Die Araber, der Holocaust und die universalistische Moral

Rezension des Buches: Gilber Achcar: Les Arabes et la Shoah. La guerre israélo-arabe des récits. Arles: Actes Sud, 2009.

in (18.07.2010)

Wer als Deutscher mit „durchschnittlichen" Arabern in Berührung kommt, stößt bei der ersten Begegnung oft auf Bekundungen von Solidarität und Freundschaft, die sich positiv auf Nazideutschland beziehen - im Hinblick auf die Konstellation des Zweiten Weltkriegs, als Deutschland gegen die für die Araber relevanten Kolonialmächte stand, aber durchaus auch in positiver Erinnerung an den Antisemitismus der Nazis und den Massenmord an den Juden. Diese Haltung kann man historisch erklären, man mag auch mit mehr oder weniger Erfolg dagegen argumentieren. Es bleibt ein ausgesprochen ungutes Gefühl.

Die hier in krasser Form zutage tretenden unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Sichtweisen der meisten Menschen im Westen einerseits und vieler Araber andererseits deuten auf eine tiefe Bruchlinie hin. Wer im Westen auch nur halbwegs humanistisch, aufgeklärt, progressiv denkt, hat den Abscheu vor dem Holocaust als wesentlichen moralischen Kompass verinnerlicht. Für die meisten Araber trifft das nicht zu. In Achcars Worten: „Das kommt daher, daß der Westen - außer einigen minoritären Überresten von Judenfeindschaft und Antisemitismus - weiterhin mit den Augen des Schuldigen auf die Shoah blickt, und zwar mit Recht, während die arabische Welt und der größte Teil der Dritten Welt auf den Staat, der sich auf die Opfer dieser selben Shoah beruft, in solidarischer Identifikation mit den Augen der Opfer der Nakba und des späteren Verhaltens des Staats Israel blicken. Dieser Umstand lastet sehr schwer auf der Rezeption der Shoah im arabischen Orient: Er kompliziert sie in einzigartiger Weise" (S. 57f.).

Viele Freunde der Araber verdrängen das hier angesprochene Problem, weil es sie peinlich berührt oder verstört. Andere, die man kaum zu den Freunden der Araber zählen kann, greifen diese Beobachtungen auf, verallgemeinern sie und machen sie zu einem Anklagepunkt gegen alle Araber, die in dieser Sicht als Erben der Nazis und durchweg von eliminatorischem Antisemitismus beseelt erscheinen. Darstellungen, die das Problem mutig und gründlich anpacken, ohne in Essentialismus und pauschale Araber-Anschwärzung zu verfallen, sind ausgesprochen selten. Gilbert Achcars Buch ist wohl der gewichtigste Beitrag in diesem Sinn. Es geht von der angedeuteten Situation - problematisches Verhältnis vieler Araber zum Holocaust - aus. Achcar leugnet diese Problematik nicht, die sich in vielen Äußerungen von arabischen Intellektuellen wiederfindet. Manchmal wird nicht oder unzureichend zwischen Israel und den Juden unterschieden, manchmal wird der Holocaust geleugnet oder werden seine Dimensionen reduziert. Manche Beobachter behaupten auch, die Araber hätten sich bei der Herausbildung nationalistischer Konzeptionen am deutschen Typ des Nationalismus orientiert, der aus bestimmten, in der deutschen Situation bedingten Gründen besonderen Wert auf Abstammung legte und potentiell fremdenfeindlich war. Da die Araber ähnlich wie die Deutschen eine territorial zersplitterte und in der Entwicklung behinderte Gruppe seien, hätten sie eben den deutschen Typ des Nationalismus übernommen und so in bestimmtem Sinn den deutschen „Sonderweg" fortgesetzt.

Die genannten Komplexe - Nähe vieler Araber zum deutschen Nationalsozialismus und ähnliche „Sonderwege" von Deutschen und Arabern - werden oft zu einem nicht präzisen, aber recht verbreiteten Bild von „den" Arabern als Schülern der Deutschen, Bewunderern des Nationalsozialismus und tatsächlichen oder potentiellen Antisemiten zusammengeführt - einem enorm negativen Bild der Araber also.

