Jugoslawien - eine Rückblende

Zwanzig Jahre nach seinem Ende

In diesem Jahr ist es zwanzig Jahre her, dass der offene Kampf in und um Jugoslawien begann und die völkerrechtliche Anerkennung Kroatiens und Sloweniens Ende 1991, Anfang 1992 auch formell den entscheidenden Schritt zu seiner Auflösung darstellte. Damit endete zugleich der maßgeblich von Tito betriebene Versuch, Jugoslawien nicht nur als Staat zu erhalten, sondern es auf dem so genannten Dritten Weg in eine menschlichere Zukunft zu führen. Diesem Versuch wohnten die Elemente bereits inne, die zu seinem Scheitern führten.

Um Südosteuropa ist es vergleichsweise still geworden. Noch in den 1990er Jahren war das Interesse daran, was sich dort abspielte, enorm. Massenmedien, aber auch Stellungnahmen angeblicher Experten ergingen sich in einseitiger, durch allenfalls rudimentäres Wissen über den Balkan eingegrenzter Sensationsberichterstattung vor allem über Jugoslawien. Sie prägt die politische Debatte ungeachtet ihrer Unzulänglichkeiten bis heute. Man fragt sich nur: Warum ist es um Südosteuropa so still geworden? Ist ›unser‹ Südosten keine Krisenregion mehr? Sind die neu entstandenen Staaten und die Verhältnisse vor Ort mittlerweile stabil? Oder ist die innere und äußere Umstrukturierung dieses Teils Europas vielleicht weitgehend abgeschlossen, und eine besondere mediale ›Aufarbeitung‹ erscheint deshalb als nicht mehr geboten?

Der Rahmen des 20. Jahrhunderts

Jugoslawien, das so unrühmlich zugrunde ging bzw. zugrunde gerichtet wurde, stellt sich wie ein Intermezzo – manche meinen: wie ein Experiment1 – zwischen dem Ersten Weltkrieg und den Kriegen der 1990er Jahre dar. Für diejenigen, die ihm ohnehin nicht zugeneigt waren, hat dieses Provisorium seine Raison d‘être nunmehr endgültig verwirkt. Andererseits setzte Jugoslawien über gut ein Dreiviertel-Jahrhundert die Geschichte des ›Balkan‹ fort, die sich wie ein Regenbogen zwischen der Wiege der europäischen Zivilisation im Altertum und der Barbarei eines europäischen Hinterhofs in der jüngsten Geschichte spannt. Dass die aus allen Himmelsrichtungen kommenden Großmächte2 – Alexander der Große, West- und Ostrom, Madjaren (Ungarn), Habsburger, Venezianer, Osmanen – in ihrem Streben nach Herrschaft und Eroberung in Südosteuropa jahrhundertenlang ihr Unwesen trieben und implizit dafür Sorge trugen, dass ein faktisch permanenter Ausnahmezustand ebenso lange den Alltag prägte und das Alltagswissen strukturierte, ist kein Geheimnis.

Die Folge davon war und ist partiell bis heute ein alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens erfassender instabiler Zustand, den man immer wieder mit dem Begriff ›Balkanisierung‹ zu umschreiben suchte. Der Begriff war pejorativ gedacht und sollte das Trennende, die Distanz und die Andersartigkeit gegenüber (west-)europäischer Stabilität (bzw. der Überzeugung von deren Existenz) suggerieren und hervorheben. Er brachte die ganze Verachtung des europäischen Machtzentrums gegenüber seiner Peripherie zum Ausdruck, die sich vermeintlich konstitutiv durch Rückständigkeit, Streit und Gewaltbereitschaft auszeichnet.

Tatsächlich weist Südosteuropa – über die üblichen Differenzen hinaus – spezifische Strukturen auf, wenngleich diese keineswegs biologistisch-kulturalistisch oder gar ontologisch verstanden werden dürfen. Andeutungsweise könnte man etwa das Entwicklungsgefälle anführen, aber auch bestimmte Familien- und Verhaltensformen. Während das Entwicklungsgefälle nachweislich eine Folge der tausendjährigen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Südosteuropas3 ist, sind Familien- und Verhaltensformen4 ursprünglich als mehr oder weniger gelungener Versuch zu deuten, der äußeren, aber auch der inneren Bedrohung zu entkommen. Die Frage nach Stabilität und Sicherheit bestimmte nicht nur den Alltag, sondern stand darüber hinaus stets im Fokus aller gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten.

