Alte These – neuer Aufguss

Deutsche Außenpolitik-Debatte

Das Plädoyer der Autoren aus dem Umfeld des Tönissteiner Kreises hinterlässt den geneigten Leser einigermaßen irritiert. Was nicht alles eingefordert wird: eine neue „außenpolitische Kultur“, eine offene Debatte, ein Bekenntnis zur Interessengeleitetheit der Außenpolitik sowie die klare Definition solcher nationaler Interessen und deren Durchsetzung. Die Wunschliste ist lang und bisweilen droht den Verfassern ein wenig zu entgleiten, was denn nun eigentlich aus welchem Grund einzufordern sei. Auch wenn es das augenscheinliche Kalkül des Textes ist, die angeblich nur wenig kreative und kaum
zeitgemäße außenpolitische Debattenkultur und den „Konsens“ aufzumischen, so lässt sich doch fragen, ob die gebotene Argumentation näherer Betrachtung standhält. Fragwürdig erscheint dabei sowohl die Idee einer „allzu abstrakten“ und noch dazu „politisch korrekten“ Doktrin, die den Akzeptanzrahmen außenpolitischen Handelns der Bundesrepublik
bilde und gleichermaßen veraltet wie klarer Interessenformulierung abträglich sei. Ebenso wenig überzeugen Versuche, auf quasi-wissenschaftlichem Wege einen solchen authentischen bzw. objektiven Interessenkatalog herbeizuführen. Zwar werden diese Hintergrundannahmen mit ihrerseits kaum bestreitbaren (wenn auch wenig überraschenden) Zeitdiagnosen in Verbindung gebracht, insgesamt aber gelangt man zu der Einschätzung,
dass der skizzierte Strawman – die hoffnungslose, interessenvergessene und rückwärtsgewandte außenpolitische Kultur – unbotmäßig verzerrt dargestellt wird.
So liest sich das Plädoyer wenigstens in Teilen wie ein erneuter Aufguss der These, Deutschland müsse nun aber endlich mehr eigenes außenpolitisches Profil entwickeln. Dabei stimmte die Diagnose schon damals kaum, dass die „alte“ Bundesrepublik nicht oder nur unzureichend authentischen außenpolitischen Interessen habe folgen können.1 Selbst verengt auf die Eckpfeiler des sogenannten Zivilmachtkonzeptes (Zivilität und Multilateralismus) – im vorliegenden Plädoyer aufschlussreich als „politisch korrekte Doktrin“ bezeichnet – lässt sich argumentieren, dass eine ebensolche Selbstbeschränkung nicht nur oktroyiert und später sozialisiert wurde, sondern auch Interessen folgte, und zwar handfesten strategischen wie ökonomischen. Zum anderen lässt sich aufzeigen, dass für bestimmte Bereiche des außenpolitischen Zielsystems der Bundesrepublik andere Orientierungen von je her Priorität besaßen. Gerade in der Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik kommen die einschlägigen Studien zu dem Schluss, dass die BRD als klassischer Handelsstaat immer eine dezidiert interessengeleitete Außenpolitik betrieben und nicht primär altruistische oder luftige zivilisatorische Ziele verfolgt habe.2 Mehr Beachtung von Arbeiten zur politikwissenschaftlichen Außenpolitikanalyse könnte hier also helfen, um den Popanz von der nie wirklich stattgefundenen Interessenverfolgung nicht erneut
aufzubauen. Dies gilt zumal, als Studien zur Außenpolitik der „neuen“ Bundesrepublik zu der Einschätzung gelangen, dass trotz genereller Kontinuität des außenpolitischen Wertesystems dennoch stetig Veränderungen im Gange sind, etwa eine multilaterale Orientierung nach wie vor dominierend ist, die Begründungsmuster für diese nunmehr aber deutlich stärker den Eigennutz solcher Handlungskoordination betonen.3 Es wäre in dieser Hinsicht also interessant zu erfahren, welchen Teil des vermeintlich wenig interessengeleiteten außenpolitischen „Konsenses“ die Autoren des Plädoyers genau kritisieren bzw. warum. Wo blockiert dieser Konsens Interessenverfolgung? Blockierte er diese jemals wirklich? Die zweite fragwürdige Annahme des Plädoyers ist die eines
„nationalen Interesses“, das im vorliegenden Entwurf objektivistisch bestimmbar erscheint. Zwar wird betont, dass Interessendefinition ein politischer Prozess sei, allein aber die Kritik
am bisherigen Konsens als antiquiert und zu abstrakt deutet auf die Vorstellung hin, es gebe so etwas wie einen objektiv bestimmbaren, frei von sekundären Motivationen oder äußerer Einmischung ableitbaren Interessenkatalog. Offenkundig wird diese implizite Annahme, wo im Ausgang mithilfe eines Kosten-Nutzen-Tableaus und dessen Vergegenwärtigung in Form eines Diagramms eine optimale Interessendefinition angeleitet werden soll. Dies suggeriert optisch Wissenschaftlichkeit und Exaktheit. Sinn hat ein solches Vorgehen allerdings nur, wenn man gleichzeitig annimmt, dass eine authentische Interessenbestimmung auf Basis einer annähernd gelungenen Taxonomierung von Kosten
