Kältere Zeiten

„Alle reden über's Wetter" - wir auch, oder wir nicht? Manchmal wird es Zeit, alte Fragen neu zu stellen, oder in neuen den alten Kern freizulegen. Geht es überhaupt um das Wetter? Es hieß, die Schneedecke im Dezember 2010 sei die dickste gewesen, die je in einem Dezember gemessen wurde. Vielleicht stimmt das ja, bezogen auf den Dezember. Ältere werden sich erinnern, dass es in den Fünfziger oder Sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ebenfalls Schneeberge auf den Straßen gab, die sicher nicht kleiner waren, aber das war ja vielleicht im Januar oder Februar. Man konnte Schlitten fahren, die Nächte waren kalt und an Fenstern Eisblumen.
Und die Berliner S-Bahn fuhr, meist auch die Eisenbahn. Das tun sie jetzt nicht, jedenfalls nicht planmäßig. Jetzt fährt die Bahn manchmal gar nicht, oder aber stark eingeschränkt und mit wechselnden Verspätungen; die S-Bahn fährt mit einem Not-Fahrplan. Diese Not entspringt nicht Krieg oder Naturkatastrophen; dass im Winter zuweilen Winter ist, hat eine bestimmte statistische Wahrscheinlichkeit. Die sollte als eine meteorologisch bedingte Normalität angesehen werden, nicht als plötzlich und unerwartet hereingebrochenes Unglück. Während man zwanzig Minuten frierend auf dem S-Bahnhof herumlungert, darf man sich fünfmal den verlogenen Spruch anhören: „Wir bitten um Entschuldigung". Dafür, dass Schnee gefallen ist?
Dass die Bahn nicht fährt, ist bewusst herbeigeführt worden. Die Normalität Winter hatte in der Vergangenheit zur Folge, dass man sich darauf einstellte: Es gab Reserven an Waggons, an Lokomotiven bzw. Triebfahrzeugen, an Reparaturkapazitäten und an Personal - nicht nur Lokomotivführer, S-Bahn-Fahrer und Stellwerkspersonal, ebenfalls Streckenwärter und andere, die auch mal eine Schaufel anfassen konnten, um auf dem Bahnsteig Schnee zu räumen. Niemand kommt auf die Idee, Theologen an den Operationstisch in der Chirurgie zu stellen; die sind für Tröstung oder letzte Ölung zuständig, nicht für die Sache als solche. In der Führung der Berliner S-Bahn aber saßen plötzlich lauter BWLer, doch kein richtiger Eisenbahner. So wurden die Reserven abgebaut: rollendes Material, Wartungskapazitäten, Personal - selbst ohne Schnee fällt schon mal ein Teil des S-Bahn-Verkehrs aus, weil ein Stellwerker plötzlich erkrankte und niemand greifbar war, der dessen Schicht übernehmen konnte. Die beheizbaren Weichen wurden vielfach gegen zufrierende ausgetauscht. „Das rechnet sich nicht", hieß es.
Hinzu kommen sich offenbar vermehrende technische Mängel: Räder, Bremsen, Kästen für Bremssand der Züge müssen häufiger gewartet werden, als man angeblich gedacht hatte. Wer ist man? Der BWLer, der den Auftrag hatte, die S-Bahn auszuquetschen, um das Geld bei Herrn Mehdorn für den Börsengang abzuliefern, oder der Eisenbahner? ICEs fahren bei Frost nicht zuverlässig, im Sommer aber auch nicht, dann wegen hoher Temperaturen. „Unsere Züge sind für diese Temperaturen nicht gebaut", wurde gesagt. Also für Winter nicht, für Sommer auch nicht. Mit welchen Zügen wollen die angeblich so hervorragenden Vertreter deutscher Ingenieurskunst eigentlich bis Warschau oder London oder noch weiter fahren, wenn die nicht einmal hier im Lande zuverlässig verkehren können? Oder waren wieder die BWLer schuld, die den Ingenieuren den Rotstift gehalten haben?
