Der Kampf um Entschädigungszahlungen im Recht
Ein aktueller Fall vor dem Internationalen Gerichtshof bringt die Entschädigungszahlungen von Opfern des NS-Systems erneut in die Öffentlichkeit - und hat eine große Debatte über das Völkerrecht ausgelöst. Dürfen Individuen gegen souveräne Staaten klagen, um individuelle Anspruchsrechte einzufordern?
Die Bundesrepublik Deutschland hat mit Schreiben vom 22. Dezember 2008 Anklage gegen die Republik Italien vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) erhoben, da die BRD einen Verlust ihrer Staatsimmunität befürchtet. Bis heute haben unterschiedliche Gruppen noch keine Entschädigungszahlungen von Deutschland erhalten, die sie, aufgrund des ihnen während der NS-Zeit angetanen Unrechts, einfordern. In dem konkreten Sachverhalt geht es vor allem um die Ansprüche von drei Gruppen.1
Die
erste Gruppe betrifft ehemalige italienische Soldaten, die während
des Zweiten Weltkriegs von den Deutschen interniert wurden. Nach dem
Waffenstillstand von Italien gegenüber den Alliierten und der
Absetzung Mussolinis, gerieten auch die ehemaligen Verbündeten des
Deutsches Reiches in den Fokus der vernichtenden NS-Ideologie. Mehr
als 600.000 italienische Soldaten wurden in Gefangenenlager
deportiert, weitere 13.000 erschossen. Die Inhaftierten Soldaten
wurden dabei auch zu Zwangsarbeitsmaßnahmen genötigt.
Lorenzo
Ferrini, ein ehemaliger Zwangsarbeiter, gewann 2004 vor dem obersten
italienischen Gerichtshof eine Klage auf Entschädigungszahlungen.
Gleichzeitig erhoben rund weitere 200 ehemalige Internierte im Jahr
2001 Forderungen an die neu gegründete Stiftung „Erinnerung,
Verantwortung, Zukunft" (EVZ). Die EVZ wurde von der
Bundesregierung mit dem Ziel gegründet Zwangsarbeiter des NS-Regimes
zu entschädigen, die Lebenswege der Verfolgten des NS-Regimes zu
würdigen und die Geschichte der nationalsozialistischen
Zwangsarbeitsmaßnahmen dauerhaft in der europäischen Erinnerung zu
verankern. Die Forderungen der italienischen Internierten wurden von
der Stiftung abgelehnt, da diese nicht „zum Empfängerkreis der
Leistungsberechtigen" gehören würden. Anspruchsberechtigt sind,
laut der Stiftung, alle Menschen, die in einem KZ, Ghetto oder einer
KZ-ähnlichen Haftstätte inhaftiert waren und dort erlittenes
Unrecht in Form von Zwangsarbeit erfahren haben.
In der
zweiten Gruppe finden sich italienische Staatsangehörige, die im
Zweiten Weltkrieg Opfer von Kriegsmassakern wurden. Beispielhaft
hierfür ist der Einsatz der Panzerdivision „Hermann Göring",
die am 29. Juni 1944 203 Zivilisten in Civitella getötet hat.
Eine
dritte Gruppe besteht aus griechischen Opfern, die ebenfalls bei
einem Massaker der Wehrmacht in Distomo Opfer von Gewaltverbrechen
wurden. Der italienische Kassationsgerichtshof hatte den griechischen
Opfern zugestanden, ihre Ansprüche gegen Deutschland in Italien
durchzusetzen. So soll z.B. die in deutschem Besitz befindliche Villa
Vigoni gepfändet werden.
Die Bundesregierung gesteht den
Opfern die Entschädigungszahlungen nicht zu und begründet dies
dahingehend, dass einerseits italienischen Gerichten die
Zuständigkeit fehle über hoheitliche Akte des Deutschen Reiches zu
entscheiden. Andererseits könnten gerade Individuen nicht gegen
Staaten klagen und Ansprüche fordern. Die deutsche Bundesregierung
begibt sich mit ihrer Argumentation jedoch auf einen juristischen
Irrweg, der Ausdruck eines reaktionären Verständnisses des
Völkerrechts ist.