Keinesfalls außer Acht gelassen werden darf die außenpolitische, die eigentlich imperiale Komponente, die auf dem Balkan stets die zentrale Rolle spielte. Die historische Aufgabe der lokalen und regionalen Eliten bestand ihrem eigenen Verständnis nach darin, die dortigen unterdrückten Nationen einerseits in die Freiheit und andererseits aus der Barbarei zu führen. Dies hatte wiederum zur Folge, dass vom Gelingen dieser Mission abhing, wer von ihnen die neu zu verteilende Herrschaft für sich beanspruchen und sichern konnte. Das Ganze geschah unter der Flagge des Nationalen, auch wenn von Nationen im Sinne der Moderne keine Rede sein konnte.5 Kriege, Vertreibungen und Verbrechen aller Art waren die Folgen. In ihren Grausamkeiten standen südosteuropäische Kriegsparteien anderen in nichts nach. Der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung waren die Balkankriege des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts sowie der Erste Weltkrieg.

Als das Massensterben und -vertreiben im Umfeld des Ersten Weltkriegs vorläufig beendet war, das in bestimmten Teilen Südosteuropas von allen Beteiligten mit schier unvorstellbarer Nachhaltigkeit betrieben wurde, bot sich neben dem Grauen einer Nachkriegssituation auf dem westlichen Balkan auch eine Art Interregnum dar; über die langfristige politische Zukunft dieses Teils Europas musste noch innenpolitisch sowie vor allem außenpolitisch entschieden werden.

Nach dem Zusammenbruch mehrerer Großreiche war es mehr als konsequent, dass die politische Karte Europas nun neu gezeichnet wurde. Das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat) unter der Führung der serbischen Karadjodjevic-Dynastie war eines der Konstrukte, die damals im Jahr 1918 neu entstanden.

Über die Vor- und Nachteile des SHS-Staates hat man erbittert gestritten, und er ist bis heute ein Zankapfel geblieben. Dass eine politische, faktisch ad hoc durchgesetzte Lösung der südslawischen Frage in einem so heterogen strukturierten Land wie Jugoslawien auch nicht annähernd zur Zufriedenheit der Mehrheit, geschweige denn aller seiner Einwohner realisiert werden konnte, erstaunt kaum – jedenfalls dann, wenn man die Geschichte statisch denkt und jede Perspektive als eine in die Ferne entrückte utopische Vorstellung ablehnt. Anderseits war eine solche ablehnende Haltung damals durchaus begründet, nicht zuletzt aufgrund der Tiefe und der Konstanz der historischen Erfahrungen. Schließlich artete die Fundamentalopposition in einen latenten Bürgerkrieg6 aus, der bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, nämlich während des Zweiten Weltkriegs, im blutigen Reigen eines offenen Bürgerkrieges seine Fortsetzung fand.

Über die immensen Destruktionen7, die daraus folgten und sämtliche Bereiche des Landes und der Gesellschaft trafen, soll hier nur angemerkt werden: Es waren quantitativ gesehen mit die größten Zerstörungen und Verbrechen, die im Zweiten Weltkrieg in einem einzelnen Land angerichtet wurden. Dabei gehörte das imperiale Streben nach Erweiterung ihres Machtbereichs auf Kosten des sich in der Auflösung befindenden Staates Jugoslawien zur Kernstrategie der europäischen Großmächte und ihrer Vasallen. In dieser Situation, in der in großen Teilen des Landes die Grenze zur Barbarei weit überschritten wurde, schien die Hoffnung auf Besserung völlig unerfüllbar. Just in dieser schier aussichtslosen Lage tauchte jedoch wie aus dem Nichts eine neue Bewegung auf und bot anscheinend eine Brücke über den Abgrund der allseitigen Vernichtung: Die Partisanenbewegung unter der Führung der KPJ und ihres Generalsekretärs Josip Broz, genannt Tito, die unter den maßgeblichen Kräften sowohl innerhalb als auch außerhalb des zerschlagenen Jugoslawien zunächst kaum Anerkennung fand.

