Europa am braunen Abgrund

Die Krise der EU und der Aufstieg des Rechtspopulismus

Was bleibt von Europa?

In Griechenland, Spanien und Portugal kämpfen sozialdemokratische Regierungen um ihr Überleben. Nach dem Generalstreik vom 11. Mai ist ungewisser denn je, wie lange Giorgios Papandreou die Mehrheit des Landes und der Panhellenischen Sozialistischen Bewegung (Pasok) noch hinter sich hat. Gegen Spaniens Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero (PSOE) – und mit ihm gegen die gesamte politische Klasse – richtet sich die Wut jener »Indignados« (der Empörten), die zu Zehntausenden in Madrid, Barcelona, Valencia und anderen Städten die öffentlichen Plätze in Besitz genommen haben, um für elementare Menschenrechte zu kämpfen: Wohnungen, Jobs, Mindestlöhne, ein Leben mit Zukunft, ohne Angst. Und in Portugal wird am 5. Juni über die Zukunft der Minderheitsregierung der Partido Socialista von José Sócrates entschieden. Sozialdemokratische Regierungen gibt es zudem noch in Österreich und Norwegen; in Irland ist die Labour Party als Juniorpartner in Regierungsämter gewählt worden – aber mehr hat die Europäische Sozialdemokratie unter den führenden Parteien Europas derzeit nicht aufzubieten. 

Ist das überhaupt relevant? Das fragen nicht nur Zyniker. Denn in den so genannten Krisenstaaten agiert die Sozialdemokratie an der kurzen Leine des Europäischen Rats, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds – Wahlen hin oder her.1 Die politischen Entscheidungen werden in Brüssel, Frankfurt und Washington getroffen – nationaler Gestaltungsspielraum nahe Null. Vehement unterstützt wird das von den GenossInnen aus Österreich, die strikte Sparpolitik fordern. Nur Norwegen ist in der Lage, sich das Schauspiel gleichsam vom Olymp seines Ölreichtums aus anzuschauen.

Das Gegenbild zum Niedergang der Sozialdemokratie ist der Aufstieg des Rechtspopulismus.

Im skandinavischen Osten avancierten die »Wahren Finnen« zur drittstärksten Partei; indem sie Regierungsgespräche zielgerichtet an der Frage der Zustimmung zum EU-»Rettungsfonds« im Falle Portugal platzen ließen, profilieren sie sich als zentrale Oppositionspartei zu einer Regierung, die Konservative, Sozialdemokraten, Grüne und »special interests« unter einen Hut bekommen muss.

Noch interessanter ist die Situation in Dänemark, wo die konservative Minderheitsregierung auf die Unterstützung der rechtspopulistischen »Dansk Folkeparti« (DF) angewiesen ist. Dort spielt Europa gleich zweifach eine die Innenpolitik prägende Rolle. Zum einen mit der Entscheidung, das Schengen-Abkommen de facto aufzuheben und Grenzkontrollen wieder einzuführen – in einem Land, das bereits eines der restriktivsten Ausländergesetze Europas aufweist. Um dies durchzusetzen, musste die DF der von der Europäischen Kommission koordinierten Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre zustimmen. Ein riskantes Manöver, hatte die Partei doch bis dato die Verteidigung des bestehenden Systems der Alterssicherung auf ihre Fahnen geschrieben.

Hier erkennt man das Muster eines »modernisierten« Rechtspopulismus: Auf Islamophobie zugespitzte Ausländerfeindlichkeit, verbunden mit einem exkludierenden – alles nicht Nationale ausgrenzenden – System sozialer Sicherung. Und beides verknüpft mit einer an Schärfe zunehmenden Ablehnung einer europäischen Integration, die bis weit in das bürgerliche Lager als eine von der Peripherie erpresste »Transferunion« wahrgenommen wird. Antisemitismus – das zeigt sich u.a. in der Neuaufstellung des Front National in Frankreich – wird zu einem nachgeordneten Element.

Ein kurzer Blick auf die FPÖ: Die Wahlbevölkerung traut dieser Partei gegenwärtig mit knapp 30% zu, Österreich zu regieren. Im Gegensatz zu früher bekennt sich ein Großteil der Bevölkerung klar zur FPÖ, es gibt keinen Schmuddelfaktor mehr, der Parteivorsitzende Strache gilt inzwischen als seriöser, als es Haider je war. Die Leute haben genug von »denen da oben«. Rote und Schwarze reden von Gerechtigkeit und Leistung, Kampfbegriffe für die nächsten Wahlen. Aber diejenigen, die das alles zahlen, können diese Phrasen nicht mehr hören. Sollen wir den Griechen noch Geld geben? Straches Antwort: Schmeißt die Faulenzer raus. Wie bekämpfen wir die Arbeitslosigkeit? Klar – wir lassen keine Ausländer mehr rein. Und ausländische Studenten – die sollen sich auch vom Acker machen. Das geht alles nicht laut EU-Recht, weiß auch Strache, aber ohne Europäische Union ginge es viel besser.

So hat sich eine gefährliche Gemengelage herausgebildet: Zunehmend hektischer sind die 27 EU-Regierungen von den Finanzmärkten gezwungen, auf die Bankenkrise und die massive Überschuldung vieler Euro-Staaten zu reagieren – mit einer Krisenpolitik, die in der Öffentlichkeit immer mehr als eine Politik des »Schreckens ohne Ende« wahrgenommen wird. Und gleichzeitig geraten die nationalen politischen Systeme unter Druck von Rechtsaußen. Ob in den skandinavischen Ländern, den Niederlanden, Belgien oder Frankreich: Der Einfluss rechtspopulistischer Parteien wächst. Wobei sich das Gebräu aus Europa-Skeptizismus und nationalistischer Rückbesinnung in den politischen Arenen unterschiedlich artikuliert: In Italien, Ungarn und Österreich sind Rechtspopulisten durch Regierungsbeteiligung längst hoffähig geworden. In den Niederlanden sucht die Wilders-Partei – wie die »Wahren Finnen« – eher eine Rolle außerhalb der Regierung. Das sichert ihr Einfluss, ohne Kompromisse eingehen zu müssen.

