Runter vom Gas

in (07.09.2010)

Ein radikaler Bruch mit der Autogesellschaft ist nötig, meint der Verkehrsexperte Winfried Wolf. Er erklärt, wie umweltfreundliche Mobilität funktionieren und zugleich neue Arbeitsplätze schaffen kann.

Vor zwanzig Jahren drehte der damals noch unbekannte Michael Moore den Film »Roger & Me«. Er dokumentierte dort das zerstörerische Agieren des Autokonzerns General Motors (GM), während er dessen Boss Roger Smith mit wackeliger Handkamera verfolgte. Damals hätte es niemand auf der Welt für möglich gehalten, dass GM zwei Jahrzehnte später in Konkurs gehen würde.

Im Juni 2009 kommentierte der inzwischen Oscar prämierte Moore die Pleite des Automobilherstellers mit den Worten: »Die einzige Möglichkeit, GM zu retten, besteht darin, GM zu zerstören.« Er führte weiter aus: »Wir befinden uns in einer Art Kriegszustand: dem Krieg gegen das Ökosystem, der von unseren Industriekonzernen geführt wird. Dieser Krieg findet an zwei Fronten statt. Die eine hat ihr Hauptquartier in Detroit. Die Produkte, die dort von GM, Ford und Chrysler hergestellt werden, gehören zu dem höchst wirksamen Kriegsgerät, dem wir die Erderwärmung und das Abschmelzen der Pole zu verdanken haben. (...) Autos weiterhin zu produzieren, muss irgendwann zum Untergang unserer Art und zur Zerstörung der Erde führen. An der anderen Front kämpfen die Ölkonzerne gegen Sie und mich. Sie schröpfen uns, wo sie nur können, und sie gehen unverantwortlich mit den begrenzten Ressourcen um. Rücksichtslos beuten sie die Vorkommen aus und lassen die Öffentlichkeit darüber im Unklaren, dass die Vorräte an nutzbarem Erdöl in einigen Jahrzehnten erschöpft sein werden. Dann kann man sich darauf gefasst machen, dass die Leute sich gegenseitig für ein paar Liter Benzin umbringen. Zusammengefasst: Nach der Übernahme von GM sollte Präsident Obama die Fertigungsanlagen sofort umstellen auf die Herstellung von umweltfreundlichen Produkten.«

Leider ist das Gegenteil passiert. Nicht nur die Obama-Administration, sondern alle nationalen Regierungen bedienen - u.a. durch Abwrackprämien und die direkte Finanzierung der Autokonzerne aus Steuermitteln - die Interessen der Autoindustrie. Während relevante Umweltauflagen abgebaut werden (so das Ziel von maximal 120 Gramm CO2-Ausstoß je Kilometer) findet ein »green washing« der Branche statt, indem Agrosprit und Elektro-Pkw als innere Reformen gepriesen werden. Jedoch erhöhen Kraftstoffe aus agrarischen Produkten die Preise für Lebensmittel und verschärfen damit die Hungerkrise. Zudem tragen sie, beispielsweise durch Regenwaldzerstörung, zur stark erhöhten CO2-Bilanz bei. Auch Elektro-Pkw haben grundsätzlich keine bessere CO2-Bilanz als konventionelle Kraftfahrzeuge.
Mit dieser Politik wird die Klimakrise verstärkt und der Zeitpunkt einer gefährlichen Ölknappheit, mit explosionsartig ansteigenden Ölpreisen, vorgezogen. Eine alternative Mobilitäts- und Transportpolitik muss - zusammen mit einer alternativen Energiepolitik - im Zentrum eines Konjunkturprogramms stehen, das auch den Anforderungen einer verantwortlichen Umwelt- und Klimapolitik gerecht wird. Ein solches Programm könnte die folgenden »sieben Tugenden« beinhalten:

1. Strukturpolitik der Dezentralität. Notwendig sind Investitionen und Maßnahmen, die Dezentralität und Nähe fördern. Auf diese Weise können in großem Maßstab Verkehre vermieden (unnötig gemacht) und Verkehrswege verkürzt werden. 50 Prozent der im Jahr motorisiert zurückgelegten Kilometer sind Freizeitverkehr (Fahrten ins Grüne, in die »Schwimmoper«, in die Disco auf dem Land usw.). Sie entstehen vor allem, weil die Städte nicht bzw. zum Teil nicht mehr für die Menschen da sind. Oder mit Bert Brecht: »Die Schwärmerei für die Natur / Kommt von der Unbewohnbarkeit der Städte«.