und Nutzen gemessen an einer optimalen Lösung überhaupt möglich ist. Da wandert dann der politische Prozess wieder aus dem Bild und die Wissenschaft – die Kosten und Nutzen
neutral(er), objektiv(er) und korrekt(er) identifizieren kann – tritt auf den Plan. Bei der Lektüre drängt sich der Eindruck auf, hinter der Forderung, endlich eine offensivere Verfolgung klar definierter eigener Interessen in die Wege zu leiten, verberge sich
eine rhetorische Struktur, mit deren Hilfe bestimmte Interessenlagen als eigentlich authentische ausgewiesen und argumentativ aufgewertet werden sollen. Wie bereits angemerkt: In der Schelte der „politisch korrekten Doktrin“ klingt dies an, in zahlreichen
Verweisen auf die zukünftig noch stärker abzusichernde wirtschaftliche Wohlfahrt etwa hallt es wider. Zudem lässt sich bezweifeln, ob die eingangs geschilderten
Problemstellungen sich besser auf anderen Wegen bearbeiten ließen. Dahingehend ist zu fragen, worauf sich die Kritik der Autoren hauptsächlich richtet, da im Verlauf des Textes unterschiedliche Monita geäußert werden. „Außenpolitische Kultur“ tritt zunächst gar nicht deutlich in Erscheinung, als vielmehr eine dem „Deutschsein“ innewohnende konservativ-risikoaverse Befindlichkeit beklagt wird. Dieser gegenüber müsse mehr „Eigenverantwortung“ gewagt werden, ein Mehr an „Chancengleichheit“ anstatt Gleichmacherei. So weit, so gut, so tief in der gegenwärtigen Modernisierungsdebatte. In der Befassung mit der „politisch korrekten Doktrin“ heben die Autoren dann zunächst auch eher auf deren vermeintlichen Abstraktionsgrad ab. Die Melange aus Grundgesetz, Liberalisierung und Global Governance
sei „meist zu abstrakt, um für die konkrete Einzelfallsituation praktikable Handlungsvorgaben zu bieten.“ Erst in der Mitte des Plädoyers werden dann aber die Karten auf den Tisch gelegt. Dem Konsens bzw. der „Doktrin“ unterliege eine Verhaltensorientierung, die einfach aus der Bonner Republik übernommen wurde. Zweierlei bleibt dabei gänzlich offen: Wie lässt sich eigentlich die Beharrungskraft eines solchen Konsenses jenseits eines Lamentos
begründen? Und ist ein solcher Konsens wirklich das zentrale Problem, das eine zielführende Bearbeitung von Globalisierungsund anderen Phänomenen verhindert? Gegen letztere Position ließe sich einwenden, dass die eingeforderte neue Debattenkultur im Sinne einer Öffnung hin zu einer „breiten öffentlichen Diskussion“, die die (vermeintlichen) „Ad-hoc-Entscheidungen im Hinterzimmer“ ablösen soll, nicht notwendigerweise zu einer klaren Interessendefinition oder gar einer erfolgreichen Interessendurchsetzung führen muss. Um nicht missverstanden zu werden: Dies ist nicht als Forderung nach weniger gesellschaftlicher
Debatte oder gar deren Beschränkung im Sinne ihrer Effektivierung zu verstehen! Aber: Wer Debatten breit gesellschaftlich öffnet, muss sich darauf einstellen – zumal angesichts der derzeit zunehmenden Binnenorientierung 4 – auch mittelfristig entweder nicht zu einer klaren (akzeptanzbewährten) Interessendefinition zu gelangen oder Gesten der Re-Nationalisierung zu provozieren, die gerade im Hinblick auf Globalisierung, Klimawandel etc. wenig zielführend sein dürften. Kurzum: Was zu welchem Zweck eingefordert wird, ob die gebotenen Lösungen passfähig für die ausgemachten Probleme sind und welchen Mehrwert eine Abkehr von der „politisch korrekten Doktrin“ nun bietet, dies alles bleibt nach der Lektüre
weitgehend offen oder fragwürdig. Nicht der beste Start für ein Plädoyer, möchte man meinen.
 
 
1 Vgl. die Diskussion der deutschen Außenwirtschaftspolitik als zentralem Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik in: Hellmann, Gunther: Deutsche Außenpolitik. VS-Verlag, Wiesbaden 2007, S. 79-96. 
2 Vgl. Schrade, Christina: Machtstaat, Handelsstaat oder Zivilstaat? Deutsche Entwicklungspolitik nach
dem Ende des Ost-West-Konflikts. In: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 4 (2), 1997, S. 255-294;
Freund, Corinna: German Foreign Trade Policy Within the EU and GATT. In: Rittberger, Volker (Hrsg.):
German Foreign Policy Since Unification. Manchester University Press, Manchester 2001, S. 230-270.
3 Vgl. Baumann, Rainer: Der Wandel des deutschen Multilateralismus. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-
Baden 2006. 
4 Vgl. die Diskussion in: Brand, Alexander u. a.: Einleitung. In: Brand, Alexander / Niemann, Arne (Hrsg.):
Interessen und Handlungsspielräume in der deutschen und europäischen Außenpolitik. TUDpress,
Dresden 2007, S. 9-40, v. a. S. 9-14.