Westfälisches System reloaded
In
ihrer Argumentation gegen die Entschädigungszahlungen stützt sich
die Bundesregierung im Wesentlichen auf den Begriff der
Staatsimmunität. Der Sprecher des Außenministeriums, Jens Plötner,
sagte in einer Stellungnahme am 29.12.2008 zu dem Anklagetext der
deutschen Regierung, dass „mit den Verfahren in Italien ein
zentraler Grundsatz des Völkerrechts - die Staatsimmunität -
verletzt wird. Demnach sei es der nationalen Gerichtsbarkeit eines
„dritten Staates" verboten über Belange des souveränen Staates
zu entscheiden. Jedoch stammt der absolute „Immunitätsschutz"
noch aus einer Zeit des verabsolutierenden Koordinationsvölkerrechts.
In der modernen Rechtsprechung wird hingegen eine Unterscheidung
zwischen hoheitlichem Handeln vorgenommen. So seien staatliche
Hoheitsakte (acta iure imperii) auch weiterhin fremder
Jurisdiktionsgewalt entzogen, wohingegen nicht-hoheitliches Handeln
(acta iure gestionis) keinen Schutz vor der Immunität erfährt2.
Unter nicht-hoheitliches Handeln werden vor allem schwere
Menschenrechtsverletzungen oder Verstöße gegen das humanitäre
Völkerrecht gefasst, eine Praxis die sich vor allem in den
Nürnberger Kriegsverbrechertribunalen entwickelt hatte.
Auch
aktuelle Tendenzen im Völkerrecht weisen darauf hin, dass gerade bei
deliktischen Verfahren Ausnahmen von der Staatsimmunität vorgenommen
werden. Um einen höchstmöglichen Rechtsschutz für die Opfer von
völkerrechtlichen Verbrechen zu gewährleisten, soll auch der Zugang
zum eigentlichen Verfahren für die Betroffenen leicht zugänglich
sein. Dies bedeutet in der juristischen Praxis, dass gemäß den
Grundprinzipien und Leitlinien des Völkerrechts, die Betroffenen
auch dort für ihr Recht klagen können, wo ihnen die Verbrechen
angetan wurden, auch wenn der angeklagte Staat dort keine
Hoheitsrechte genießt. Demgemäß erlaubt Art. 12 der UN-Konvention
zur Staatenimmunität vom 02. Dezember 2004, dass Verfahren gegen
Völkerrechtsverbrechen im Gerichtsstaat (in diesem Fall Italien)
durchgeführt werden können, wenn die Verbrechen innerhalb des
Hoheitsgebietes des Gerichtsstaates ausgeübt wurden.
Gerade die
Europäische Union hat ganz konkret die Staatsimmunität der
Mitgliedsstaaten untergraben. Die Rechtspflege aller Staaten in der
EU wird grundsätzlich gegenseitig anerkannt und durch die
europäischen Verträge ist es für Bürger_innen in Europa möglich
sich mit einem Rechtsschutzbegehren gegen einen anderen Staat in der
EU zu richten. Mit ihrem Rekurs auf das Westfälische System von
1648, verkennt die BRD daher die Entwicklung des Völkerrechts.
Mit NS-Unrecht gegen Gerechtigkeit
Nachdem die
italienischen Soldaten von der Wehrmacht, nach der Kapitulation
Italiens, gefangen genommen wurden, mussten die Soldaten auch
Zwangsarbeit leisten. Bereits während des Zweiten Weltkriegs gab es
völkerrechtliche Normen, wie die Haager Landkriegsordnung von 1907
oder die Genfer Konvention von 1929, die Soldaten/Kombattanten
besondere Schutzmöglichkeiten in Gefangenschaft garantierten. Um
diese Normen zu umgehen, wurden die Kriegsgefangenen durch die
deutschen Lagerleitungen in einen zivilen Status versetzt, sodass sie
zu Zwangsarbeit leisten mussten. Diese perfide Rechtsumgehung benutzt
Tomuschat in seinem Gutachten, um die Ansprüche der Internierten zu
verneinen. Laut Tomuschat sei die Überführung in den zivilen Status
völkerrechtswidrig gewesen und die Italiener wären deshalb
weiterhin im Kriegsgefangenenzustand verblieben und daher nicht
anspruchsberechtigt3.
Tomuschat mag formaljuristisch Recht haben, jedoch ist seine
Interpretation zynisch. Das Recht sollte auch als Rahmen gelten, um
tatsächlich begangene Verbrechen zu entschädigen. Die faktische
Behandlung der italienischen Soldaten war unrechtmäßig und hat
ihnen konkretes Leid zugefügt4.