Auch in den großen »Kernländern« der EU lässt sich eine deutliche Erosion der europäischen Idee ausmachen.2 Nicht zuletzt in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Wochenzeitung »Freitag« förderte zutage: Rechtspopulistisches Gedankengut trifft längst auf breite Zustimmung in der Bevölkerung.

n 70% der Befragten sind der Auffassung, dass Deutschland zu viel Geld nach Europa transferiert.

n Knapp die Hälfte verlangt, dass die Zuwanderung nach Deutschland drastisch reduziert werden muss.

n 38% sind der Meinung, der Islam passe nicht zum westlichen Lebensstil und sei eine Bedrohung »unserer« Werte.

n 30% fordern ein »unabhängiges Deutschland ohne den Euro, in das keine Europäische Union hineinregiert«.3

Die hohen Zustimmungswerte sind erschreckend, aber nicht überraschend. Die Ausbreitung rechtspopulistischer Anschauungen ist Ausdruck einer Destabilisierung der Lebensverhältnisse. Die Erosion der »gesellschaftlichen Mitte«4 und eine verstärkte Abwärtsmobilität in Richtung der prekären sozialen Schichten bilden den Nährboden für wachsende Verunsicherung in der »gesellschaftlichen Mitte«.

Seit geraumer Zeit beobachten wir eine europaweite Zunahme von Ressentiments. Für die Belastung der sozialen Netze und der öffentlichen Haushalte werden Sündenböcke gesucht. Es wächst das Vorurteil, ein Teil der Gesellschaft bestehe aus Parasiten – seien es Arbeits- und ArmutsmigrantIn­nen, Faulenzer, »Sozialschmarotzer« oder ganz schlicht »Kriminelle«. Die These ist weder neu noch überraschend: Ökonomische, gesellschaftliche Umbrüche und kulturelle Modernisierungsprozesse haben den Verlust von gewohnten Milieus, von Sicherheiten und tradierten Orientierungen zur Folge. Ein möglicher Mechanismus, mit solchen Prozessen und Erfahrungen umzugehen, besteht darin, sie umzudeuten, d.h. zu nationalisieren und zu ethnisieren. Fremde, Außenseiter, sozial schwächere Gruppen dienen der Angstabwehr und der eigenen Aufwertung.5 »Jede Ausgrenzung von Gruppen, wie Sündenbock-Schemata überhaupt, basiert im Kern auf einer rechtsextremen Einstellung, da sie die Ungleichwertigkeit von Menschen im Alltag legitimiert und verfestigt. Die Legitimation von rechtsextremer Einstellung wird immer dann erfahren, wenn die Ungleichheit in der Gesellschaft … zur Erfahrung der Ungleichwertigkeit wird. Dies gilt insbesondere und beispielhaft auch im sozioökonomischen Bereich: Jede Form von Denunziation von Arbeitslosen als zu faul, als nicht leistungsbereit, oder die periodisch auftretende Ahndung von Transferempfängern als Betrüger schafft ein Klima der Stigmatisierung und Ungleichwertigkeit, das der Nährboden für rechtsextreme Einstellungen ist.«6 Die Ausgrenzung speist sich aus dem Ressentiment gegenüber Menschen in noch verletzbarerer Position, denen die Rolle von »Verursachern« oder doch zumindest von »Verstärkern« der sozialen Probleme zugeschrieben wird.

Die These lautet: Die Große Krise in Europa wirkt als Durch­lauferhitzer für rechtspopulistische Mentalitäten und Parteien. Denn in der europäischen Krise bündeln sich zentrale Topoi:

n        ressentimentgeladene Ausländerpolitik, die von Italien über Frankreich bis Dänemark aktuell durch die politisch-sozialen Umbrüche in der mediterranen arabischen Welt noch aufgeladen wird; mit ihrer Anti-Asylpolitik und der Abschottung der EU nach Süden und Osten hat die offizielle europäische Politik dieses Ressentiment seit weit über einem Jahrzehnt aufgeladen;

n die Verachtung des politischen Systems und der politischen Institutionen, denen eine Lösung der Krise und die Steuerung des gesellschaftlichen Wandels nicht mehr zugetraut wird. »Brüssel« ist längst Stichwort für eine sich selbst genügende, sich selbst bereichernde, intransparente Bürokratie. Indem Europa zu einem demokratisch nicht mehr begründeten »Elitenprojekt« geworden ist, hat die politische Elite selbst den Widerstand von Rechts stark gemacht, und so war absehbar, wann sinkende Beteiligung an Europa-Wahlen in Ablehnung umschlägt;

n Krise in Permanenz, bei der Transferstrukturen – wie schon in den Diskursen der nationalen Sozialstaaten – als parasitäre Verhältnisse (um-)gedeutet werden. Der von den bürgerlichen Parteien in der Krise praktizierte Staatsinterventionismus sichert in erster Linie die Eigentumstitel und Vorherrschaft der Vermögensbesitzer. Dafür können zwar zeitweise politische Mehrheiten gefunden werden, die aber extrem fragil sind. Für eine stabile Hegemoniekonstellation fehlt die sozial-strukturelle (»Erosion der Mitte«) und politisch-programmatische Grundlage.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch in der Bundesrepublik die Option eines reaktionär-populistischen Wegs stärkeren Zulauf aus den mittleren Einkommenslagen erhält. Die Zustimmung zu den Sarrazin-Thesen signalisiert die Sympathien für ressentimentgeladene Ausgrenzungsstrategien und damit eine abwertende, ausgrenzende »rohe Bürgerlichkeit« (Heitmeyer). Die Sonderrolle Deutschlands in Europa könnte auch in dieser Hinsicht bald zu Ende sein.

