Ein gutes Leben nicht für alle?

Ein Gespräch mit Swantje Köbsell

Das „gute Leben" ist Bezugspunkt in Kämpfen um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, wie in Kampagnen der IG Metall unter dem Motto „Her mit dem schönen Leben", und auch in den Debatten um ein emanzipatorisches Gesellschaftsprojekt in Lateinamerika ist „buen vivir" zu einem wichtigen Stichwort geworden. Dabei zielen die Forderungen explizit auf mehr als nur das Nötigste zum Leben. Es geht auch um gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung. Du hast Dich dagegen mit einer Debatte beschäftigt, in der die Frage danach, was ein gutes Leben ausmacht, zur Bewertung über Leben wird: die Debatte um Lebensqualität, in der Du selbst eine kritische Position einnimmst. Was ist es Deiner Meinung nach, was den Bezug auf „Lebensqualität" als einem positiv bestimmbaren Maß problematisch macht?

Was mit „Lebensqualität" gemeint ist, wird selten ausgesprochen. Wozu auch, scheinen wir doch alle zu wissen, was damit gemeint ist - und, ja, wir alle wollen mehr Lebensqualität. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass auch dieser Begriff seine Schattenseiten hat. Lebensqualität ist zu einem Konzept geworden, das zur Beurteilung von Leben verwendet wird. Auf dem Hintergrund der Entwicklungen der modernen Medizin entstehen immer öfter Situationen, in denen die vermeintliche Lebensqualität zur Grundlage von Entscheidungen über Leben und Tod wird. Mittels der Beurteilung der Lebensqualität werden Menschen in zwei Kategorien geteilt - in lebenswert bzw. -unwert.

Während die einen immer mehr Lebensqualität wollen und bekommen sollen, wird das angenommene Fehlen der Lebensqualität aufgrund von körperlichen oder anderen Beeinträchtigungen bei anderen zur Begründung für die Beendigung ihres Lebens herangezogen - im Falle der Pränatalen Diagnostik noch bevor es richtig angefangen hat. Wenn es um Entscheidungen über Leben und Tod geht, ist die Benutzung des Kriteriums „Lebensqualität" gefährlich: Objektiv ist sie nicht festzustellen und in jede Fremdbeurteilung, die dann zur Entscheidungsgrundlage wird, fließen Vorurteile und -annahmen ein: wie die, dass ein Leben mit Beeinträchtigung weniger Qualität habe.

Könntest Du ein Beispiel bringen, an dem diese Fallstricke deutlich werden? Wie würdest Du dabei die Verbindung zwischen Lebensqualität und Selbstbestimmung sehen?

Die international z.T. sehr aggressiv geführte Debatte um das "Recht" auf einen „selbstbestimmten" Tod flammt in Deutschland immer wieder auf; momentan ist gerade eine relative „Flaute" zu beobachten. Nur in sehr wenigen Ländern ist die aktive Sterbehilfe erlaubt. In Europa sind es die Niederlande (2001, mit Duldung seit 1984), Belgien (2002) und Luxemburg (2009). Mehrfach haben inzwischen von der Regierung der Niederlande in Auftrag gegebene Studien gezeigt, dass in den Niederlanden nicht nur Menschen getötet werden, die danach verlangt hatten, sondern jedes Jahr auch einige Hundert, die nicht darum gebeten hatten. Nach ärztlicher Einschätzung konnte keine Besserung ihres Zustandes mehr erzielt werden bzw. medizinische wurden Maßnahmen für sinnlos erachtet, ihre Lebensqualität als gering eingeschätzt wurde oder ihre Angehörigen hatten darum gebeten. Die Möglichkeit und die gesellschaftliche Akzeptanz des ärztlich herbeigeführten Todes scheint in der Praxis den Blick auf Alternativen zu verstellen und bringt diejenigen, die trotz eines schweren Leidens weiterleben wollen, in Rechtfertigungszwänge. In dem Augenblick, wo die Todesspritze als mögliche "Lösung" ins Blickfeld rückt, werden andere, dem Leben zugewandte Lösungen, die tatsächlich die Lebensqualität der Betroffenen erhöhen würden, gar nicht mehr gedacht. So wird nicht gefragt, warum manche Menschen nicht mehr leben wollen. Vielmehr wird das Vorliegen einer Krankheit oder Behinderung, die unausweichlich mit geringer Lebensqualität assoziiert werden, als hinreichender Grund für einen "selbstbestimmten" Tod angesehen.

Menschen „wollen" sterben, weil sie einsam sind, keine Hilfen bekommen, ihren Angehörigen nicht zur Last fallen wollen, Schmerzen haben. Dies sind alles Problemfelder, auf die spezifisch und wirksam reagiert werden könnte, die aber in den Hintergrund gerückt sind. Bezeichnend ist, dass der Ausbau der palliativmedizinischen Versorgung nur schleppend vorankommt. Eine gute Versorgung verbunden mit bedarfsgerechter ambulanter Unterstützung könnte bei vielen den Wunsch, sterben zu wollen, verändern.

Was genau macht Deiner Ansicht nach den von Dir benannten Rechtfertigungsdruck aus und was sind möglicherweise mit diesem verbundene gesellschaftliche Konsequenzen?

