Staatssouveränität auf der Kippe?

Der Kampf um Entschädigungszahlungen im Recht

in (02.12.2010)

Ein aktueller Fall vor dem Internationalen Gerichtshof bringt die Entschädigungszahlungen von Opfern des NS-Systems erneut in die Öffentlichkeit - und hat eine große Debatte über das Völkerrecht ausgelöst. Dürfen Individuen gegen souveräne Staaten klagen, um individuelle Anspruchsrechte einzufordern?

Die Bundesrepublik Deutschland hat mit Schreiben vom 22. Dezember 2008 Anklage gegen die Republik Italien vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) erhoben, da die BRD einen Verlust ihrer Staatsimmunität befürchtet. Bis heute haben unterschiedliche Gruppen noch keine Entschädigungszahlungen von Deutschland erhalten, die sie, aufgrund des ihnen während der NS-Zeit angetanen Unrechts, einfordern. In dem konkreten Sachverhalt geht es vor allem um die Ansprüche von drei Gruppen.1

Die erste Gruppe betrifft ehemalige italienische Soldaten, die während des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen interniert wurden. Nach dem Waffenstillstand von Italien gegenüber den Alliierten und der Absetzung Mussolinis, gerieten auch die ehemaligen Verbündeten des Deutsches Reiches in den Fokus der vernichtenden NS-Ideologie. Mehr als 600.000 italienische Soldaten wurden in Gefangenenlager deportiert, weitere 13.000 erschossen. Die Inhaftierten Soldaten wurden dabei auch zu Zwangsarbeitsmaßnahmen genötigt.
Lorenzo Ferrini, ein ehemaliger Zwangsarbeiter, gewann 2004 vor dem obersten italienischen Gerichtshof eine Klage auf Entschädigungszahlungen. Gleichzeitig erhoben rund weitere 200 ehemalige Internierte im Jahr 2001 Forderungen an die neu gegründete Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" (EVZ). Die EVZ wurde von der Bundesregierung mit dem Ziel gegründet Zwangsarbeiter des NS-Regimes zu entschädigen, die Lebenswege der Verfolgten des NS-Regimes zu würdigen und die Geschichte der nationalsozialistischen Zwangsarbeitsmaßnahmen dauerhaft in der europäischen Erinnerung zu verankern. Die Forderungen der italienischen Internierten wurden von der Stiftung abgelehnt, da diese nicht „zum Empfängerkreis der Leistungsberechtigen" gehören würden. Anspruchsberechtigt sind, laut der Stiftung, alle Menschen, die in einem KZ, Ghetto oder einer KZ-ähnlichen Haftstätte inhaftiert waren und dort erlittenes Unrecht in Form von Zwangsarbeit erfahren haben.

In der zweiten Gruppe finden sich italienische Staatsangehörige, die im Zweiten Weltkrieg Opfer von Kriegsmassakern wurden. Beispielhaft hierfür ist der Einsatz der Panzerdivision „Hermann Göring", die am 29. Juni 1944 203 Zivilisten in Civitella getötet hat.

Eine dritte Gruppe besteht aus griechischen Opfern, die ebenfalls bei einem Massaker der Wehrmacht in Distomo Opfer von Gewaltverbrechen wurden. Der italienische Kassationsgerichtshof hatte den griechischen Opfern zugestanden, ihre Ansprüche gegen Deutschland in Italien durchzusetzen. So soll z.B. die in deutschem Besitz befindliche Villa Vigoni gepfändet werden.

Die Bundesregierung gesteht den Opfern die Entschädigungszahlungen nicht zu und begründet dies dahingehend, dass einerseits italienischen Gerichten die Zuständigkeit fehle über hoheitliche Akte des Deutschen Reiches zu entscheiden. Andererseits könnten gerade Individuen nicht gegen Staaten klagen und Ansprüche fordern. Die deutsche Bundesregierung begibt sich mit ihrer Argumentation jedoch auf einen juristischen Irrweg, der Ausdruck eines reaktionären Verständnisses des Völkerrechts ist.

