Der Staat und die Freiheit

Zu Foucaults Analytik der Regierung

Weshalb wirken die Menschen an ihrer eigenen Unterwerfung mit, als läge darin zugleich ihre Erfüllung? Diese elementare Frage der politischen Philosophie, die mit Spinoza, Hegel und Nietzsche auf eine ehrwürdige Tradition verweisen kann (Ellrich 2009), ist heute vielleicht aktueller denn je. Denn die Einsicht des klassischen Liberalismus, dass nicht in Gewalt und Zwang, sondern im Anschein der Freiheit die perfekte Form der Machtausübung liegt (Rousseau), erfährt in unserer Gegenwart eine eigentümliche Fortsetzung. Sie realisiert sich im neoliberalen Imperativ, unermüdlich Erfolgsausweise zu erbringen, in einer doppelten Unterwerfung: unter den Anreiz des Erfolgs und den permanenten Leistungsvergleich – den allgegenwärtigen Evaluationstechnologien kann man sich kaum entziehen (Bröckling/Krasmann/Lemke 2004). Zugehörigkeit ist nicht erst auf der untersten sozialen Stufenleiter konditional (Rose 1999), aktive Mitwirkung vielmehr zur allgemeinen gesellschaftlichen Bedingung geworden. Wer dem zu entkommen sucht, dem droht nicht nur der Entzug sozialer Anerkennung und materieller Ressourcen, sondern letztlich jeglicher Partizipationschancen. Dabei ist es keineswegs nur die Angst vor dem Absturz (Barbara Ehrenreich) und sozialem Ausschluss, sondern eben auch der Anreiz, der diese doppelte Unterwerfung funktionsfähig macht: das Begehren, dazuzugehören und besser zu sein. Die Wettbewerbslogik des Marktes evoziert offenbar, was sie verlangt: die Ausübung der Freiheit mit Enthusiasmus.
Mit dem Begriff der Regierung hat Michel Foucault (2004a, b) das Zusammenspiel von Freiheit und Unterwerfung zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen gemacht und in der Rezeption der Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität eine entsprechend neue Lesart von Machtmechanismen und insbesondere einer neoliberalen Machtkartographie provoziert. Vergleichsweise wenig Beachtung gefunden hat unterdessen Foucaults theoretischer Zugriff auf Prozesse der Staatsformierung. Staat und beispielsweise auch die Politik der Inneren Sicherheit erweisen sich weniger als hierarchische Konfigurationen, auch sie beruhen vielmehr auf Formen der Einbeziehung und aktiven Mitwirkung der AdressatInnen der Regierung. Staatlichkeit verändert sich demnach nicht nur in Übereinstimmung mit bestimmten Formen der Subjektivierung, der Staat ist vielmehr selbst als ein gesellschaftliches Verhältnis zu begreifen (Lemke 2007).
In diesem Licht sind auch die beiden, in den vergangenen Jahrzehnten beobachtbaren Bewegungen der Staatsformierung – der neoliberale „Rückzug des Staates“ im Sinne einer Verlagerung der Verantwortung für die soziale Sicherheit auf die/den Einzelnen einerseits und die Ausweitung staatlicher Interventionsbefugnisse im Namen der Sicherheit der Bevölkerung andererseits – nicht als gegenläufige Entwicklungen, sondern als Mechaniken einer spezifischen Machtmatrix zu entschlüsseln. Es handelt sich nicht um eine Öffnungsbewegung einerseits, die den Einzelnen in „mehr“ selbstunternehmerische wiewohl prekäre Freiheit entlässt, und eine Schließungsbewegung andererseits, in der „mehr“ Sicherheit zugleich eine Einschränkung der Freiheit der Bürger durch immer mehr Sicherheitsgesetze und -maßnahmen bedeutet. Wirksam sind hier, so die These, beide Male spezifische Sicherheitsmechanismen (Foucault 2004a, Vorl. vom 11. Januar 1978), die Verhalten weniger über die direkte Ansprache und Einflussnahme, als vielmehr indirekt über die Schaffung von Möglichkeitsräumen und deren Begrenzung steuern. Freiheits- und Sicherheitsversprechen fungieren gleichermaßen als Vehikel der Mobilisierung wie der Einbindung; sie stellen eine Beziehung zwischen Regierung und Regierten her und sie produzieren im Gegenzug spezifische Ausschlussmechanismen (vgl. Foucault 2004b, 97).