Gilbert Achcar nimmt sich vor, die angedeuteten Themen - Verhältnis zu Nazideutschland, Haltung zu den Juden, Judenfeindlichkeit, Antisemitismus und Wahrnehmung des Holocaust - im modernen arabischen Denken genau zu untersuchen. Er leitet seine Darstellung mit einem Kapitel ein, das sowohl den Holocaust (in seinem französisch geschriebenen Buch spricht er von „Shoah") wie auch die palästinensische Katastrophe („Nakba") von 1948 in ihrer jeweiligen Bedeutung für die Betroffenen, aber auch für das Geschichtsbild großer Teile der Menschheit behandelt. Er tut dies sehr feinfühlig, wohl vergleichend, aber ohne gleichzusetzen oder gar gegeneinander aufzurechnen. Er zeichnet den Holocaust in seiner ganzen Monstrosität und damit in seiner besonderen Bedeutung für das jüdische und für das Bewußtsein der modernen Menschheit insgesamt, wendet sich aber gegen den Gedanken, daß alle anderen Geschichtskatastrophen vor dem Holocaust verschwinden. In impliziter Wendung gegen die oft geäußerte Verwunderung darüber, daß der israelisch-palästinensische Konflikt so viel Aufmerksamkeit erfährt und daß das israelische Verhalten scharf kritisiert wird, obwohl es doch schlimmere Menschenrechtsverletzungen und Massaker gibt, sagt Achcar: „Der außergewöhnliche Charakter des israelisch-palästinensischen Problems rührt zuallererst daher, daß keine andere Bevölkerung, die aktiv an einem modernen Kolonialunternehmen beteiligt war, einer so alten und so brutalen Unterdrückung wie dem europäischen Antisemitismus entkommen war. Keine hat eines der überwältigendsten Verbrechen der menschlichen Geschichte, wenn nicht das überwältigendste, überlebt, wie es bei den europäischen Juden der Fall war, die nach Palästina auswanderten und Israel gründeten" (S. 51).

Die eigentliche Untersuchung beginnt mit der im Grunde selbstverständlichen, aber zu oft ignorierten Feststellung, daß es „die" Araber nicht gibt, daß die Araber ebenso wie andere große Menschengruppen aufgrund aller möglichen Kriterien in Untergruppen aufgeteilt sind, was man bei jeder Aussage über sie im Auge behalten muß.

Achcar teilt seine Untersuchung in zwei große Abschnitte: die Zeit der Shoah (bis zur Gründung Israels 1948) und die Zeit der Nakba (alles danach). Für den ersten Zeitabschnitt ordnet er die Araber nach ihrer politischen und kulturellen Ausrichtung vier Kategorien zu: westlich orientierte Liberale, Linke, arabische Nationalisten und „reaktionäre und integristische Panislamisten". Angehörige jeder dieser Kategorien untersucht er im Hinblick auf das große Thema des Buchs: Verhältnis zum Nationalsozialismus, Äußerungen zum Holocaust, zu den Juden, zum Zionismus und zum Staat Israel. Die Zeit der Nakba ist für Achcar die ganze Epoche seit 1948, seit der Gründung des Staats Israel und der Katastrophe für die Palästinenser, die mit ihr einherging: Flucht und Vertreibung von etwa 750.000 Palästinensern, Entvölkerung und Zerstörung von mehr als 400 ihrer Dörfer, Übernahme des größten Teils ihrer städtischen Immobilien und ihres Agrarlands durch Israelis - alles mit sehr unfeinen Methoden, unter Einsatz physischer Gewalt einschließlich regelrechter Massaker und ohne Rückkehrmöglichkeit für eine nennenswerte Zahl von Vertriebenen. Ein Unrecht historischen Ausmaßes, für das Israel bis heute keine Verantwortung übernommen hat.

Achcar teilt diese Epoche in drei Perioden: die der Dominanz von Nasser als Führungsfigur (bis zur arabischen Niederlage im Junikrieg von 1967), die Zeit der ideologischen Vorherrschaft der PLO (bis 1988) und die der islamistischen Hegemonie seitdem.

Sowohl für die politischen Strömungen vor 1948 wie für die Hauptprotagonisten der jeweiligen Perioden nach 1948 untersucht Achcar ihr Verhältnis zu Nazideutschland, zu den Juden und zum Holocaust, und wo es sich anbietet auch zum Zionismus und zum Staat Israel. Er tut das sehr gründlich, indem er ihre Äußerungen analysiert und in den jeweiligen Kontext stellt. Er kommt zu dem Schluß, daß für die meisten Strömungen und Protagonisten von einer ideologischen Nähe zum Nationalsozialismus und von ausgesprochenem Antisemitismus nicht die Rede sein kann. Am ehesten läßt sich eine durchgehende Tendenz zur Judenfeindschaft bei der konservativ-panislamischen Richtung vor 1948 sowie bei den Islamisten nach 1948 feststellen. Auch hier ist sie aber nicht „immer schon da gewesen", sondern in massiver Form erst im Zuge der Verschärfung des Palästinakonflikts aufgetreten und in ihrer Virulenz in aller Regel der Entwicklung dieses Konflikts gefolgt - von der judenfeindlichen „Wende" im Denken von Rashid Rida nach den Augustunruhen von 1929 in Palästina bis zu den jüngsten Veränderungen in der Programmatik von Hamas.