2. Klassische Verkehrsträger neu entdecken. Die dann vielfach kürzeren Wege des Alltagsverkehrs können zu einem erheblichen Teil au die klassischen Verkehrsträger, auf Füße und Pedale, verlagert werden.

3. Öffis ausbauen. Der größte Teil des verbleibenden Verkehrs kann in Städten und größeren Siedlungen mit öffentlichen Verkehrsträgern - Straßenbahnen, S-Bahnen und Bussen (optimal wären Trolley- oder Oberleitungs-Busse) - realisiert werden.

4. Flächenbahn statt Höchstgeschwindigkeitswahn. Erforderlich ist eine Bahn in öffentlichem - demokratisch kontrolliertem - Eigentum, mit einem integralen Taktverkehr: Alle halbe Stunde fahren Bahnen in allen Städten (ab beispielsweise 25.000 Einwohner) in alle Richtungen. Eine solche Bahn benötigt bereits aus strukturellen - und erst recht aus energiepolitischen - Gründen ein Tempolimit von rund 220 km/h. Tempo 350 auf der Strecke Frankfurt am Main-Köln hatte die logische Folge, dass Bonn und Koblenz  vom Fernverkehr weitgehend abgekoppelt wurden. Doch selbst bei einem Tempolimit wäre München-Berlin in einer Fahrtzeit von knapp viereinhalb Stunden (anstelle der aktuellen gut sechs Stunden) zu bewältigen.

5. Flugverkehr drastisch reduzieren. Mit einer Flächenbahn auf europäischer Ebene können 100 Prozent der Binnenflugverkehre und 50 Prozent des innereuropäischen Verkehrs auf die Schiene verlagert werden. Wenn ergänzend die externen Kosten des Flugverkehrs (z.B. Kosten resultierend aus Lärmschäden, Umweltzerschneidung, Verletzten und Toten, Klimaschäden), die in den Transportpreisen nicht enthalten sind, in die Ticketpreise eingerechnet werden, reduziert sich der Flugverkehr auf 15 bis 20 Prozent des aktuellen Niveaus.

6. Güterverkehre radikal reduzieren - regionale Ökonomien stärken. 50 Prozent des globalen Verkehrs sind »Intra-Firm-Trade« (Transporte innerhalb ein- und desselben Konzerns). GM z.B. kann natürlich ein Auto an einem Standort (Detroit oder Rüsselsheim oder Seoul etc.) komplett herstellen. Da die Transportkosten jedoch gegen Null tendieren, lohnt sich im Extremfall eine Arbeitsteilung, wo Motorblöcke, Reifen, Chassis und Armaturenbretter in jeweils einem anderen Kontinent hergestellt und dann zusammengeführt werden. Insgesamt hat sich die »Transportintensität« (die in einer Ware von ein- und derselben Qualität steckenden Tonnenkilometer) seit 1970 verdoppelt. »Südtiroler Schinken« besteht zu 90 Prozent aus niederländischen Schweinehälften, die per Lkw nach Südtirol gekarrt wurden. Alle Walnüsse im Walnuss-Eis von Mövenpick stammen aus China. Wenn die externen Kosten der Transporte in die Transportpreise eingerechnet werden, verdreifachen sich die Transportpreise. Zusammen mit ordnungspolitischen Maßnahmen (Nachtfahrverbote und Tonnage-Begrenzungen für Lkw, generelles Verbot von Luftfracht mit Ausnahme bei spezifischen Produkten wie Medikamenten und Post) lassen sich die weltweiten Transporte auf weniger als 20 Prozent reduzieren. Eine solche Politik ist gleichbedeutend mit der Stärkung von regionalen wirtschaftlichen Strukturen, indirekt auch mit dem Erhalt von Jobs und der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze.

