch „die Rechteren”) spricht von nationaler Erneuerung und vermischt die traditionellen Themen der extremen Rechten mit antisemitisch-globalisierungskritischen Elementen. Besonderes Aufsehen erregt im Ausland die von Jobbik-Chef Gábor Vona gegründete paramilitärische „Magyar Gárda” (Ungarische Garde), die in faschistischen Uniformen der 1940er Jahre nachempfundenen Kostümen martialische Aufmärsche in Roma-Siedlungen veranstaltet. 2009 verboten, wurde sie sofort wiedergegründet. Obwohl das Tragen der Uniform in der Öffentlichkeit verboten ist, erschien Gábor Vona in Gardeweste zur Angelobung im Parlament.
(3) Informationsquellen zu Rechtsextremismus und Antifa-Organisationen in Ungarn: http://pusztaranger.wordpress.com (Deutsch) und www.antifa-hungary.blogspot.com (Ung., Deutsch, Engl.)

Quellen und Links:

Kinga German, Krisztina Kovács, Christine Czinglar: Theorie – Praxis – Kooperationen: Gender/Kunst/Kulturtheorie. Budapest: 2010

Gregor Mayer und Bernhard Odenahl: Aufmarsch. Die rechte Gefahr aus Osteuropa. Residenz Verlag 2010. Blog auf www.residenzverlag.at

Labrisz: www.labrisz.hu
NANE: http://nane.hu
Simpozion: http://melegvagyok.hu
Nök a pályan: http://nokapalyan.hu

Termine:
http://budapestpride.hu
Kultur- und Filmfestival, 4.-11.7.2010
Pride March, 10.7.2010 – Unterstützung erwünscht!

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin, www.anschlaege.at