Ägypten: »Wir leben in einer Militärdiktatur«

Die Protestbewegung in Ägypten hat mit vielen Rückschlägen zu kämpfen

Eigentlich sieht der Tahrir-Platz am 27. Mai aus wie immer, wenn in den letzten Monaten freitags zu großen Demonstrationen gerufen wurde: Da sind die Barrikaden aus Litfasssäulen, Stacheldraht und Absperrgittern, an denen junge Männer und Frauen jeden, der auf den Platz will, freundlich kontrollieren. Da sind die Bühnen mit ihren scheppernden Boxen, die alle zugleich den Platz mit Musik oder Reden beschallen. Und die fliegenden Händler, die zwischen den Protestierenden stehen, Kaffee auf Gaskochern zubereiten, Maiskolben braten oder süßen Couscous ausgeben.

Inhaltlich jedoch markiert die Demonstration vom 27. Mai, zu der die Protestbewegungen, Jugendbündnisse und rund zwanzig Parteien aufgerufen haben, einen doppelten Bruch. Zum einen zwischen der Bewegung und dem Militär: Zum ersten Mal mobilisierte die Bewegung offen und mit scharfer Kritik gegen den herrschenden Militärrat (SCAF). Zum anderen zwischen der Protestbewegung und den religiösen Gruppen, insbesondere der Muslimbruderschaft. Denn diese ist bei der Demonstration zum ersten Mal seit dem Rücktritt Mubaraks nicht dabei. Sie hat im Vorfeld sogar aggressiv gegen diejenigen agitiert, die dazu aufgerufen haben. Die Protestierenden würden »das Land ruinieren«, seien »gegen die Revolution« und wollten einen »Keil zwischen Armee und Volk treiben«. Einige Salafiten-Gruppen schlossen sich an und ließen verlauten, alle, die an diesem Tag auf dem Tahrir-Platz erscheinen würden, seien »ungläubig«.

Auf Distanz zu Muslimbrüdern

Mit dem 27. Mai zerbricht ein Zweckbündnis, das sich in den ersten Tagen des Aufstandes Ende Januar ergeben und trotz inhaltlich äußerst großer Differenzen erstaunlich lange gehalten hat. Die Muslimbrüder, die unter Mubarak größte und am heftigsten verfolgte Oppositionsgruppe, hatten sich erst nach einigen Tagen dem Aufstand angeschlossen. Nicht gerade zur Freude der bis dahin Protestierenden, die deren Teilnahme nur unter der Abmachung akzeptierten, dass religiöse Forderungen außen vor blieben. Während der heftigen Angriffe von Sicherheitskräften und bezahlten Schlägern des Mubarak-Regimes kam den Muslimbrüdern jedoch eine entscheidende Rolle zu: Anders als die jugendlichen Protestierenden hatten sie Erfahrung mit Repression – und waren aus religiösen wie persönlichen Gründen bereit, für den Erfolg der Revolution alles zu riskieren.

»Die haben gesagt: Wir gehen in die erste Reihe. Wir haben nichts zu verlieren. Ihr müsst nicht mit nach vorn kommen. Aber bleibt hier, auf dem Platz. Das hat allen anderen wieder Mut gemacht und wir sind geblieben«, erzählt der Aktivist Ahmed über den 2. Februar, den Tag der heftigsten Angriffe auf den Platz. »Wir mögen die Muslimbrüder nicht. Aber sie haben uns die Revolution gerettet.« Ähnliches ist von vielen AktivistInnen zu hören. Der Kampf Seite an Seite für dieselbe Sache, das enge Zusammenleben auf dem Platz hatte die inhaltlichen Differenzen beiseite gewischt. Dies ist nun vorbei, da die Muslimbruderschaft sich von einer unterdrückten Organisation zu einer wichtigen und finanzstarken politischen Kraft entwickelt hat. Sie hat beste Chancen, bei den Parlamentswahlen im September einen Großteil der Sitze zu gewinnen. Zum herrschenden Militärrat pflegt sie mittlerweile beste Kontakte: Während Tausende Protestierende seit dem Rücktritt Mubaraks von Militärtribunalen verurteilt und teils gefoltert wurden, war von den Muslimbrüdern niemand betroffen. Seit Mitte Mai Schlägertruppen ein hauptsächlich von Kopten getragenes Protestcamp in Maspiro bei Kairo angriffen, ohne dass Polizei oder Militär eingriffen, mehren sich die Stimmen, es gebe einen Deal zwischen Muslimbrüdern und dem Militärrat. Ein Journalist des unabhängigen Senders OnTV, der eben dies behauptete, wurde zum Verhör vors Militärgericht zitiert. Einzige Gefahr für die Muslimbrüder ist die interne Spaltung: So sorgte die Ankündigung ihrer Jugendorganisation für Aufregung, gegen den Willen der Oberen an der Demonstration vom 27. Mai teilzunehmen – ein weiterer Schlag für die stark zersplitterte Organisation, der Folgen haben kann.