Westfälisches System reloaded

In ihrer Argumentation gegen die Entschädigungszahlungen stützt sich die Bundesregierung im Wesentlichen auf den Begriff der Staatsimmunität. Der Sprecher des Außenministeriums, Jens Plötner, sagte in einer Stellungnahme am 29.12.2008 zu dem Anklagetext der deutschen Regierung, dass „mit den Verfahren in Italien ein zentraler Grundsatz des Völkerrechts - die Staatsimmunität - verletzt wird. Demnach sei es der nationalen Gerichtsbarkeit eines „dritten Staates" verboten über Belange des souveränen Staates zu entscheiden. Jedoch stammt der absolute „Immunitätsschutz" noch aus einer Zeit des verabsolutierenden Koordinationsvölkerrechts. In der modernen Rechtsprechung wird hingegen eine Unterscheidung zwischen hoheitlichem Handeln vorgenommen. So seien staatliche Hoheitsakte (acta iure imperii) auch weiterhin fremder Jurisdiktionsgewalt entzogen, wohingegen nicht-hoheitliches Handeln (acta iure gestionis) keinen Schutz vor der Immunität erfährt2. Unter nicht-hoheitliches Handeln werden vor allem schwere Menschenrechtsverletzungen oder Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht gefasst, eine Praxis die sich vor allem in den Nürnberger Kriegsverbrechertribunalen entwickelt hatte.
Auch aktuelle Tendenzen im Völkerrecht weisen darauf hin, dass gerade bei deliktischen Verfahren Ausnahmen von der Staatsimmunität vorgenommen werden. Um einen höchstmöglichen Rechtsschutz für die Opfer von völkerrechtlichen Verbrechen zu gewährleisten, soll auch der Zugang zum eigentlichen Verfahren für die Betroffenen leicht zugänglich sein. Dies bedeutet in der juristischen Praxis, dass gemäß den Grundprinzipien und Leitlinien des Völkerrechts, die Betroffenen auch dort für ihr Recht klagen können, wo ihnen die Verbrechen angetan wurden, auch wenn der angeklagte Staat dort keine Hoheitsrechte genießt. Demgemäß erlaubt Art. 12 der UN-Konvention zur Staatenimmunität vom 02. Dezember 2004, dass Verfahren gegen Völkerrechtsverbrechen im Gerichtsstaat (in diesem Fall Italien) durchgeführt werden können, wenn die Verbrechen innerhalb des Hoheitsgebietes des Gerichtsstaates ausgeübt wurden.
Gerade die Europäische Union hat ganz konkret die Staatsimmunität der Mitgliedsstaaten untergraben. Die Rechtspflege aller Staaten in der EU wird grundsätzlich gegenseitig anerkannt und durch die europäischen Verträge ist es für Bürger_innen in Europa möglich sich mit einem Rechtsschutzbegehren gegen einen anderen Staat in der EU zu richten. Mit ihrem Rekurs auf das Westfälische System von 1648, verkennt die BRD daher die Entwicklung des Völkerrechts.

Mit NS-Unrecht gegen Gerechtigkeit

Die Bundesregierung bestreitet in dem Anklageverfahren gegen Italien sogar, dass die ehemaligen italienischen Militärinternierten überhaupt einen Anspruch auf Entschädigungszahlungen hätten. Als zentrale Argumentationsfigur gilt hier ein Gutachten des Völkerrechtlers Prof. Christian Tomuschat.

Nachdem die italienischen Soldaten von der Wehrmacht, nach der Kapitulation Italiens, gefangen genommen wurden, mussten die Soldaten auch Zwangsarbeit leisten. Bereits während des Zweiten Weltkriegs gab es völkerrechtliche Normen, wie die Haager Landkriegsordnung von 1907 oder die Genfer Konvention von 1929, die Soldaten/Kombattanten besondere Schutzmöglichkeiten in Gefangenschaft garantierten. Um diese Normen zu umgehen, wurden die Kriegsgefangenen durch die deutschen Lagerleitungen in einen zivilen Status versetzt, sodass sie zu Zwangsarbeit leisten mussten. Diese perfide Rechtsumgehung benutzt Tomuschat in seinem Gutachten, um die Ansprüche der Internierten zu verneinen. Laut Tomuschat sei die Überführung in den zivilen Status völkerrechtswidrig gewesen und die Italiener wären deshalb weiterhin im Kriegsgefangenenzustand verblieben und daher nicht anspruchsberechtigt3. Tomuschat mag formaljuristisch Recht haben, jedoch ist seine Interpretation zynisch. Das Recht sollte auch als Rahmen gelten, um tatsächlich begangene Verbrechen zu entschädigen. Die faktische Behandlung der italienischen Soldaten war unrechtmäßig und hat ihnen konkretes Leid zugefügt4. Die italienischen Internierten hatten nicht die selben Rechte wie andere Kriegsgefangene und waren von Lebensmittelpaketen des Internationalen Roten Kreuzes ausgeschlossen (eine Verletzung der Art. 11, 37 der Genfer Konvention). Insbesondere verstößt der Ausschluss der italienischen Internierten gegen das Gleichbehandlungsprinzip. Denn der Innenausschuss des Deutschen Bundestags hatte im Juni 2000 polnische Kriegsgefangene, die ebenfalls Zwangsarbeit leisten mussten und in den zivilen Status überführt wurden, in den Kreis der Anspruchsberechtigten von Entschädigungen aufgenommen.5
Handelte die Bundesregierung hier willkürlich oder wider besseren Wissens?

