Vergesst Cancún!

Für einen Strategiewechsel in der Klimapolitik

Hören wir auf zu träumen! Die Klimakonferenz in Cancún hat zwar die Scherben von Kopenhagen zusammengekratzt. Als Erfolg gefeiert wurde, dass überhaupt ein gemeinsames Dokument zustande kam mit Aussagen zum Schutz der Regenwälder und Geldversprechen für die armen Länder. Aber nichts davon ist finanziert oder gar völkerrechtlich verbindlich. Und es wird in absehbarer Zeit auch kein verbindliches Abkommen geben, weil ein solches eine Zweidrittelmehrheit im US-Senat benötigen würde und ohne die USA zudem China und Indien nicht mitmachen.

Ist also alles verloren? Ich denke: Keineswegs! Es gibt sogar gute Gründe für Optimismus. Weltweit hat die Entwicklung der erneuerbaren Energien alle Forderungen von Grünen und Klimaschützern überholt. Das gilt auch für die USA und China, die im vergangenen Jahr über die Hälfte aller Windkraftanlagen weltweit installiert haben. Bislang glaubte man noch, ein Alleingang einer Nation oder gar der Europäischen Union wäre zu teuer. Aber die Situation hat sich geändert. Wir müssen aufhören, auf Klimaabkommen zu warten. Immer mehr Experten schlagen stattdessen eine Vorreiterstrategie vor. Dieser Vorschlag geht davon aus, dass die erneuerbaren Energien in den kommenden 50 Jahren die Schlüsseltechnologien schlechthin werden. Wenn nun Deutschland, das führende Maschinenbauland der Welt, sich zum Ziel setzt, in maximal 30 Jahren auf erneuerbare Energien umzusteigen, ist das das erforderliche Startsignal. China und Indien, Ägypten und Marokko, Brasilien und Mexiko und viele US-Bundesstaaten beobachten sehr genau, was hier in Europa geschieht. Eine solche Entscheidung würde einen weltweiten Wettlauf auslösen. Wird eine solche Entwicklung erst einmal eingeleitet, dann kann die Umstellung viel schneller erfolgen, als die Experten bislang für möglich hielten. Prof. Schellnhuber, der Direktor des Klimaforschungsinstituts in Potsdam, spricht vom Selbstbeschleunigungspotenzial solcher Innovationsprozesse. Noch vor fünf Jahren hielten die meisten Experten eine CO2-freie Stromversorgung frühestens Ende des Jahrhunderts für möglich. Nun liegen bereits mehrere Studien vor, nach denen die Umstellung bereits 2050, 2040 oder sogar 2030 abgeschlossen werden kann. Die Stellungnahme des Sachverständigenrates der Bundesregierung rechnet vor, dass ab 2030 die Preise für Strom aus erneuerbaren Quellen bereits niedriger liegen als die aus noch nicht abgeschriebenen fossilen und nuklearen Kraftwerken. Wer wird bei solchen Aussichten noch Kohle- oder Atomkraftwerke bauen? Deutschland hat ideale Voraussetzungen, um anzufangen. Es liegt zwischen den größten Wasserspeichern Europas: den Stauseen in Skandinavien und den Alpen. Der Sachverständigenrat hat deshalb für die Übergangsphase einen kleinen Stromverbund zwischen Deutschland und Skandinavien vorgeschlagen – eventuell unter Einbeziehung der Schweiz. Wenn diese Speicher durch neue „Super-Strom- Leitungen“ verfügbar gemacht werden, um die Schwankungen der Windkraftparks auszugleichen, dann kann bereits 2020 über die Hälfte des Stroms in Deutschland aus Erneuerbaren gewonnen werden. Dies sollte im Rahmen einer abgestimmten EU-Strategie geschehen. So können parallel der Ausbau von Speichern vor Ort – zum Beispiel von Druckluft- oder Wasserstoffspeichern – und die Einbindung von thermischen Solarkraftwerken in Nordafrika beginnen. Klimaabkommen werden zwar nie die Dynamik bringen, die wir brauchen, sie sind aber als Flankenschutz sinnvoll. Eine ihrer wichtigsten Funktionen kann die Organisation des Transfers von Geld und Know-how von Nord nach Süd sein. Klimaabkommen können auch Sabotage des Innovationsprozesses durch Ölförderländer verhindern, die mit Dumping-Angeboten von Öl und Gas reagieren.

Klimaabkommen können also hilfreich sein. Es wäre aber fatal, weiter darauf zu warten. Denn wenn die Europäer weiter mauern, müssen wir uns nicht wundern, dass andere skeptisch auf uns schauen und sich fragen, ob wir unsere engagierten Reden ernst meinen. Und letztlich versäumen wir die Chancen, die die Umstellung für unsere Wirtschaft bietet. Nur wenn wir heute damit beginnen, das Notwendige zu tun, wird die Dynamik entstehen, die erforderlich ist. Packen wir’s an!

Karl-Martin Hentschel,
geb. 1950, bis 2009 Vorsitzender der Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen in Schleswig-Holstein.
karl.m.hen@googlemail.com