 

Ein Jahr Rettungsschirm-Politik

In welchem Maße »Europa« als Durchlauferhitzer eines dezidiert anti-europäischen oder auf ein starkes Kerneuropa zielenden Rechtspopulismus dient, hängt maßgeblich vom weiteren Krisenverlauf ab. Diesen gilt es sich deshalb genauer anzuschauen. Denn: Je länger die Krise andauert, umso schwieriger wird es, alternative Pfade eines sozial und demokratisch profilierten Europas zu beschreiten. Längst schwinden die Chancen, Mehrheiten für Europa zusammenzubringen. In vielen Mitgliedsländern wächst das ungute Gefühl, dass Regierungschefs in Brüssel Zusagen machen, die sie selbst nicht verstehen und die auch keinen Beitrag zur Überwindung der Krise leisten. Nicht nur, weil die politischen Statements kaum das Alltagsbewusstsein erreichen. Sondern vor allem, weil sie nicht sehen, wieso Milliarden Euros an Staaten in Not von Vorteil für das eigene Land sein sollen, das selbst unter Schulden und Austeritätspolitik ächzt. Das Dilemma der herrschenden Politik ist doppelt: Erstens die Fortführung eines Integrationsprozesses nach finanzmarktkapitalistischer Logik, der mit der Krise und der Erosion des Neoliberalismus an eine Schranke geraten ist. Zweitens das Unvermögen der ökonomischen und politischen Eliten, als Verursacher der Krise nun Auswege auszuweisen. 

Dieses doppelte Dilemma bündelt sich in der seit einem Jahr erfolglosen Politik, Europa mit Rettungsschirmen aus der Krise herauszuführen, ohne sich aus dem Schlepptau der Finanzmärkte zu befreien.

Im Mai 2010 bekam Griechenland vom IWF, den Euroländern und der EU Hilfskredite, weil der Staat und griechische Banken auf den Finanzmärkten keine neuen Gelder zu vertretbaren Konditionen mehr erhielten. Die Hilfskredite hatten ein Volumen von 110 Mrd. Euro bei einer Laufzeit von 3,5 Jahren und einem Zinssatz von 6%. Überwiesen wurden bis Mai 2011 53 Mrd., also fast die Hälfte.

Als »Gegenleistung« musste sich Griechenland zu einem harten Austeritätskurs verpflichten. Nicht zuletzt dieser führte dazu, dass das Land noch tiefer in die Krise sackte, das BIP 2010 um 4,8% einbrach und die Gesamtverschuldung nach zuletzt korrigierten Daten auf 157,7% – also mehr als das eineinhalbfache der jährlichen Wirtschaftsleistung – anstieg. Um die Fesseln etwas zu lockern, wurde der Zinssatz für Kredite aus dem »Rettungsschirm« um ein Prozent zurückgenommen und die Laufzeit auf 7,5 Jahre verlängert. Aber auch dies hat die Situation von Griechenland am Kapitalmarkt nicht gebessert. In Erwartung einer Umschuldung liegen die Preise für Absicherungen gegen einen hellenischen Kreditausfall auf Rekordniveau.7

In Deutschland (aber vor allem auch in Österreich und in den Niederlanden) sind die Hilfen für die Euro-Krisenländer umstritten. Anfang 2010 zögerte die Bundesregierung lange, ehe sie dem 110-Mrd.-Euro-Rettungspaket für Griechenland und dem 750-Mrd.-Euro-Rettungstopf zustimmte. Motto: Keine Hilfe ohne harte Sparmaßnahmen und wettbewerbsorientierte »Reformen« an den Verteilungssystemen und Arbeitsmärkten.  Deshalb änderte sich die »Rettungsschirm«-Politik auch nicht, als nach Griechenland – wo sie schon nicht mehr funktionierte – Irland 85 Mrd. Euro aus dem Topf der EU, der EZB und des IWF in Anspruch nehmen musste. Das gleiche Verfahren, die gleichen Auflagen!

 

Irlands Banksystem in der Dauerkrise

Auch Irlands Weg aus der Finanz- und Bankenkrise ist nicht von Erfolg gekrönt. Noch im Dezember 2010, als Irland die Vereinbarungen mit dem IWF und der EU unterschrieb, verpflichtete sich die damalige Regierung, weitere 10 Mrd. Euro aus dem nationalen Rentenfonds in die beiden größten überlebenden Banken, Allied Irish Bank (AIB) und Bank of Ireland, einzuschießen. Mittlerweile hat sich der Bedarf mehr als verdoppelt. Der entscheidende Grund: Weder der Wertverfall der Immobilienpreise noch der Hypothekenkredite ist gestoppt. 

Die Bankenlandschaft ist auch nach dem Einschuss von 70 Mrd. Euro an öffentlichen Mitteln nicht saniert. Der Löwenanteil dieser Kapitalspritzen erfolgte 2010, weshalb das Haushaltsdefizit formell auf 32% des BIP anstieg (ohne die Bankenstützung waren es 13,2%). Die irische Tochter der Royal Bank of Scotland, Ulster Bank, riss ihrer Mutter auch im 1. Quartal 2011 wieder große Löcher in die Bilanzen: Verlust allein Anfang 2011: 603 Mio. Euro, gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt. Der Bank für internationalen Zahlenausgleich zufolge beläuft sich das Engagement europäischer Banken in Irland auf mehr als 320 Mrd. Euro – das entspricht ungefähr dem Dreifachen der Summe für Griechenland.8

Die massiven Sparauflagen für den Großteil der Bevölkerung und die bis 2015 geplanten Einsparungen und Mehrausgaben im Staatshaushalt sollen das irische Budgetdefizit auf unter 3% des BIP drücken. Zwischen 2008 und 2014 beträgt der »Korrekturbedarf« rund 30 Mrd. Euro. Das entspricht grob den gesamten Staatseinnahmen des vergangenen Jahres oder einem knappen Fünftel der gegenwärtigen Wirtschaftleistung. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf ist auf den Stand von 1999 abgesackt.