Gerade aus dieser Konstellation erwuchs der Partisanenbewegung und in besonderer Weise ihrem Führer Tito eine sich ständig erweiternde Legitimationsbasis, nicht nur den Befreiungskrieg zu Ende zu führen, sondern auch eine politische Umstrukturierung bzw. Neugestaltung Jugoslawiens herbeizuführen. Darüber hinaus besaß Titos Vision eines sozialistischen Staates gleichberechtigter Völker offenbar nicht nur enorme Anziehungskraft, sondern setzte zugleich nicht mehr für möglich gehaltene Kräfte frei.

Janusgesichtiger Titoismus

Titos Vita ist ein geradezu prototypischer Teil der europäischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, insbesondere ihrer mittel- und südeuropäischen Variante. Sie verläuft nicht gradlinig, ist voller Brüche, Wendungen und Gefahren. Tito ist zweifellos ein Überzeugungstäter, aber ebenso, wenn erforderlich, ein Hasardeur, ausgestattet mit einer nicht unbedeutenden Portion geradezu ›teutonischer Unnachgiebigkeit‹. Von einem fahrenden Gesellen, der als ›Gastarbeiter‹ sein Brot verdient, über die Teilnahme am Ersten Weltkrieg auf dem Balkan und an der ›Ostfront‹ gegen das zaristische Russland, wo er schwer verwundet wird und in Gefangenschaft gerät, entwickelt sich Broz zum überzeugten Kommunisten, der sich mit Begeisterung am Roten Oktober beteiligt und dessen Ideen und Ziele in seinem Heimatland zu verwirklichen trachtet. Es folgen weitere Stationen des inzwischen zum Berufsrevolutionär avancierten Politikers als politischer Häftling in Lepoglava und als ›Spanienkämpfer‹ gegen die Franquisten in den 1930er Jahren, welche die spanische Republik niederschlagen wollen. Der vorläufige Höhepunkt seiner an Kämpfen und Konspirationen reichen politischen Karriere ist mit Gewissheit seine Ernennung zum Generalsekretär der KP Jugoslawiens im Jahr 1937.

Als einer der Sieger des Zweiten Weltkriegs und nach blutiger Abrechnung mit seinen Feinden, die gleichwohl ihrerseits Verbrechen aller Art keineswegs abhold waren, widmete sich Tito nun mit aller Kraft seinem strategischen Ziel, nämlich der Sicherung seiner Herrschaft und dem Aufbau des Sozialismus zunächst selbstverständlich sowjetischer Provenienz in Jugoslawien. Der erneute Versuch einer Modernisierung des Landes, nunmehr unter sozialistischen Vorzeichen und im Rahmen einer Entwicklungsdiktatur, zeitigte erste Erfolge. Dabei hatte die enge, allseitige Verflechtung der jugoslawischen Wirtschaft mit den Ökonomien anderer sozialistischer Länder, zumal der Sowjetunion, zur Konsequenz, dass eine ebenso umfassende, beinahe sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens betreffende Abhängigkeit entstand. Ins Gewicht fällt in diesem Kontext gleichwohl der sich bereits anbahnende Kalte Krieg. Jugoslawien befand sich außenpolitisch in einer instabilen, noch nicht klar definierten Situation. Territoriale Streitigkeiten mit Italien, ein ungeklärtes Verhältnis zu Albanien, der Bürgerkrieg in Griechenland waren außenpolitische Konfliktlinien, die die jugoslawische politische Führung vor schwere Prüfungen stellten. Selbst eine erneute militärische Auseinandersetzung war keineswegs ausgeschlossen. Dabei agierte Tito zusehends auf eigene Faust und mitnichten nach den Vorstellungen der sowjetischen Führung.