Völkerrecht auch für Menschen?

Schließlich negiert die Bundesregierung die Rechtssubjektivität von Individuen im Völkerrecht. In dem Antragstext der BRD heißt es, dass nur Staaten gegen Staaten klagen könnten. Schon Hans Kelsen hatte 1934 in seiner Reinen Rechtslehre formuliert: „In demselben Maß, als das Völkerrecht mit seiner Regelung in Materien eindringt, die bisher nur durch die einzelstaatliche Rechtsordnung normiert waren, muß sich eine Tendenz zu unmittelbarer Berechtigung und Verpflichtung der Individuen verstärken".6 Die Völkerrechtsordnung teilt sich in zwei Ebenen: in die Primärregeln (Grund- und Pflichtnormen der Weltgesellschaft) und die Sekundärregeln, also Prinzipien, die bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht greifen und aus denen sich eine Subjektivierung des Individuums zum völkerrechtlichen Rechtssubjekt ableiten lässt.7 Für Individuen soll ein effektiver Rechtsschutz zur Durchsetzung von Kompensationsansprüchen gegen verletzende Staaten garantiert werden, eine Praxis, die auch bei den Kriegsverbrechertribunalen für Jugoslawien und Ruanda angewendet wurde.
Eine Subjektivierung des Individuums im Völkerrecht stellt eine emanzipative Entwicklung im Rechtssystem dar. Durch die dezentrale gerichtliche Implementierung von Menschenrechten, also Ansprüchen von Individuen gegen Staaten, rücken gerade die Interessen der Opfer in den Fokus der juristischen Auseinandersetzung. Wenn Staaten sich in einem Transformationsprozess von einer Diktatur zu einer Demokratie befinden, dann kommt es regelmäßig zu Entschädigungen für die Opfer des Unrechtsregimes. Jedoch ist es politische Praxis, dass über Entschädigungszahlungen im Rahmen von „Deals" oder Globalverträgen zwischen Staaten entschieden wird. Die Bundesregierung beteuerte in einer Anfrage der Linkspartei bezüglich des IGH-Verfahrens, dass „alle Bundesregierungen nach Kräften auf Wiedergutmachung und Versöhnung hingewirkt hätten".8 So hätte die Bundesrepublik gerade auch die Verbrechen gegenüber Italien mit einer Wiedergutmachungszahlung von 40 Millionen DM im Jahre 1961 gesühnt. Dieses Vorgehen der Bundesregierung reiht sich in den deutschen Diskurs über einen „Schlusstrich unter die Geschichte" ein. Es soll der Anschein erweckt werden, dass sich alle Entschädigungsfragen bereits erledigt und die Taten des Nazi Regimes beglichen worden seien. Die Zahlungen der Bundesregierung gegenüber Italien waren jedoch nicht abschließender Natur, sondern umfassten lediglich die Entschädigungen für Opfer von „politischer, religiöser und rassistischer Gewalt". Die Opfer von Kriegsverbrechen werden aus der Perspektive der Bundesregierung damit nicht als NS-Opfer angesehen und gehen leer aus.9