Die italienischen Internierten hatten nicht die selben Rechte wie
andere Kriegsgefangene und waren von Lebensmittelpaketen des
Internationalen Roten Kreuzes ausgeschlossen (eine Verletzung der
Art. 11, 37 der Genfer Konvention). Insbesondere verstößt der
Ausschluss der italienischen Internierten gegen das
Gleichbehandlungsprinzip. Denn der Innenausschuss des Deutschen
Bundestags hatte im Juni 2000 polnische Kriegsgefangene, die
ebenfalls Zwangsarbeit leisten mussten und in den zivilen Status
überführt wurden, in den Kreis der Anspruchsberechtigten von
Entschädigungen aufgenommen.5
Handelte die Bundesregierung hier willkürlich oder wider
besseren Wissens?
Völkerrecht auch für Menschen?
Schließlich negiert die Bundesregierung die
Rechtssubjektivität von Individuen im Völkerrecht. In dem
Antragstext der BRD heißt es, dass nur Staaten gegen Staaten klagen
könnten. Schon Hans Kelsen hatte 1934 in seiner Reinen Rechtslehre
formuliert: „In demselben Maß, als das Völkerrecht mit seiner
Regelung in Materien eindringt, die bisher nur durch die
einzelstaatliche Rechtsordnung normiert waren, muß sich eine Tendenz
zu unmittelbarer Berechtigung und Verpflichtung der Individuen
verstärken".6
Die Völkerrechtsordnung teilt sich in zwei Ebenen: in die
Primärregeln (Grund- und Pflichtnormen der Weltgesellschaft) und die
Sekundärregeln, also Prinzipien, die bei Verstößen gegen das
humanitäre Völkerrecht greifen und aus denen sich eine
Subjektivierung des Individuums zum völkerrechtlichen Rechtssubjekt
ableiten lässt.7
Für Individuen soll ein effektiver Rechtsschutz zur Durchsetzung von
Kompensationsansprüchen gegen verletzende Staaten garantiert werden,
eine Praxis, die auch bei den Kriegsverbrechertribunalen für
Jugoslawien und Ruanda angewendet wurde.
Eine Subjektivierung des
Individuums im Völkerrecht stellt eine emanzipative Entwicklung im
Rechtssystem dar. Durch die dezentrale gerichtliche Implementierung
von Menschenrechten, also Ansprüchen von Individuen gegen Staaten,
rücken gerade die Interessen der Opfer in den Fokus der juristischen
Auseinandersetzung. Wenn Staaten sich in einem Transformationsprozess
von einer Diktatur zu einer Demokratie befinden, dann kommt es
regelmäßig zu Entschädigungen für die Opfer des Unrechtsregimes.
Jedoch ist es politische Praxis, dass über Entschädigungszahlungen
im Rahmen von „Deals" oder Globalverträgen zwischen Staaten
entschieden wird. Die Bundesregierung beteuerte in einer Anfrage der
Linkspartei bezüglich des IGH-Verfahrens, dass „alle
Bundesregierungen nach Kräften auf Wiedergutmachung und Versöhnung
hingewirkt hätten".8
So hätte die Bundesrepublik gerade auch die Verbrechen gegenüber
Italien mit einer Wiedergutmachungszahlung von 40 Millionen DM im
Jahre 1961 gesühnt. Dieses Vorgehen der Bundesregierung reiht sich
in den deutschen Diskurs über einen „Schlusstrich unter die
Geschichte" ein. Es soll der Anschein erweckt werden, dass sich
alle Entschädigungsfragen bereits erledigt und die Taten des Nazi
Regimes beglichen worden seien. Die Zahlungen der Bundesregierung
gegenüber Italien waren jedoch nicht abschließender Natur, sondern
umfassten lediglich die Entschädigungen für Opfer von „politischer,
religiöser und rassistischer Gewalt". Die Opfer von
Kriegsverbrechen werden aus der Perspektive der Bundesregierung damit
nicht als NS-Opfer angesehen und gehen leer aus.9
Die transnationale Gegenhegemonie
Es ist
fraglich, inwieweit die Urteile und das Verfahren den Opfern des
NS-Regimes nützen werden. Michael Braun hatte in der taz zu dem
Verfahren angemerkt, dass Deutschland mit seiner Argumentation Erfolg
haben und dass die Opfer den Kampf im juridischen Diskurs verlieren
könnten.10
Gerichtsverfahren befinden sich in dem System des Rechts, welches von
den Auslegungen und Interpretationen juridischer Intellektueller