Die Grundvorstellung der derzeitigen Entscheider ist falsch. Die gesamtgesellschaftliche oder auch nur volkswirtschaftliche Effektivität einer Einrichtung der öffentlichen Daseinsvorsorge, wie es die Bahn ist, besteht nicht darin, dass das „Unternehmen Bahn" einen möglichst großen betriebswirtschaftlichen Gewinn erwirtschaftet, sondern dass die vielen Menschen, die mit der Bahn zur Arbeit fahren, dort pünktlich ankommen, dass auch alle anderen Reisenden planmäßig, rasch und sicher dort hinkommen, wo sie hin wollen, und dass die Waren, die die Bahn transportiert, dort rechtzeitig sind, wo sie sein sollen. Das gilt übrigens auch für andere Bereiche, wie Energieversorgung, Wasserversorgung, Gesundheit, Bildung und so weiter. Das heißt, „die Kosten", die durch Abschaffung der „Reserven", die Auslichtung des Personals der Bahn und all die anderen Kürzungsmaßnahmen „eingespart" wurden, zahlen die Bahnnutzer dutzendfach drauf. Die als Einzelunternehmen gedachte Bahn wurde „effektiver" gemacht, indem sie gesamtgesellschaftlich immer mehr Ineffektivität verursacht.
Das klingt angesichts der derzeit obwaltenden Umstände logisch. In den quasi-religiösen Glaubenssätzen des Neoliberalismus kommen derartige Erkenntnisse aber nicht vor. Von der „unsichtbaren Hand" des Marktes wird schwadroniert. Tatsächlich jedoch geht es um die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums, wie er in Gestalt etwa der Bahn über viele Jahrzehnte angesammelt wurde, in private Hände, faktisch eine Enteignung. Die Akteure waren im Falle der Deutschen Bahn nur zu schnell zu gierig, so dass die tatsächliche Privatisierung noch nicht vollzogen werden konnte. Unter den gegenwärtig Regierenden geistert jedoch noch immer das Gespenst des Börsengangs herum.
Die derzeitigen Schwierigkeiten des Bahnverkehrs sind weder ein meteorologisches, noch ein technisches, sondern ein gesellschaftliches Problem. Es muss über die Gesellschaft geredet werden, in der dies gerade geschieht. Einige Aufschlüsse bietet der Bericht, den Sozialwissenschaftler unter der Federführung Wilhelm Heitmeyers jüngst unter dem Titel: Deutsche Zustände. Folge 9 (Suhrkamp Verlag Berlin 2010) vorgelegt haben. In der öffentlichen Wahrnehmung der Studie wurde vor allem der Befund in den Blick genommen, dass mit der Wirtschaftskrise offensichtlich der Sozialdarwismus unter den Besserverdienenden zugenommen hat und eine „Vereisung des sozialen Klimas" zu verzeichnen ist, die die höheren Einkommensgruppen immer feindseliger den sozialen und anderen Minderheiten gegenüberstehen lässt. Man will mehr, man will immer weniger abgeben und betrachtet die sozial Schwachen als „unnütz" und „Schmarotzer". (Es ist dies wohl der Resonanzboden, auf dem Sarrazin für sein vielverkauftes Buch trommelt.)
Hinter all den konkreten und für sich genommen schon höchst aufschlussreichen Befunden dieser Studie steht jedoch mehr: Die Frage nach dem Zustand und der Perspektive dieser real existierenden deutschen Gesellschaft nach zwanzig Jahren deutscher Einheit, zehn Jahre nach dem Beginn des neuen Jahrhunderts. Heitmeyers Ansatz zielt auf die Faktoren gesellschaftlicher Desintegration, die sich dann in „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" äußert: Leistungen, die sich eigentlich gesetzlich oder statuarisch aus der Verpflichtung gesellschaftlicher bzw. staatlicher Institutionen oder der Zugehörigkeit zu Gemeinschaften (was eine Renten- oder Krankenversicherung sein kann) ergeben, dienen der Sicherung der materiellen Grundlagen der Gesellschaft, der sozialen Sicherstellung und persönlichen Unversehrtheit der Menschen. Am Ende heißt dies gesellschaftliche Integration; es ist das, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält und funktionieren lässt.