Im Umgang mit der EU verfolgt die irische Regierung derzeit zwei Ziele: zum einen die Senkung des Zinssatzes von über 6%, den die EU derzeit für ihr Darlehen verlangt; zum andern die »Kollektivierung« der irischen Bankschulden, d.h. die Anerkennung, dass die Misere der irischen Banken europäische Mitverantwortliche hat. Gegenwärtig haben die EZB und die irische Zentralbank kurzfristige Forderungen gegenüber dem irischen Bankensystem in Höhe von knapp 170 Mrd. Euro – 87 Mrd. mehr als vor einem Jahr. Die Forderung mehrerer europäischer Länder, dass Irland im Gegenzug für eine Zinssenkung seinen Körperschaftssteuersatz von 12,5% erhöht, ist bislang angesichts der Bedeutung multinationaler Firmen im irischen Exportsektor zurückgewiesen worden. Für die irische Bevölkerung heißt das wiederum, dass für sie die Steuerbelastungen weiter steigen.

 

Das dritte Euro-Protektorat

Im Juni erhält Portugal 78 Mrd. Euro aus dem Krisenfonds. Daran, dass sich Portugal als drittes Land unter den »Rettungsschirm« stellt, sind drei Erwartungen geknüpft:

Erstens soll das Land mit den 78 Mrd. in die Lage versetzt werden, bis 2014 seine Kreditschulden bedienen zu können. Ob der Kreditrahmen reicht, sehen einige Bankenvertreter skeptisch, die das erforderliche Volumen eher auf 100 Mrd. Euro taxieren. Tatsächlich ist zunächst einmal ein politischer Mindestrahmen abgesteckt worden, um nicht noch mehr Widerstand gegen den EU/EZB/IWF-Krisenmechanismus heraufzubeschwören – weshalb man lieber mit »kleineren« Beträgen operiert.

Zweitens gilt es, das Bankensystem in Portugal zu stabilisieren, wofür 12 Mrd. Euro aus dem Rettungsfonds vorgesehen sind. Ironie der Geschichte: Das Paket, das Sócrates mit EU und IWF verhandelte, hilft maßgeblich jenen Banken, die seine Regierung im März kippten, indem sie erklärten, keine Staatsanleihen mehr ankaufen zu wollen. Hintergrund: Portugals Banken können sich seit geraumer Zeit nicht mehr über den Interbankenmarkt finanzieren, nachdem die in ihren Depots liegenden Schuldverschreibungen des Staates von Ratingagenturen mehrfach herabgestuft wurden. Nur via EZB waren sie in der Lage, sich mit entsprechender Liquidität zu versorgen.

Über den dritten Punkt erfährt man am wenigsten, obwohl er der entscheidende ist: wie nämlich die so genannten Strukturprobleme des Landes gelöst werden sollen. Tatsächlich sind die Krisenbedingungen national spezifisch. Während Griechenland durch ein (öffentliches und privates) Verschuldungsproblem und Irland durch Fehlspekulationen der Banken in den Krisenstrudel geraten ist, laboriert Portugal an hartnäckiger Akkumulationsschwäche (durchschnittlich 0,7% BIP-Zuwachs in den vergangenen zehn Jahren) und massiv gestiegener Arbeitslosigkeit (von 3,9 auf offiziell 11,1%) – ein verlorenes Jahrzehnt. Nicht nur der öffentliche Sektor ist überschuldet, auch die privaten Haushalte stehen mit rund 130% ihrer verfügbaren Jahreseinkommen bei den Banken im Minus.

Die OECD bescheinigt Portugal eine stark segmentierte Ökonomie. Nur ein kleiner Sektor stütze sich auf moderne, konkurrenzfähige Produktionsstrukturen. Der Großteil zeichne sich durch geringe Qualifikation und niedrige Produktivität aus. Trotz geringer Löhne hätten Produktionsverlagerungen dazu geführt, dass im Zeitraum von 2003-2006 25% der Arbeitsplätze verloren gingen (bei einem EU-Durchschnitt von 8%). Betroffen waren vor allem die Autobranche, aber auch traditionelle Sektoren wie die Textil- und Schuhindustrie.

Hier liegt der Hase im Pfeffer. Wie im »Fall« Griechenland verheißt das Krisenpaket für Portugal keine ökonomische Gesundung, sondern verlängerte Rezession. Die Prognose: Um jeweils 2% wird das BIP in den Jahren 2011 und 2012 schrumpfen – und das wiederum dürfte optimistisch geschätzt sein.

Die Vorgaben für den Staatshaushalt lauten: Bereits im laufenden Jahr soll die Neuverschuldung von 9,1% auf 5,9% sinken, danach auf 4,5% und 2013 schließlich auf den Maastricht-Wert von 3%. Dass Sócrates dies als »Verhandlungserfolg« verkündet, ist im portugiesischen Wahlkampf verständlich. Tatsächlich geht es um harte Privatisierungspolitik. Bis 2013 sollen 5,3 Mrd. Euro durch die Verscherbelung öffentlichen Eigentums in die Kassen kommen – statt dieses Eigentum zu nutzen, um mit Neuinvestitionen einen Beitrag zur Lösung der Strukturprobleme des Landes zu leisten. Es spricht einiges dafür, große Infrastrukturprojekte wie den Ausbau der Flughäfen und Hochgeschwindigkeitstrassen der Bahn zunächst zu stoppen. Doch diese Gelder wären für die Erneuerung öffentlicher Unternehmen essenziell – statt sie zu streichen.