7. Viele Exempel statuieren und Mosaike bilden. Die bisher ausgeführten sechs Elemente einer Politik der Verkehrswende gibt es bereits - wenn auch oft isoliert. In Münster (Westfalen) und Groningen (Niederlande) werden mehr als 50 Prozent der Wege zu Fuß und per Rad zurückgelegt. Dort wo die Natur dem Autoverkehr im Wege stand, gibt es noch die »Struktur der kurzen Wege« - so in Cinque Terre an der Italienischen Riviera und in Venedig. In der Lagunenstadt kann es zwar keine Pkw geben, doch es gibt auch keine größere Zahl von Motorbooten in individuellem Eigentum. Die Stadt »funktioniert« zu Fuß und mit den »vaporetti« - den Wasser-Bussen. Die Struktur des »Bruttoinlandsprodukts« von Venedig unterscheidet sich dabei kaum von derjenigen Heidelbergs - beides sind Universitätsstädte mit viel Tourismus. Doch während Venedig vom Fußgänger- und öffentlichen Verkehr mit Wasserbussen geprägt ist, wird Heidelberg vom Autoverkehr dominiert. Ein weiteres Beispiel: Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) haben einen Halbstunden-Integralen-Taktverkehr - wobei dieser Luxus die Steuerzahlenden weniger kostet als das miserable Angebot der Deutschen Bahn AG. Bereits zwei Dutzend Orte in den Alpen werben - erfolgreich! - damit, dass sie »autofrei« sind oder dass in diesen privater Autoverkehr kaum stattfindet und nicht erwünscht ist. Es gibt bereits ein Dutzend autofreie Quartiere in europäischen Großstädten.

Es existieren zwei Standardargumente gegen eine solche Verkehrs-Vision: Jobs und Mehrheiten. Diese Repliken sind jedoch nicht überzeugend. Zum Arbeitsplatz-Argument: Weltweit gibt es in der Autobranche acht Millionen Arbeitsplätze. Doch weltweit sind weit mehr Menschen bei der Eisenbahn und in der Bahntechnik als in der Autoindustrie beschäftigt. Die Ausweitung der Automotorisierung muss diese umweltpolitisch akzeptablen Arbeitsplätze zerstören. Im übrigen werden die Jobs in der Autoindustrie durch die Autoindustrie selbst zerstört. In Deutschland sind seit einem Vierteljahrhundert immer rund 800.000 in der Autoindustrie beschäftigt (derzeit 750.000). Im gleichen Zeitraum hat sich der Output (die Zahl der erstellen Pkw) verdreifacht. Eine Autoindustrie fast ohne Arbeitsplätze - eine roboterisierte Autofertigung - ist durchaus vorstellbar. Das oben skizzierte 7-Punkte-Programm einer Verkehrswende würde hingegen allein in Deutschland zwei bis drei Millionen neue und gesellschaftlich sinnvolle Arbeitsplätze schaffen.

Eine alternative Verkehrspolitik ist mehrheitsfähig: Das zeigen bereits heute Teilaspekte dieser Alternative. Mehr als 80 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung wollen eine Bahn in öffentlichem Eigentum. Die Forderung nach einem allgemeinen Tempolimit wird auch im Land der nach oben offenen Raserskala von einer klaren Mehrheit unterstützt. In den Stadtquartieren gibt es jeweils Mehrheiten für Tempo 30. Bei mehreren repräsentativen Umfragen mit dem Tenor »Wie entscheiden Sie im Fall eines Zielkonflikts: Ausbau des öffentlichen Verkehrs oder Ausbau von Straßen?« wählt die Mehrheit die erste Option. Eine überzeugend ausgearbeitete Politik der Verkehrswende, die auch die sozialen und die Klimaaspekte benennt, ist also durchaus mehrheitsfähig. Dafür gibt es auch praktische Argumente: In Berlin hat die Mehrheit der Haushalte keinen Pkw (in Hamburg liegt dieser Anteil bei 42 Prozent, in New York immer noch bei rund 25 Prozent). In den Industriestaaten gilt die Formel: je ärmer die Region, desto höher die Pkw-Dichte. Oder auch: Je mieser der öffentliche Verkehr, desto mehr Autoverkehr gibt es.

Den realen - zukünftigen - Sozialismus hat man als Linker meist »nur« im Herzen oder man träumt von demselben. Die Verkehrswende lässt sich jedoch zusammenfügen - aus real existierenden Mosaik-Bausteinen.

Zum Autor:

Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21 - Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie und Sprecher der Bahnfachleutegruppe »Bürgerbahn statt Börsenbahn«. Er ist zudem Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac und Autor zahlreicher Bücher zum Thema.

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Winfried Wolf: Verkehr.Umwelt.Klima - Die Globalisierung des Tempowahns (2. Auflage, Promedia-Verlag 2009).

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