Bleiben diese Leistungen aus, kommt es zur Desintegration, zur Auflösung der Regeln des Zusammenlebens, zur Zunahme von Gewalt gegen andere und sich selbst. Damit nehmen die Konflikte in der Gesellschaft zu und deren Regelungsfähigkeit nimmt ab. Natürlich besteht kein linearer Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Makroebene und individuellem Verhalten; doch massenhafte Veränderung des Verhaltens führt zu einer Änderung der Verhältnisse. Die Frage ist nur: Wohin? Fremdenfeindlichkeit, Islamfeindlichkeit, zunehmende Gewaltbereitschaft, Abwertung von Obdach- und Arbeitslosen, Verachtung sozial Schwächerer, dekadente „Eliten", Klassenkampf von oben, schließlich beabsichtigte soziale Desintegration und Entsolidarisierung sind die Folgen. Die Herrschenden und ihre Regierer betreiben eine gezielt „peitschende Politik" gegen Gruppen sozial Schwacher, die mit einer „wertlosen Wertedebatte" und „kostenloser" Moralisierung übertüncht wird. Das Ergebnis ist - hier bezieht sich Heitmeyer auf den Soziologen Claus Offe - eine „schleichende Verrottung des demokratischen Systems".
Die Deutschen Zustände sind eine Langzeitstudie, deren Befunde seit 2002 in Folgen - daher jetzt Folge 9 - vorgelegt werden. Diese hat die Krisenprozesse seit 2008 zum Hintergrund. Heitmeyer unterscheidet vier Stadien: (1) die Finanzkrise seit 2008, in der die Frage nach den Risiken des vorherrschenden Systems gestellt war; (2) die Wirtschaftskrise, die die arbeitende Bevölkerung und die von Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit und prekären Arbeitsverhältnissen Betroffenen zu denen machte, die die Folgen der Risikologiken dieses Systems zu tragen hatten; (3) die Fiskalkrise mit ihren weitreichenden Folgen für die öffentlichen und vor allem kommunalen Haushalte, durch die die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise vollends auf die sozial Schwachen abgewälzt wurden - mit weitreichenden Reduzierungen der sozialen Leistungen; (4) die Gesellschaftskrise, in der die ökonomischen Probleme auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt durchschlagen. Die Stadien bilden auch eine Abfolge, in der die vorhergehende die jeweils nächste Krise zur Folge hatte und schrittweise immer größere Teile der Gesellschaft erfasste. Von hier ist es dann kein weiter Weg mehr zu einer Krise des politischen Systems.
Die politisch Verantwortlichen haben angesichts konjunktureller Erholung die Wirtschaftskrise 2010 für beendet erklärt. Die Fiskalkrise und die Gesellschaftskrise - deren Indikatoren die anomischen Befunde der Entsolidarisierung sind - halten jedoch an. Wie es mit den Folgen für das politische System ist, wird sich 2011 zeigen müssen. Dem Klassenkampf von oben müssen die arbeitenden Menschen und sozial Ausgegrenzten einen neuen Klassenkampf von unten entgegensetzen, der Entsolidarisierung eine bewusste Politik der Solidarisierung. Das ist in erster Linie ein Kampf um Demokratie, darum, dass die Interessen der Mehrheit der Gesellschaft auch die gesellschaftlichen Interessen bestimmen. Dazu ist auch ein neues linkes Demokratie-Konzept vonnöten. Wenn kältere Zeiten anbrechen, braucht es Wärme. Und dann wird hoffentlich eines Tages auch die Bahn wieder zuverlässig und pünktlich fahren.