Die transnationale Gegenhegemonie

Es ist fraglich, inwieweit die Urteile und das Verfahren den Opfern des NS-Regimes nützen werden. Michael Braun hatte in der taz zu dem Verfahren angemerkt, dass Deutschland mit seiner Argumentation Erfolg haben und dass die Opfer den Kampf im juridischen Diskurs verlieren könnten.10 Gerichtsverfahren befinden sich in dem System des Rechts, welches von den Auslegungen und Interpretationen juridischer Intellektueller bestimmt ist. Es ist schon für Jurist_innen schwer genug die Verfahrensweisen des Völkerrechts zu durchdringen. Ein Zustand, der gerade dadurch verschärft wird, dass die Opfer vor dem IGH kein Rederecht haben. Moralische Werte, wie Entschädigung oder Gerechtigkeit finden im juridischen Diskurs keinen Platz und die Gefahr besteht, dass die materiellen Verbrechen an den Opfern formaljuristisch nicht berücksichtigt werden. Jedoch birgt das derzeitige Verfahren auch ein gewisses revolutionäres Moment: die Urteile in Griechenland und Italien, die die Entschädigungen für rechtens erachtet haben, führten zu einer Gegenhegemonie im Rechtsdiskurs, die die universellen Menschenrechte in den Mittelpunkt juristischer Argumentationen stellte und Individuen darüber hinaus eine Subjektivierung im Völkerrecht zukommen ließ. Die italienischen Gerichte entschieden dabei auch gegen den Willen der italienischen Regierung, die, das hat das bisherige Verfahren gezeigt, kein Interesse an „belasteten" diplomatischen Beziehungen zu Deutschland hat. Das transnationale Recht eröffnet Ansatzmöglichkeiten für eine strategische Ausrichtung der Kämpfe von sozialen Bewegungen. Auch der Gerichtsaal ist eine Arena, in der ein Sieg davongetragen werden kann.

In Deutschland blickt man sicherlich mit angsterfüllten Gedanken auf das Urteil des Verfahrens. Einhellig hatten die Süddeutsche, die FAZ und die Welt eine Panikmache ausgelöst, als sie von einer millionenfachen Klagewelle gegen die BRD schrieben. Auch die neue Position der Bundesregierung in den Internationalen Beziehungen kann ein für die Opfer positives Urteil nicht gebrauchen. Deutsche Soldat_innen kämpfen in Afghanistan oder Somalia für angebliche „deutsche Interessen". Gerade vor dem Hintergrund der Kunduz-Affäre - bei der afghanische Zivilisten durch deutsche Bombardements gestorben sind - wird die Bundesregierung kein Interesse daran haben, dass Individuen gegen Kriegsverbrechen der BRD auch in Zukunft klagen können.



Weiterführende Literatur:
Anestis Nessou, Griechenland 1941-1944: Deutsche Besatzungspolitik und Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung. Eine Beurteilung nach dem Völkerrecht, 2009.
Andreas Fischer-Lescano / Carsten Gericke: Der IGH und das transnationale Recht; in: Kritische Justiz (KJ), 1/2010, 78 ff.
Norman Paech, Staatenimmunität und Kriegsverbrechen, in: Archiv des Völkerrechts (AVR), 47/2009, 36 ff.



1Ausführlicher: Helmut Kramer / Karsten Uhl / Jens-Christian Wagner (Hrsg.): Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Rolle der Justiz, 2007.

2 Wolfgang Cremer, Entschädigungsklagen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen und Staatenimmunität vor nationaler Zivilgerichtsbarkeit, in: Archiv des Völkerrechts, 41/2003, 137 ff.; ferner Mathias Reimann, A Human Rights Exception to Sovereign State Immunity, Michigan Journal of International Law 16/1995, 403 ff.

3 Vgl. Gutachten Tomuschat, Christian bzgl. „Leistungsberechtigung der italienischen Militärinternierten nach dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ), Archiv des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte, 31.07.2001.

4Siehe auch: Luca Blisset, Globales nunca mas!in: KJ, 41/2008, 279 ff.

5Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, 4.7.2000, BTag-Drs. 14/3758.

6Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, 143.

7Vgl. Andreas Fischer-Lescano, Subjektivierung völkerrechtlicher Sekundärregeln, in: AVR 45 (2007), 299-381.

8Siehe: Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache: 16/9955.

9Martin Klinger, Staatenimmunität als Instrument der Entschädigungsverweigerung, RAV-Informationsbrief 102 (2009).

10 Michael Braun, Deutsche geiziger als Berlusconi in: die tageszeitung (taz) vom 28.12.2008.