bestimmt ist. Es ist schon für Jurist_innen schwer genug die
Verfahrensweisen des Völkerrechts zu durchdringen. Ein Zustand, der
gerade dadurch verschärft wird, dass die Opfer vor dem IGH kein
Rederecht haben. Moralische Werte, wie Entschädigung oder
Gerechtigkeit finden im juridischen Diskurs keinen Platz und die
Gefahr besteht, dass die materiellen Verbrechen an den Opfern
formaljuristisch nicht berücksichtigt werden. Jedoch birgt das
derzeitige Verfahren auch ein gewisses revolutionäres Moment: die
Urteile in Griechenland und Italien, die die Entschädigungen für
rechtens erachtet haben, führten zu einer Gegenhegemonie im
Rechtsdiskurs, die die universellen Menschenrechte in den Mittelpunkt
juristischer Argumentationen stellte und Individuen darüber hinaus
eine Subjektivierung im Völkerrecht zukommen ließ. Die
italienischen Gerichte entschieden dabei auch gegen den Willen der
italienischen Regierung, die, das hat das bisherige Verfahren
gezeigt, kein Interesse an „belasteten" diplomatischen
Beziehungen zu Deutschland hat. Das transnationale Recht eröffnet
Ansatzmöglichkeiten für eine strategische Ausrichtung der Kämpfe
von sozialen Bewegungen. Auch der Gerichtsaal ist eine Arena, in der
ein Sieg davongetragen werden kann.
In Deutschland blickt man
sicherlich mit angsterfüllten Gedanken auf das Urteil des
Verfahrens. Einhellig hatten die Süddeutsche, die FAZ und die Welt
eine Panikmache ausgelöst, als sie von einer millionenfachen
Klagewelle gegen die BRD schrieben. Auch die neue Position der
Bundesregierung in den Internationalen Beziehungen kann ein für die
Opfer positives Urteil nicht gebrauchen. Deutsche Soldat_innen
kämpfen in Afghanistan oder Somalia für angebliche „deutsche
Interessen". Gerade vor dem Hintergrund der Kunduz-Affäre - bei
der afghanische Zivilisten durch deutsche Bombardements gestorben
sind - wird die Bundesregierung kein Interesse daran haben, dass
Individuen gegen Kriegsverbrechen der BRD auch in Zukunft klagen
können.
Weiterführende Literatur:
Anestis
Nessou, Griechenland 1941-1944: Deutsche Besatzungspolitik und
Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung. Eine Beurteilung nach dem
Völkerrecht, 2009.
Andreas Fischer-Lescano / Carsten Gericke:
Der IGH und das transnationale Recht; in: Kritische
Justiz (KJ), 1/2010, 78 ff.
Norman Paech,
Staatenimmunität und Kriegsverbrechen, in: Archiv
des Völkerrechts (AVR), 47/2009, 36 ff.
1Ausführlicher: Helmut Kramer / Karsten Uhl / Jens-Christian Wagner (Hrsg.): Zwangsarbeit im Nationalsozialismus und die Rolle der Justiz, 2007.
2 Wolfgang Cremer, Entschädigungsklagen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen und Staatenimmunität vor nationaler Zivilgerichtsbarkeit, in: Archiv des Völkerrechts, 41/2003, 137 ff.; ferner Mathias Reimann, A Human Rights Exception to Sovereign State Immunity, Michigan Journal of International Law 16/1995, 403 ff.
3 Vgl. Gutachten Tomuschat, Christian bzgl. „Leistungsberechtigung der italienischen Militärinternierten nach dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" (EVZ), Archiv des Bundesverbandes Information und Beratung für NS-Verfolgte, 31.07.2001.
4Siehe auch: Luca Blisset, Globales nunca mas!in: KJ, 41/2008, 279 ff.
5Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, 4.7.2000, BTag-Drs. 14/3758.
6Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, 143.
7Vgl. Andreas Fischer-Lescano, Subjektivierung völkerrechtlicher Sekundärregeln, in: AVR 45 (2007), 299-381.
8Siehe: Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache: 16/9955.
9Martin Klinger, Staatenimmunität als Instrument der Entschädigungsverweigerung, RAV-Informationsbrief 102 (2009).
10 Michael Braun, Deutsche geiziger als Berlusconi in: die tageszeitung (taz) vom 28.12.2008.