Und es geht um harte Sparpolitik. Wobei Sócrates durchaus Recht hat, wenn er die EU/EZB/IWF-Auflagen als »Vertiefung« seiner bisherigen drei »Sparpakete« verkauft. Deren Bestandteil war bereits eine 20prozentige Kürzung der monatlichen Arbeitslosenunterstützung, die zudem künftig nur noch 18 statt 36 Monate ausgezahlt wird. Zudem beinhalten die­se bereits eine Senkung der Gehälter im öffentlichen Dienst um 5%, nebst Schließung etlicher Behörden und gleichzeitiger Anhebung der Mehrwertsteuer auf 25%. Diese Gehälter in kurzer Zeit nicht erneut zu kappen und Pensionen unter 600 Euro von nominellen Kürzungen ausnehmen zu wollen (real sinken sie ohnehin), ist sicherlich wahlkampfpolitisches Gebot. Das Mindesteinkommen liegt in Portugal bei 475 Euro. Und dieser Betrag soll laut »Hilfs«-Abkommen in den nächsten Jahren trotz allgemein steigender Preise nicht erhöht werden.

  

Erneute Zuspitzung der Finanzkrise

Die Finanzmarkt-Akteure haben die »Krisen-Staaten« fest im Griff – trotz massiver Kürzungs- und Umverteilungspolitik. Griechenland und Irland sind faktisch bankrott. Portugal hat noch eine kleine Chance, allerdings wird die Ökonomie auch dort durch das Spardiktat in einen Schrumpfungsprozess gedrückt. Ohne Umschuldung werden die Länder der Zinsgarotte nicht entgehen. Für die Europäische Zentralbank und das europäische Banksystem stellt diese Option allerdings eine massive Bedrohung dar.

Warum haben die EU-Finanzexperten und die in Sachen Hilfskredite erfahrenen Manager des IWF die Lage so gründlich verkehrt eingeschätzt? Die Antwort lautet: Dass große Teile der kapitalistischen Weltwirtschaft und mit ihr eben auch die Europäische Union eine Systemkrise erleben, ist von den ökonomischen und politischen Eliten immer wieder negiert worden. Stattdessen wurde die Krise ein ums andere Mal für beendet erklärt – um kurz darauf den nächsten Krisengipfel einzuberufen. Tatsächlich wird die Krise seit 2007 immer nur weitergereicht: von den Finanzmarktakteuren an die Staaten und von denen an die BürgerInnen. Verbunden ist damit kein Krisenlösungs-, sondern ein Transfermechanismus. An die Banken gleich in doppelter Hinsicht: zum einen durch Übernahme von Schulden aus Geschäften, mit denen zuvor erhebliche Gewinne gemacht wurden; zum andern dadurch, dass die Staaten nun für teure Kredite bei den soeben geretteten Finanzmärkten anstehen.

Wer meint, das sei sinnlos, irrt. Politisch, weil sich die Regierungen im Schlepptau der Finanzmärkte befinden; technisch, weil dieser Transfermechanismus durchaus gewollt ist. Die Idee war folgende: Bis 2013 sollten sich die Banken in Europa in einem Ausmaß gesund verdient haben, dass sie in der Lage sind, Umschuldungsmaßnahmen insolventer Staaten zu verkraften.9 Denn was mit dem heutigen EU-Rettungsschirm nicht möglich ist, wird Bestandteil des Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) ab Mitte 2013 sein: Umschuldungsmaßnahmen, an denen sich nicht nur die staatlichen, sondern auch die privaten Gläubiger beteiligen.

Doch Umschuldungsmechanismen ab 2013 nutzen heute niemandem. Deshalb grassieren Debatten über einen möglichen Ausstieg Griechenlands aus dem Euro-Club. Doch dieser Schritt würde nach entsprechender Abwertung einer neuen Währung die in Euro zu zahlenden Schulden mindestens verdoppeln. Da dies ein noch sicherer Weg in die Staatspleite und in massenhafte private Insolvenz wäre, ginge auch dies nur mit einem parallelen Umschuldungsprozess. Womit wir wieder beim Ausgangspunkt wären.

Drei Tatsachen:

n Der Plan, wonach Griechenland wie verabredet ab kommendem Jahr wieder in der Lage sein würde, sich auf den Kapitalmärkten mit frischem Geld einzudecken – ca. 27 Mrd. Euro –, ist Makulatur. Hinfällig ist damit aber auch der Plan, dass der 110-Mrd.-Euro Überbrückungskredit bis 2013 reicht. In den zurückliegenden Monaten war die EZB als Käuferin griechischer Staatsanleihen aktiv, sie ist aus diesem Geschäft zuletzt aber ausgestiegen. Der ESM darf diese Rolle erst ab Mitte 2013 übernehmen.

n Die Vorstellung, ein Land könnte sich aus der Krise »heraussparen«,10 ist heute so absurd wie zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Nach dem Einbruch des BIP um 4,8% im Jahr 2010 werden sich die bisherigen Schätzungen für das laufende Jahr mit minus 3,3-3,5% als zu optimistisch erweisen, ebenso wie die Stagnationsprognose für 2012. Damit dürfte die Gesamtverschuldung auch über den zuletzt korrigierten Ansatz von 166,1% im Jahr 2012 hinaus steigen – trotz und wegen aller Sparanstrengungen. Vor gut einem Jahr, bei der Konstruktion des »Rettungspakets«, galten 145% als höchstzulässige Marge.

n Damit steckt der europäische Krisenmechanismus in einer selbst gestrickten Falle: Aufgrund der steigenden Verschuldung dürfte die nächste Tranche des »Rettungspakets« eigentlich nicht ausgezahlt werden. Denn dann wäre klar, dass Griechenland im Grunde kein »Liquiditätsproblem« hat, das vorübergehend mit Krediten zwischenzufinanzieren wäre, sondern ein so genanntes Strukturproblem. Das Instrument dafür hieße dann Umschuldung.