Es ist bei dem großen Reichtum dieses Buchs nicht möglich, seinen Inhalt auch nur knapp wiederzugeben oder gar auf Einzelheiten einzugehen. Es soll aber darauf hingewiesen werden, daß bei der arabischen Linken keinerlei Neigung zu Nazideutschland bestand, daß sie sich vielmehr konsequent antifaschistisch äußerte und betätigte. Das ist ja auch weiter nicht verwunderlich. Eher ist erstaunlich, daß Achcar auch für wichtige Organisationen des arabischen Nationalismus, vor allem für die Baath-Partei, überzeugend nachweist, daß von einer durchgängigen ideologischen Nähe zum Nationalsozialismus keine Rede sein kann - anders als das eine in der Literatur weit verbreitete Auffassung nahelegt.

Ein in diesem Zusammenhang zentrales Thema ist natürlich der Fall des Jerusalemer Muftis und nationalen Führers der Mandatszeit, al-Hajj Amin al-Husaini, aus dessen enger Zusammenarbeit mit den Nazis die israelische Propaganda und ihre Nachbeter im Westen einen Anklagepunkt gegen die palästinensische Bewegung insgesamt machen - in den letzten Jahren wieder verschärft. Diesen Fall behandelt Achcar ausführlich. Er kritisiert den Mufti scharf für seine katastrophale Palästinapolitik und seine Parteinahme für die Nazis (bis hin zur Befürwortung des Holocaust!), weist aber gleichzeitig nach, daß er nicht die zentrale Figur war, zu der die Propaganda ihn stilisiert, daß er nicht direkt in den Holocaust impliziert war und daß ihm die meisten Palästinenser in seiner pro-Nazi-Politik nicht folgten. Er bringt also den Buhmann, zu dem der Mufti gern aufgebläht wird, zum Platzen.

In einem abschließenden Kapitel behandelt Achcar die ideologischen Kämpfe der letzten Jahre, in denen auf der einen Seite ein „neuer Antisemitismus" heraufbeschworen und jede grundlegende Kritik an Israel oder am Zionismus als Ausdruck dieses Antisemitismus gebrandmarkt wird und auf der anderen Seite viele Araber aus der Instrumentalisierung des Holocaust durch die israelische Propaganda den Schluß ziehen, ihn ganz wegzuleugnen.

„Wenn bestimmte - leider zahlreiche - Araber die Juden essentialisieren, ihnen eine grundsätzliche Perversität zuschreiben und die Bestätigung dieser Auffassung darin zu finden glauben, daß sie im christlichen Westen hundertfach verbreitet war, dann bedenken sie nicht die Art und Weise, auf die dieser selbe Westen die Araber oder die Muslime wahrgenommen hat und auf die allzu viele im Westen sie immer noch wahrnehmen. Wenn bestimmte - leider zahlreiche - Araber, mitgerissen von kollektivem Wahn, die Shoah für einen Mythos halten, den eine umfassende internationale jüdische Verschwörung aufrechterhält, um den zum Staat gewordenen Zionismus zu rechtfertigen, dann vergessen sie die unbestreitbare Tatsache, daß diejenigen, die am meisten dazu beigetragen haben, die arabische Sache im Westen zu Gehör zu bringen und der Propaganda dieses selben zum Staat gewordenen Zionismus entgegenzutreten, Denker sind, die sich eben auf die universellen Lehren der Shoah berufen und von denen übrigens viele, wenn nicht die meisten, Juden sind" (S. 409).

Dies ist ein großes Buch. Es packt ein für die Araber sehr heikles Thema an, es tut das offen und selbstkritisch, es dient sich nicht denen an, die Aufklärung im Mund führen, um ihre hegemoniale Politik zu rechtfertigen, und es hält strikt an einer universalistischen Perspektive fest. Und es ist ein gewichtiger Beitrag zur modernen arabischen Geistesgeschichte.

 

Gilbert Achcar, Les Arabes et la Shoah. La guerre israélo-arabe des récits, Arles: Actes Sud 2009. 525 S., 26 €, ISBN 978-2-7427-8242-0 (engl. Übersetzung: The Arabs and the Holocaust. The Arab-Israeli War of Narratives, London: Saqi Books 2010, 360 S., ca. 30 €, ISBN 978-0-86356-639-4).