Meine Behinderung gehört mir

in (10.12.2009)

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen empfiehlt den Staaten mehr Gleichberechtigung.

Nennen wir sie Julia. Julia ist acht und lebt mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder in einem Reihenhaus am Rand einer Kleinstadt. Eigentlich könnte Julia einen ganz normalen Achtjährigen-Alltag haben. Doch für Julia gibt es andere gesellschaftliche Maßstäbe als für Durchschnitts-Achtjährige, denn Julia hat eine Behinderung.


Eigentlich sind es mehrere Behinderungen: Richtig gut laufen konnte Julia noch nie, und auch in der Schule kommt sie nicht so richtig mit. Die ÄrztInnen sagen, sie habe eine Lese-Rechtschreibschwäche. Ihre Beine und Arme kann sie nicht so gut bewegen – vielleicht hat sie bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen, keiner weiß das so genau. Und eigentlich ist Julia das auch ziemlich egal. Was für sie zählt, ist, dass sie deshalb seit zwei Jahren nicht mehr mit ihrer Freundin Rosa auf die Grundschule gehen kann. Julia sei einfach zu langsam, sagten die LehrerInnen. Auch mit dem Rollstuhl, den Julia seit kurzem benutzt, hatte die Schule ein Problem. Was, wenn Julia in die 5. Klasse kommt – die Räume sind im oberen Stockwerk und die kann man ja nicht so einfach verlegen. Ein Fahrstuhl sei unbezahlbar.
Deshalb geht Julia jetzt auf eine Förderschule, zusammen mit anderen behinderten Kindern. Dort ist nun alles barrierefrei, und es sei für sie doch auch viel besser, mit ihrer „Peer Group“ zusammen zu sein, meinen die FörderlehrerInnen. Julia sieht das anders, sie wäre lieber auf einer gemischten Schule. Ihre Eltern sind auch nicht begeistert von der Förderschule. Wird Julia jemals den Hauptschulabschluss schaffen? Einmal Förderschule, immer Förderschule, lautet das ungeschriebene Gesetz der Sondererziehung. Und was kommt nach der Förderschule? Natürlich die Werkstatt für Behinderte. Menschen, die in ihrer Kindheit als „geistig behindert“ einkategorisiert wurden, landen als Erwachsene zu über 93 Prozent in der Werkstatt für Behinderte. Der Durchschnittslohn dort beträgt monatlich rund 150 Euro.

Aussortiert auf die Spezialschule, weil nur normierte SchülerInnen in der Regelschule eine Chance haben – das soll es bald nicht mehr geben. Zumindest, wenn es nach dem „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ geht. Die neue UN-Konvention, die weltweit am 3. Mai 2008 in Kraft trat, will behinderten Menschen umfangreiche Rechte zusichern. Der internationale Pakt beinhaltet Themen wie Bildung, Arbeit, Barrierefreiheit, Schutz vor Diskriminierung, aber auch Grundlegendes wie ein Recht auf Leben, Achtung der Privatsphäre und Schutz vor Gewalt und sexuellem Missbrauch. Eigentlich könnte man sich verwundert die Augen reiben, dass solche Sätze offenbar immer noch in ein solches Dokument gehören: „Die Vertragsstaaten bekräftigen, dass Menschen mit Behinderungen das Recht haben, überall als Rechtssubjekt anerkannt zu werden“. Es soll sichergestellt werden, dass Menschen mit Behinderung Eigentum besitzen dürfen, dass sie ihren Aufenthaltsort frei bestimmen können und dass niemand ungefragt medizinische Versuche an ihnen vornehmen darf. Grundlegende Bedürfnisse und Lebensweisen also, durch die man durch eine UN-Charta erst einen Rechtstitel zugesprochen bekommen soll. Menschenrechte verweisen immer auch darauf, was weltweit in dieser Gesellschaft offenbar keine Selbstverständlichkeit ist.

Ob sie als Rechtssubjekt anerkannt werden, ist für viele Menschen mit Lernschwierigkeiten und geistigen Behinderungen jedenfalls ungewiss. Julia könnte, wenn PsychologInnen und ÄrztInnen das so entscheiden, einen Vormund zugesprochen bekommen, der über ihre Geschäfte und Verträge entscheidet. Und auch ob Julia in ihrem Leben vor Gewalt und Missbrauch sicher ist, ist fraglich. Studien zeigen, dass über 60 Prozent aller Frauen mit Behinderungen einmal oder mehrmals in ihrem Leben Opfer von sexualisierter Gewalt werden. Gerade Frauen mit Lernschwierigkeiten, die in Einrichtungen für Behinderte arbeiten und wohnen, sind überdurchschnittlich gefährdet.

Ist die UN-Konvention also der Silberstreif am Horizont? Wenn man sich anguckt, wie wenig bisher andere Menschenrechts-Konvention dazu beigetragen haben, Gewalt und Unterdrückung zu verhindern, dürfte man da pessimistisch sein. Andererseits setzt die geforderte nationale Umsetzung der Konvention das Thema immer wieder auf die politische Agenda, wie zuletzt im Koalitionsvertrag. Ob es für sie etwas ändern wird? Da muss sich Julia wohl überraschen lassen.