Athen soll mit zusätzlichen Privatisierungen in Höhe von 50 Mrd. Euro bis 201511 und Steuererhöhungen sowie der Bekämpfung von Steuerhinterziehung mehr Geld aufbringen. Selbst die Verpfändung des öffentlichen Grund und Boden wird erörtert. Demokratische Souveränität spielt dabei längst keine Rolle mehr: So wie der Vorsitzende der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, eine Privatisierung nach dem Vorbild der deutschen Treuhand ins Spiel brachte, erklärte Schwedens Finanzminister Anders Borg: »Die EU wird das Privatisierungsprogramm künftig so eng begleiten, als würden wir es selbst durchführen.«12 Dabei führt nichts daran vorbei: Ohne eine Stärkung der Realwirtschaft ist der monetäre Krisenprozess nicht zu stoppen. Doch die Sozial-, Personal- und Lohnkürzungsprogramme lassen die Nachfrage und damit die Steuereinnahmen einbrechen – gerade weil die griechische Regierung der Deflationspolitik von EU/EZB/IWF nachkommt.

Auf den Finanzmärkten wird daher auf eine Umschuldung Griechenlands spekuliert – das zeigen die Zinsentwicklung und die Höhe der Kreditausfallversicherungen. Offen ist der Zeitpunkt. Gegenwärtig würde ein so genannter Haircut, also die Streichung eines Teils der Schulden, für einige Banken, Versicherungen und Pensionsfonds schwer zu verkraften sein.13 Betroffen wären aber vor allem griechische Gläubiger – längst ist von der Gefahr einer »Implosion« des dortigen Finanzsektors die Rede.14 Mehr noch: Auch die Rentenkassen haben sich mit Staatsanleihen eingedeckt. Daher die politische Lähmung.

Deshalb wird gegenwärtig an einer »konzertierten Umschuldungsaktion« gebastelt, die große liquide private Banken einbezieht, die im Zweifelsfall für angeschlagene Banken bereit stehen. Was dabei in Kauf genommen wird, ist die weitere Verstärkung des Konzentrationsprozesses im Bankensektor – und damit jene systemischen Risiken (»too big to fail«), mit denen die Banken die Regierungen zur Schuldenübernahme erpressen.

Die Präferenzen bei diesem konzertierten Vorgehen lägen bei einer »sanften Umschuldung«, bei der die Rückzahlungsfristen für die Kredite verlängert und die Sollzinsen gesenkt werden (Bofinger: »Strafzinsen sind kontraproduktiv, weil sie die Krise des Landes nur verstärken«). Statt einer Rückzahlung des EU/IWF-Kredits im Falle Griechenlands in 7,5 Jahren käme ein Zeitraum von 15 Jahren in Betracht. Das würde es der griechischen Regierung ermöglichen, den Druck der Deflationspolitik zu lockern. Mehr aber auch nicht, wenn die Regierung Papandreou dabei bleibt, die öffentlichen Investitionen als Sparkontingent zu sehen.15

Wenn keine neuen Mittel für Investitionen und damit zu einer – möglichst wirtschaftsdemokratischen – Erneuerung des Reproduktionsprozesses zur Verfügung stehen, wird Griechenland auch in einem längeren Zeitkorridor nicht in der Lage sein, seine Schulden zu bedienen. Die Verhandlungen von EU, EZB und IWF mit Portugal haben nicht zu erkennen gegeben, dass ein solcher Pfad des (qualitativen) Herauswachsens aus der Krise tatsächlich angegangen wird. Wenn nicht, landet man aber voraussichtlich irgendwann beim rabiaten »Haircut« – wobei die Regierungen nicht Akteur, sondern von den Finanzmärkten vor sich her getrieben werden.

Ob »sanft« oder »Haircut«: Entscheidend ist nicht das technische, sondern das politische Problem. Welcher Weg auch immer eingeschlagen wird, er kostet Geld. Auch der, an der Kreuzung einfach stehen zu bleiben und abzuwarten: Das wäre die Entscheidung, den 110 Mrd.-Euro-Topf aufzustocken und zu hoffen, bis 2013 durchzuhalten. Doch diese Gelder werden politisch immer mehr blockiert: in Finnland, in den Niederlanden16 und in Frankreich, je näher die französischen Präsidentschaftswahlen heranrücken, in denen der Front National die politische Agenda prägt. Wenn der Luxemburger Jean-Claude Juncker erklärt: »Wir glauben, dass Griechenland ein weiteres Anpassungsprogramm braucht«, spricht er zwar eine Wahrheit aus, die jedoch auch die amtierende deutsche Regierung in ihren eigenen Fraktionen nur noch schwer zur parlamentarischen Mehrheitsfähigkeit bringt.

Systemkrisen können sehr teuer sein und kehren wieder – wenn sie nicht gelöst werden. Mittlerweile werden durch das Verschieben der Probleme die Fundamente der europäischen Konstruktion und der demokratischen Willensbildung unterminiert.

 

Was tun?

Eine unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen operationale Konzeption zielt darauf, für den Schuldenumbau eine sanfte Form des Schuldenmanagements mit Hauptgläubigern – der EZB17 sowie deutschen und französischen Banken, die rund 50% aller ausstehenden Anleihen Griechenlands halten sollen – zu arrangieren. Ziel ist, das Fälligwerden von Kreditausfallversicherungen zu umgehen. Eine solche Umschuldung müsste bis Jahresende in trockenen Tüchern sein, liefert aber selbst nur wiederum zusätzliche Zeit und stellt keine definitive Lösung dar. Immerhin, noch lässt die ökonomische Entwicklung Verhandlungen über weiteren Zeitgewinn zu – aber bereits im kommenden Jahr gehen die Konjunkturprognosen wieder nach unten, wenn auch noch im positiven Bereich. Und noch besteht im konjunkturellen Aufschwung die Bereitschaft, unter den EU-Staaten die Haushalts-, Wirtschafts- und Steuerpolitik abzustimmen. Dass dabei in erster Linie wettbewerbspolitische Maßnahmen gefordert werden, zeigt allerdings den schmalen Grat, auf dem sich systemimmanent die Politik bewegt.