„Uncertainty makes us free“, so dekretierte der neoliberale Theoretiker Peter Bernstein Ende der 1990er Jahre programmatisch (O’Malley 2009) und spielte damit auf jenes Doppelspiel von Anreiz und Ungewissheit an, das aktive Mitwirkung erzeugt, bzw. wahrscheinlich machen soll, und zugleich das Moment des Erzwungenen in der Freiwilligkeit unkenntlich werden lässt. Auch die Regierung im Namen der (Inneren) Sicherheit beruht auf Einbeziehung und zugleich auf Unsicherheit oder Ungewissheit. Denn Sicherheit ist kein positiver Begriff, sie beschreibt vielmehr eine Abwesenheit: von Gefahren und Bedrohungen – die im gleichen Zug evoziert werden und somit präsent oder zumindest latent bleiben als eine „reale Möglichkeit“ (Carl Schmitt). Das Versprechen der Sicherheit, das sich auf die Bevölkerung als Adressaten bezieht, nimmt diese immer schon für sich ein, es hält das Moment der Einwilligung gleichsam bereit. Der „Sicherheitsvertrag“ zwischen Regierung und Regierten begründet demnach, anders als bei Hobbes, kein Herrschaftsverhältnis, eher ein Einvernehmen (Krasmann 2010); anders auch als der liberale Gesellschaftsvertrag ist jener nicht zuerst rechtlich begründet. Die Regierung im Namen der Sicherheit produziert vielmehr ihrerseits Recht: Sicherheitsgesetze, welche die Überschreitung bisheriger rechtlich definierter Grenzen staatlicher Intervention im Namen der Sicherheit, der Abwehr von Gefahren und Bedrohungen rechtfertigen. Der Sicherheitsvertrag ist, darin wiederum gleicht er den klassischen Denkfiguren, exklusiv: Die Gefahren und Bedrohungen markieren das Andere der Gesellschaft, der Schutz der Bevölkerung bedeutet zugleich die Ausgrenzung oder Ausmerzung ihrer „Gefährder“ oder „Feinde“.
Wenn Sicherheitspolitik derart mit Foucaults Begriff der Regierung dechiffrierbar ist, so auf der Grundlage einer völlig anderen Konzeption von Staatlichkeit, als sie in den Sozialwissenschaften traditionell verhandelt wird. Der moderne (demokratische Rechts-)Staat erscheint hier mal als universales Modell, als neutraler Garant des Rechts, der Einhegung von Macht und der Gewährleistung von Sicherheit; mal als übermächtiger, quasi-autonomer Akteur, als Instrument einer herrschenden sozialen Gruppe oder verselbständigter bürokratischer Apparat (vgl. Foucault 2004b, 115).
Demgegenüber ist der Staat in einer Gouvernementalitätsperspektive zuallererst nicht als ein der Analyse und gesellschaftlichem Wissen vorausgesetztes (und auch insofern normatives) Gebilde zu begreifen, sondern stets als eine Form von Staatlichkeit, die aus Kommunikationen und Interaktionen, aus Techniken und Verfahren und den mit ihnen verbundenen Formen des Wissens erst hervorgeht. „Der Staat ist eine Praxis“ und nicht zu trennen von den Praktiken, die ihn als solchen hervorgebracht haben (Foucault 2004a, 400). Staatlichkeit stellt sich demnach nicht nur als eine historisch kontingente, in Abhängigkeit von Technologien der Regierung beständig sich verändernde, sondern als eine genuin von Menschen gemachte Konfiguration dar.
Schon die Entstehung des Staates beschreibt Foucault als ein „reflexives Ereignis“ (2004a, 399) – das Moment der Einschreibung in die gesellschaftliche Wahrnehmung ist hier zentral: „Die Geschichte des Staates soll auf der Grundlage der Praxis der Menschen geschrieben werden können, auf der Grundlage ihres Tuns und der Art und Weise ihres Denkens.“ (ebd., 513) Seine spezifisch moderne Form nimmt der Staat an, indem eine Vielfalt bereits bestehender Apparate, Gesetze und Verfahren sich im Denken und Handeln der Menschen zu einer mehr oder weniger einheitlichen Gestalt kristallisiert. Der Staat wird zu einem Deutungsprinzip und zu einem Prinzip der „Finalität“ (ebd., 400). Der moderne Rechtsstaat konnte so zu einer normativen Figur werden, die sich aber gerade nicht selbst genügt. Rechtsstaatlichkeit muss gesellschaftlich vielmehr immer wieder neu ausgeübt und hergestellt werden. Ausgangspunkt der Analyse ist demnach nicht der moderne Staat oder der demokratische Rechtsstaat als eine normative Voraussetzung, sondern umgekehrt die Frage, wie bestimmte Formen von Staatlichkeit selbst zur Norm werden; wie bestimmte Interventionsfelder geschaffen, aber auch dem gestaltenden Zugriff entzogen werden.