Die ersten Risse in den Beziehungen zwischen der jugoslawischen Partisanenbewegung und der sowjetischen Führung waren bereits während des Krieges erkennbar gewesen. Hinzu kamen im Laufe der Zeit heftige Auseinandersetzungen nicht nur in außenpolitischen Angelegenheiten, sondern auch wiederholte Kontroversen über Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Zum offenen Bruch kam es jedoch erst in Bukarest im Sommer 1948 mit einer Resolution des Kommunistischen Informationsbüros (Kominform), Nachfolgeorganisation der Komintern, die die KPJ in Abwesenheit ausschloss. Es kann im Nachhinein konstatiert werden, dass es sich bei dem Konflikt – trotz mancher latenter ideologischer Differenzen und ungeachtet der diesen zugrunde liegenden unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnisse – letztendlich um die Machtfrage8 handelte, um die Frage nämlich, ob es möglich und statthaft sei, weltweit ein polyzentrisches sozialistisches System zu etablieren, oder ob es vielmehr geboten sei, bereits Bestehendes, nämlich das Sowjetische, staatenübergreifend zu erweitern und zu festigen. Ob Tito diesen letzten Weg hätte gehen können, ohne dadurch die Unterstützung der kleinbäuerlichen und kleinbürgerlichen Bevölkerungsteile zu verlieren – was gleichbedeutend damit gewesen wäre, die Solidarität des größten Teils seiner Bewegung zu verlieren – und infolge dessen an seiner Machtfülle und an seinem Mythos wesentlich einzubüßen, ist aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen. Für die Tatsache, dass er sich – trotz außerordentlich starken Drucks samt militärischer Bedrohung seitens Stalins – nachzugeben weigerte, scheint im Persönlichen nur eine Erklärungsvariante denkbar: Eine hohe, aber durchaus kalkulierbare Risikobereitschaft, die sein ganzes Leben hindurch zu Titos Grundhaltung gehörte und stets der Preis für den Machterhalt war.9

Seit immerhin den End-1940er und 50er Jahren stand Jugoslawien also isoliert und bedroht da, und es sah zunächst so aus, als ob dem neuen Staat das Fundament weggerissen worden wäre. Die immensen wirtschaftlichen Probleme, die das im Krieg verwüstete Land zu verkraften hatte, wogen aufgrund der internationalen Spannungen noch schwerer. Aus der sozialistischen Freundschaft war erbitterte Feindschaft geworden, aus dem Revolutionär Tito ein Rebell oder – so die sowjetische Lesart damals – gar ein Revisionist, ein Nationalist, ein Faschist. Ohne an dieser Stelle auch nur andeutungsweise eine kritische Analyse des sowjetischen Systems und seines Scheiterns vornehmen zu können, muss vor dem Hintergrund der damaligen globalen Machtverhältnisse hervorgehoben werden, dass die Trennung Titos vom ›sozialistischen Block‹ tatsächlich eine umfassende Zäsur darstellte. Denn mit ihr wurde der erste, keinesfalls unbedeutende Schritt auf dem relativ langen Weg der Beseitigung des Sozialismus als eines weltweiten Systems getan. Dieses Schicksal teilten die Sowjets mit ihren jugoslawischen Kontrahenten, mögen die Wege, die in den Niedergang geführt haben, noch so unterschiedlich gewesen sein.

Die jugoslawische ›Häresie‹ hat ferner ihren – wenn auch noch so bescheidenen – Beitrag dazu geleistet, dass sich innerhalb des sowjetischen Systems nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg und dem Erlangen des Weltmachtstatus kein Umdenken in Richtung sozialistische Demokratie vollzog. Während der Vergesellschaftungsprozess weitgehend statisch blieb, herrschte in der Sowjetunion der pure Etatismus und infolge der West-Ost-Konfrontation eine Art Burgmentalität, der es auf Repression und Verteidigungsbereitschaft ankam. Auch die Dekodierung der Ursachen für die ›Aufstände‹ in Ost-Berlin, Ungarn und Polen genügte allem Anschein nach nicht und änderte wenig an der starren und verhängnisvollen Haltung Moskaus.

Titos Jugoslawien versuchte dagegen, nach einer kurzen Pause der ›Besinnung‹ mit dem ›Stalinismus‹ zu brechen und einen ›wahren‹, ›authentischen‹ Sozialismus aufzubauen. Die als ›Stalinisten‹ identifizierten Mitglieder der KPJ wurden erbarmungslos verfolgt, inhaftiert und misshandelt. Auch hier betrachtete man offenbar die brutale Repression als angemessene Umgangsform mit politischen Gegnern. Der ›jugoslawische‹ Sozialismus sollte ein erster Versuch in der Geschichte sein, einen Staat, ja eine ganze Gesellschaft basisdemokratisch zu organisieren, wenngleich unübersehbar war, dass hierbei das historisch und strukturell Mögliche viel zu wenig bedacht wurde10 – geschichtliche Entwicklungen können nicht ohne weiteres übersprungen werden. Der so genannte Selbstverwaltungssozialismus brachte bedauerlicherweise nur ansatzweise die Partizipation der gesellschaftlichen Basis und die Selbstverwaltung11, dafür umso mehr aber den Markt und die Konkurrenz.