Die EU ist das Ergebnis des politischen Willens, scheinbar unversöhnliche Gegensätze zu überwinden. Das bedeutete zu Beginn die Versöhnung von Völkern, die sich über Jahrhunderte immer wieder als Erzfeinde verstanden hatten. Dieses historische Erbe wird seit längerem von den neoliberalen Eliten zersetzt. Dieses Erbe gleichsam auf der Schlussgeraden noch zu sichern – darauf richtet sich u.a. der politische Appell von Stéphane Hessel: »Man wagt uns zu sagen, der Staat könne die Kosten der sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen. Aber wie kann heute das Geld dafür fehlen, da doch der Wohlstand so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung, als Europa in Trümmern lag? Doch nur deshalb, weil die Macht des Geldes niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates. In vielen Schaltstellen der Geldinstitute sitzen Bonibanker und Gewinnmaximierer, die sich keinen Deut ums Gemeinwohl scheren. Noch nie war der Abstand zwischen den Ärmsten und den Reichsten so groß. Noch nie war der Kampf um das goldene Kalb – Geld, Konkurrenz – so entfesselt.«18

Es scheint ein Kampf auf offener Feldschlacht zu toben. In etlichen europäischen Kernländern ruft die Boulevardpresse mittlerweile zur Zerstörung auf: »Warum sollen wir für die Fehler der anderen zahlen?« Ungarn, die Niederlande, Belgien und Schweden stehen exemplarisch für aktuelle Tendenzen im politischen Feld der europäischen Länder. Vor dem Hintergrund der durch die Große Krise massiv verstärkten ökonomisch-sozialen Verwerfungen und konzeptionslosen sozialdemokratischen und bürgerlichen Parteien reüssieren rechtspopulistische Bewegungen mit charismatischen Führern, die den verunsicherten kleinbürgerlichen Schichten Erlösungsstrategien versprechen, die im Kern auf ein Aufräumen im politischen Feld und eine rassistisch unterfütterte soziale Ausgrenzungspolitik hinauslaufen. Vorurteilsstrukturen und Ohnmachtsgefühle entwickeln sich im Kontext von gesellschaftlichen Krisenprozessen, die in ihren Ursachen unbegriffen bleiben.

Gewiss scheint jedoch, dass von einer Überwindung der Finanzkrise und einem Übergang zu einer stabileren Entwicklungsphase keine Rede sein kann. Und dass die europäischen Institutionen und die nationalen Regierungen nicht die politische Kraft zu einem unkonventionellen Ausweg (z.B. Europäisches Schuldenmoratorium, New Deal für Europa) haben. So wird die Hilflosigkeit immer eklatanter und schlägt sich in einer massiven Steigerung des Ansehensverlustes der Politik nieder. Alle spielen auf Zeitgewinn – Griechenland, Irland, Portugal und demnächst vielleicht auch Spanien werden in einer aussichtslosen Situation festgehalten.

Im Zentrum linker Gegenstrategien sollte die Aufklärung über die gesellschaftlichen Ursachen dieser Fehlentwicklungen stehen – mit der Verteilungsfrage im Zentrum. Es kann deutlich gemacht werden, dass es zum ausgrenzenden Rechtspopulismus sehr wohl gesellschaftliche Alternativen gibt. Dazu bedarf es eines radikalen Politikwechsels. Über eine Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft kann sozialer Wandel gestaltet und soziale Sicherheit hergestellt werden und dem sozialen und ethnischen Ausgrenzungsdiskurs der Garaus gemacht werden. Die Aufklärung darüber allerdings muss gleichfalls populär sein, ohne in falsche Vereinfachungen zu verfallen. Die politische Linke hat dies bisher nicht vermocht. In vielen Ländern ist sie zerstritten und ihr Einfluss marginal.

Die gegenwärtige Verfassung Europas gibt reichlich Anlass für Sorgen, ob die Globalökonomie in absehbarer Zeit aus der Krise herausfindet. Der us-amerikanische Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman ist zu Recht »besorgt um Europa. Ich mache mir zwar um die Welt insgesamt Sorgen – es gibt keine sicheren Häfen vor dem globalen Wirtschaftssturm. Aber die Situation in Europa ängstigt mich noch mehr als die in den USA.«19 Ohne Zweifel: Europa hat eine erbärmliche politische Führung, die den Integrationsprozess auf falschen Fundamenten aufgebaut hat. Ohne eine gemeinsame, und d.h. mindestens unter den Mitgliedern der Euro-Gruppe abgestimmte und koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik droht dem Euro und der EU eine so noch nicht da gewesene Gefahr für ihren Zusammenhalt, ja für ihre Existenz. Erforderlich sind eine Reproportionierung des Finanzsektors, eine kohärente Politik zur Sicherung der Realökonomie sowie eine Erneuerung des Europäischen Sozialmodells.

Ein Kurswechsel in Richtung Stärkung des europäischen Binnenmarktes unterstellt die Veränderung der überlieferten Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Lohnarbeit. Durch die Lissabon-Strategie hat die Europäische Union den Entwicklungspfad des rheinischen Sozialstaatskapitalismus verlassen und sich der Konzeption des angelsächsischen Aktionärs- oder Vermögenskapitalismus angeschlossen. Die Finanzkrise und die Abwärtsspirale der Ökonomie haben den Bankrott dieser europäischen Strategie offenkundig werden lassen. Es gilt die Demokratisierung ausgehend vom Unternehmen auch auf die Verteilung und die Kontrolle der Finanzmärkte zu erstrecken. Die kapitalistische Gesellschaft muss einer umfassenden demokratischen Kontrolle unterworfen werden.

 Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Richard Detje ist Redakteur von Sozialismus.

 1 Siehe Jürgen Habermas: Merkels von Demoskopie geleiteter Opportunismus, in: Süddeutsche Zeitung vom 7.4.2011.

2 Als Mahner aus dem konservativen Lager lässt sich Hans-Gert Pöttering, ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments und Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung zitieren: »Wenn man beginnt, die grundlegenden Gemeinsamkeiten in Europa zu zerstören, dann ist alles in Gefahr, was wir bisher auf dem Weg der europäischen Einigung erreicht haben.« Mit Blick auf Dänemark: »Ich warne davor, diesen Weg zu gehen… Wir müssen die Außengrenzen der EU sichern, nicht die Ländergrenzen.« In Bezug auf die Euro-Krise erinnert Pöttering daran, dass es ausgerechnet Deutschland und Frankreich waren, die 2003 als erste die Maastricht-Kriterien nicht erreicht haben. »Wir alle haben also Anlass, zunächst einmal auf unsere eigenen Länder zu schauen«, statt auf die »nationale Pauke zu hauen«.

3 Freitag Nr. 19 vom 12.5.2011, S. 6f.

4 Siehe hierzu J. Bischoff u.a.: Die Große Krise. Finanzmarktcrash – verfestigte Unterklasse – Alltagsbewusstsein – Solidarische Ökonomie, insbesondere Kapitel 3, Hamburg 2010.

5 Siehe u.a. Wilhelm Heitmeyer: Deutsche Zustände. Folge 9, Berlin 2010. Aktuell auch: Florian Hartleb: Nach ihrer Etablierung – Rechtspopulistische Parteien in Europa. Konrad Adenauer Stiftung, Mai 2011. www.kas.de.

6 Oliver Decker/Elmar Brähler: Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, Herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung 2006, S. 168.

7 Mitte Mai lag die Rendite zehnjähriger Staatsanleihen bei 15%. Bei zweijährigen Papieren waren es unglaubliche 25%.

8 Handelsblatt vom 11.5.2011, S. 8.

9 Der Prozess des Rückzugs der Banken von Engagements in Griechenland ist im Gange. So verringerten deutsche Banken ihre Kredite an Griechenland im 4. Quartal 2010 von 29,5 auf 25,4 Mrd. Euro. Stärker engagiert sind französische Banken: BNP mit rund 5 Mrd., Société Générale mit 2,5 Mrd. Euro – verglichen mit dem Engagement der Deutschen Bank in Höhe von 1,6 Mrd.

10 Von 2012 bis 2015 soll die Regierung Papandreou 23 Mrd. Euro »einsparen« – das entspricht zehn Prozent der Wirtschaftsleistung.

11 Am 23. Mai hat die Regierung Papandreou beschlossen, sich von der Mehrheit an sechs großen Staatsbetrieben zu trennen: dem Stromkonzern DEH, dem Telecomunternehmen OTE, der Postbank, den Wasserwerken von Athen und Piräus sowie den Häfen von Piräus und Tessaloniki.

12 FAZ vom 23.5.2011, S. 11.

13 In Deutschland wäre die Commerzbank am stärksten betroffen, die mit ihrer Tochter Eurohypo griechische Staatsanleihen in einer Größenordnung von 2,9 Mrd. Euro hält. Sehr viel höher war das Engagement der – verstaatlichten – Hypo Real Estate und der WestLB; diese haben ihre Griechenland-»Risiken« aber in ihre jeweilige »bad bank« verschoben, wofür der Steuerzahler grade stehen muss (Handelsblatt vom 11.5.2011, S. 8).

14 Die Verschuldung Griechenlands beläuft sich auf ca. 326 Mrd. Euro. Davon halten griechische Banken 80 Mrd. und andere Banken aus der Euro-Zone 65 Mrd. (dt. Banken 26,3 Mrd.). EZB und IWF stehen jeweils für 50 Mrd. Euro.

15 Barry Eichengreen (University of California) hält dies für unzureichend: »Der Schuldenberg wäre immer noch zu groß, als dass Griechenland ihn bewältigen könnte. Nach einer Restrukturierung wird eine zweite folgen, ein Haircut. Die Politiker wollen unbedingt eine freiwillige Umschuldung. Doch die Investoren haben keinen Grund, dieses Angebot anzunehmen. Sie wissen, dass es sowieso ein zweites Angebot geben wird.« (Handelsblatt vom 16.5.2011, S. 26)

16 Es ist mittlerweile populistisch unterfütterte Ignoranz, wenn der niederländische Notenbankchef als Begründung für die Ablehnung einer Umschuldung erklärt: »Diese Länder haben in der Vergangenheit das Falsche getan. Sie schulden es sich selbst, jetzt auch ihre eigenen Probleme zu lösen.« (FTD, 19.4.2011) Diesen »moral hazard« vergisst er spätestens, wenn Banken eine Schuldenübernahme bei »systemischen Risiken« fordern.

17 Die EZB gehört freilich mit zu den härtesten Opponenten einer Umschuldung. Sie wäre selbst stark betroffen. Nach Schätzungen der Investmentbank J.P. Morgan hält sie »zwischen 140 und 150 Mrd. Euro als Sicherheiten für Kredite an griechische Banken. Diese Sicherheiten sind entweder griechische Staatsanleihen oder – in weitaus größerem Umfang – vom griechischen Staat garantierte Bankanleihen«. (FTD vom 10.5.2011)

18 Stéphane Hessel: Empört euch, Berlin 2011.

19 Paul Krugman: A Continent Adrift, New York Times, 16.3.2009.