Die Geschichte des Staates stellt sich für Foucault nicht als eine kontinuierliche Bewegung der „Verstaatlichung“ oder Verrechtlichung der Gesellschaft dar, eher beschreibt sie einen Prozess der „Gouvernementalisierung des Staates“ (2004a: 163), der von den Anforderungen einer Regierung der Bevölkerung her zu dechiffrieren ist. „Das, was man regiert,“ so Foucault (ebd., 183), ist nicht der Staat oder ein Territorium, „es sind Menschen, Individuen und Kollektive“, die zum Gegenstand einer bio-politischen, auf die Förderung des Lebens und des Wohlstands der Bevölkerung ausgerichteten Ökonomie der Macht werden (vgl. ebd., 162). Staatlichkeit konfiguriert sich im Verhältnis zu den je identifizierten Problemen einer Regierung der Bevölkerung. Staatsgewalt wird so lesbar als Ratio einer biopolitischen Macht, die das Leben der Bevölkerung zu schützen verspricht und die im gleichen Zuge über Lebensformen verfügt.
Der Begriff der Regierung, der sich historisch und quer zur herkömmlichen Rahmung in Politik und Staat auf die verschiedensten Formen der „Menschenführung“ bezieht, bezeichnet eine reflektierte, auf eine „Ökonomie“ der Macht ausgerichtete Praxis, die auf ihre eigene Rationalisierung angewiesen ist. Und gerade hierin liegt analytisch das Moment der Einbeziehung in die Regierung: Rationalität meint keine Vernunft im substanziellen Sinne. Gegenstand und Ziele, Mittel und Zwecke des Regierens variieren vielmehr selbst in verschiedenen Rationalitätsformen, das heißt mit den Konzepten der Wahrnehmung und des Denkens, welche die Wirklichkeit erst vorstellbar und insofern handhabbar, dem Kalkül und der Gestaltung zugänglich machen. Rationalitäten des Regierens zu untersuchen heißt folglich zu eruieren, wie Sphären politischer Intervention überhaupt erst in Prozessen der Unterscheidung (z.B. öffentlich versus privat; ökonomische versus soziale Belange) hergestellt werden; wie Problematisierungen gesellschaftlicher Verhältnisse, Bedrohungen, Brennpunkte usw. politische Handlungsfelder und Steuerungsoptionen eröffnen; welche Techniken und Verfahren welche Verhaltensweisen hervorrufen; welche Maßnahmen aufgrund bestimmter Annahmen erst folgerichtig erscheinen – kurzum wie die Rationalisierung der Regierung ihre eigenen Voraussetzungen der Ausübung von Macht schafft. Sie produziert ihre Gegenstandsfelder und Objekte, sie formt Subjektivitäten und bindet die Subjekte in die Regierung ein, die sie selbst hervorgebracht hat: den freien Bürger, das autonome Rechtssubjekt, die Zivilgesellschaft, die Bevölkerung als Adressat staatlicher Garantien wie der Freiheit und Sicherheit.



Literatur
Bröckling, Ulrich, Susanne Krasmann und Thomas Lemke (Hg.) (2004): Glossar der Gegenwart, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Ellrich, Lutz (2009): Metamorphosen und Maskeraden. Spielarten politischer Un-/Sichtbarkeit, in: Ders., Harun Maye und Arno Meteling, Die Unsichtbarkeit des Politischen. Theorie und Geschichte medialer Latenz, Bielefeld: transcript, 213-337.
Foucault, Michel (2004a): Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (2004b): Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978-1979. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Krasmann, Susanne (2010): Der Präventionsstaat im Einvernehmen, in: Hempel, Leon, Dies. und Ulrich Bröckling (Hg.), Sichtbarkeitsregime. Überwachung, Sicherheit und Privatheit im 21. Jahrhundert, Leviathan Sonderheft 25.
Lemke, Thomas (2007): Eine unverdauliche Mahlzeit? Staatlichkeit, Wissen und die Analystik der Regierung, in: Susanne Krasmann/Michael Volkmer (Hg.), Michel Foucaults ›Geschichte der Gouvernementalität‹ in den Sozialwissenschaften. Internationale Beiträge, Bielefeld: transcript, S. 47-73.
O’Malley, Pat 2009: ‘Uncertainty Makes Us Free’. Liberalism, Risk and Individual Security, Paper presented for the 600th Anniversary of Leipzig University, May.
Rose, Nikolas, 1999: Powers of Freedom. Reframing Political Thought, Cambridge: Cambridge University Press.


Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Sommer 2010, „Gewaltverhältnisse“.