Je größer der gesellschaftliche Druck zum „sozialverträglichem Frühableben" wird, je verfestigter der gesellschaftliche Konsens darüber ist, dass Behinderung Leiden ist, desto mehr geraten diejenigen, die nicht in dieses Bild passen (wollen) unter Rechtfertigungsdruck bzw. bekommen Probleme, wenn sie ihr Recht auf Leben uneingeschränkt wahrnehmen möchten. Hier liegt das große Problem mit der Legalisierung aktiver Sterbehilfe: Wird die Tötung auch eines angeblich klar definierten Personenkreises - zur Erhöhung der Lebensqualität derer, die sich vor einem Leben mit Krankheit oder Beeinträchtigung fürchten - mit scheinbar strengen Regeln zugelassen, führt dies zu einer massiven Bedrohung des Lebens aller Menschen, die krank, alt oder beeinträchtigt sind bzw. deren Leben man im Hinblick auf Lebensqualität für mangelhaft erachtet. Diese Bedrohung wächst mit der demographischen Entwicklung und den ständig steigenden Gesundheitskosten, denn in engem inhaltlichen Zusammenhang mit der Sterbehilfedebatte steht ein anderes Problemfeld, das in Deutschland bisher nicht öffentlich diskutiert, aber für viele Betroffene auch hier zunehmend zum Problem wird: die Zuteilung von Gesundheitsleistungen. In den USA und Großbritannien ist diese Rationierung jedoch bereits offizieller Teil des medizinischen Versorgungssystems, mit erheblichen Auswirkungen für behinderte Menschen, denn deren angenommene geringere Lebensqualität führt oft zum Vorenthalten medizinischer Leistungen. Auf diesem Hintergrund gewinnt die Sterbehilfediskussion erheblich an Brisanz, denn die schlechte Versorgungssituation bildet immer wieder den Hintergrund für Forderungen nach dem „Recht" auf einen „würdigen" Tod. Dass dieser Wunsch oftmals aus nackter Verzweiflung über die Beschneidung von Gesundheits- und Sozialleistungen sowie Lebensmöglichkeiten entsteht und nicht aufgrund der vorliegenden Beeinträchtigung, wird in der öffentlichen Diskussion kaum problematisiert.

Patienten haben Ängste vor dem Verlust von Autonomie und Würde, vor dem Verlust der Kontrolle über Körperfunktionen, davor, Lebensqualität ausmachende Aktivitäten nicht mehr wahrnehmen zu können, vor unerträglichen Schmerzen und Angst davor, Familie, Freunden und Pflegenden eine Last zu werden. Kaum jemals wird die Bewertung von Autonomie in Frage gestellt oder die Annahme, dass ein Leben mit weniger Kontrolle über Körperfunktionen und ggf. dem Angewiesen Sein auf Hilfe - Alltag für viele behinderte Menschen - nicht mit Würde vereinbar sein soll. Forderungen, die Lebenssituation von Menschen, die im Alltag auf Hilfen angewiesen sind besser auszugestalten, werden kaum laut.

Vermutlich würden dennoch manche Menschen aufgrund von Erkrankung oder Alter nicht mehr leben wollen. Doch wird es nicht möglich sein, aktive Sterbehilfe auf diesen Personenkreis zu beschränken. Daraus entsteht ein Dilemma, die Notwendigkeit, sich zu entscheiden. Ein bisschen Sterbehilfe gibt es nicht. Die britische Behindertenaktivistin Jane Campbell formuliert es so: „Während ich die Entscheidung eines Menschen, sein Leben zu beenden, verteidigen könnte, könnte ich niemals die Gefahren akzeptieren, die den legalisierten unterstützten Selbstmord begleiten würden. Wenn das bedeutet, dass eine sehr kleine Zahl von Menschen gezwungen wird gegen ihren Willen zu leben, soll es so sein."[1]

Siehst Du Ansatzpunkte, um dem Rechtfertigungsdruck entgegenzuwirken? Was wären Bündnispartner/innen und konkrete politische Forderungen?

Es gibt einige Organisationen, die die Entwicklungen in diesem Bereich seit Jahren kritisch beobachten und Bündnispartner/innen sind, wie z.B. Bioskop e.V. (http://www.bioskop-forum.de) oder die Arbeitsgemeinschaften Kritische Bioethik (http://www.sterbehilfe-debatte.de). Nach wie vor steht die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der UNO aus: Sie besagt in Artikel 10, „dass jeder Mensch ein angeborenes Recht auf Leben hat" und alle erforderlichen Maßnahmen getroffen werden müssen, damit der „wirksame und gleichberechtigte Genuss dieses Rechts durch Menschen mit Behinderungen" gewährleistet ist. Hierzu gehört eine barrierefreie Umwelt (Artikel 9) sowie eine Gesellschaft, die Beeinträchtigung nicht mit Leiden gleichsetzt und glaubt, mit einer solchen zu leben, sei schlimmer als der Tod (Artikel 8 „Bewusstseinsbildung"). Dazu gehört auch der uneingeschränkte Zugang zu allen Leistungen des Gesundheitswesens (Artikel 25, gilt natürlich nicht nur für behinderte Menschen) einschließlich einer guten Versorgung mit Hilfsmitteln, bezahlbarer barrierefreier Wohnraum für alle, die ihn brauchen und eine Ausstattung mit Assistenzleistungen, die Teilhabe tatsächlich ermöglicht ohne Androhung der Heimeinweisung bei Überschreitung eines bestimmten Betrages. Diese behindertenpolitischen Forderungen werden von den im Deutschen Behindertenrat zusammengeschlossenen Verbänden, aber leider nicht von der schwarz-gelben Bundesregierung unterstützt. Angekündigt ist noch für dieses Jahr ein Aktionsplan zur Umsetzung der UN Konvention - was der unter den derzeitigen politischen Bedingungen dann tatsächlich enthalten wird, bleibt abzuwarten.

 

Das Gespräch führte Vanessa Lux für die Redaktion



[1] Jane Campbell (2003): Don’t be fooled, we don’t all want to kill ourselves, http://www.independent.co.uk/opinion/commentators/jane-campbell-dont-be-fooled-we-dont-all-want-to-kill-ourselves-602327.html (29.6.2010)

 

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