Mehrerlei Scheitern

Dass man Titos ›sozialistische‹ Marktwirtschaft zutreffender als Vorboten des aufkommenden Neoliberalismus charakterisieren könnte, beweisen nachhaltig die politischen und wirtschaftlichen Ereignisse der zweiten Hälfte der 1960er und der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Sie drängten Jugoslawien zunehmend in die Schuldenfalle, deren verheerende Konsequenzen allzu bekannt sind. Die Situation eskalierte endgültig in den 1980er Jahren, also nach Titos Ableben, und führte das Land in einen grausamen und menschenverachtenden Bürgerkrieg. Zuvor aber spielte sich bei den jugoslawischen Eliten ab, was sich stets bei Verteilungskämpfen, zumal auf dem Balkan, abspielt: Entsolidarisierung und Ethnisierung des Sozialen als Deutungsmuster der Staatskrise und völkischer Nationalismus als Deutungsangebot für ihre Lösung – mit all den bekannten verbrecherischen Implikationen.

Für diese Entwicklung trug tatsächlich gerade der ›Titoismus‹ als Theorie und politische Praxis die Ambivalenz in sich, die – nolens volens – strukturellen und politischen Voraussetzungen. Nachdem Tito mit seinem Versuch, eine integraljugoslawische Nation zu stiften, in Ermangelung einer einigermaßen homogenen Arbeitsgesellschaft gescheitert war, versetzte er dem bereits von Nationalisten und Wirtschaftsliberalen angeschlagenen Staat mit der Verfassung von 1974 einen – eigentlich als Befreiungsschlag konzipierten – Todesstoß.12 Die mit der neuen Verfassung gleichsam kodifizierte ethnische Falle stellt sich als letzte logische Folge der Ideologie des Dritten Weges dar, des Mythos von einer Art Sozio-Kapital-Synthese, die es faktisch nicht gab und wohl gar nicht geben kann.13 Was es geben kann und hoffentlich geben wird, ist eine durch die Vielfalt der Perspektiven qualitativ neu zu denkende Gesellschaft14 – jenseits der utopischen Wunschvorstellung, aber und vor allem ganz fern des auf erbarmungsloser Verwertung des Menschen und der Natur basierten neoliberalen Kapitalismus. Dass zu dem Weg zu ihr eine rigorose Bestandsaufnahme der bereits gescheiterten Versuche gehört – ohne dabei auch nur tentativ der Versuchung einer Moralisierung oder gar einer Idealisierung zu verfallen –, versteht sich von selbst.

Titos wahre Tragödie besteht allerdings letztendlich darin, dass auch in Folge seiner Politik nicht nur der ›Dritte Weg‹, sondern auch Jugoslawien als Staatsgebilde gescheitert ist. Sein letztes strategisches Ziel, das Fortbestehen dieses Staates zu sichern, hat er nicht erreicht.

Anmerkungen

1) Vgl. Sundhausen, Holm, 1993: Experiment Jugoslawien, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich

2) Vgl. dazu auch Sundhausen, 15ff

3) Kaser, Karl, 1999: »Vom Amselfeld bis zur Staatswerdung«, in: Hannes Hofbauer (Hg.): Balkankrieg: die Zerstörung Jugoslawiens, Wien

4) Ebd.

5) Vgl. Sundhausen, 14

6) Vgl. dazu: Calic, Marie-Janine, 2010: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, München, 83ff

7) Vgl. Sundhausen, Holm, 1982: Geschichte Jugoslawiens 1918–1980, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz, 142ff

8) Ebd. 156

9) Eine umfassende politisch-ökonomische Analyse des Konfliktes würde den Rahmen dieses Textes sprengen.

10) Vgl. Holz, Hans Heinz, 1972: Strömungen und Tendenzen im Neomarxismus, München, 67ff

11) Vgl. Conert, Hansgeorg, 2002: Vom Handelskapital zur Globalisierung, Münster, 2. Aufl., 428ff

12) Vgl. Calic, 171ff

13) Vgl. Dath, Dietmar, 2008: Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift, Frankfurt a. M., 60

14) Vgl. dazu u.a.: Zelik, Raul / Altvater, Elmar, 2009: Vermessung der Utopie, München


Željko Taraš ist Diplomsoziologe. An der Hochschule Fulda ist er als Lehrbeauftragter tätig und promoviert an der Universität zu Köln.