Zahlenmäßig machte sich das Fehlen der religiösen Massenorganisation am 27. Mai bemerkbar: Mit 50.000 bis 100.000 Menschen sind es bei weitem nicht mehr so viele wie Anfang April, als bei der letzten Großdemonstration noch einmal rund eine Million auf die Straße gingen. Dennoch sind die meisten erleichtert, den unliebsamen Bündnispartner endlich los zu sein: »Endlich keine religiösen Reden von den Bühnen mehr!« Und die Stimmung unter den zumeist jungen TeilnehmerInnen sei viel entspannter ohne die Muslimbrüder, ohne schräge Blicke, wenn eine Aktivistin ein kurzes T-Shirt oder die Haare offen trägt.

Der Aktivist Hassan schaut mit glänzenden Augen über den Platz: »Die Leute, die heute hier sind, sind wirklich der Kern der Revolution.« Die »zweite Revolution« und den »zweiten Freitag der Wut« haben manche die Demonstration am 27. Mai genannt, andere haben widersprochen: »Die erste Revolution ist doch noch gar nicht vorbei!« Unter den jungen ÄgypterInnen, die die Revolution zu Vollzeit-AktivistInnen gemacht hat, herrscht seit drei Monaten das Gefühl vor, mit aller Kraft kämpfen zu müssen, wollen sie die Errungenschaften der Revolution nicht wieder verlieren.

Das breite Bündnis quer durch alle Schichten und Bevölkerungsteile ist zerbrochen. Nicht nur die Muslimbrüder und andere religiöse Gruppen gehen ihre eigenen Wege, richten sich im neuen System ein und bereiten sich auf die Wahlen vor. Auch der große Teil der Bevölkerung, der mehr oder weniger schweigend hinter der Revolution stand, fordert zwar weiterhin die Bestrafung des verhassten Ex-Präsidenten Mubarak, steht Forderungen nach weiteren Reformen aber inzwischen ablehnend bis feindselig gegenüber. Dazu trägt das nach wie vor positive Bild des Militärs ebenso bei wie die intensive Kampagne der Presse, die über die wirtschaftliche Krise klagt, in die das Land durch die Revolution geschlittert sei. »Geschieht euch recht!« zitiert eine Aktivistin die Reaktion ihrer Eltern, als sie geschockt von der Repression berichtete. »Ihr zerstört das Land mit euren andauernden Protesten! Das Militär muss hart gegen euch vorgehen, wenn es das Land schützen will!«

Tot schweigen und schießen

Dass die Flitterwochen zwischen Revolutionsbewegung und dem Militär nicht lange andauern würden, war spätestens klar, als das Militär am 9. März das Protestcamp auf dem Tahrir-Platz räumte und über 200 AktivistInnen festnahm und folterte (siehe iz3w 324). Der öffentliche Aufschrei blieb aus, doch die Hoffnung in der Bewegung war groß, dass der Militärrat sich angesichts erneuter Massendemonstrationen Anfang April gezwungen fühlen würde, der Bewegung wieder stärker entgegen zu kommen, und die Repression nachlasse.

Das Gegenteil war der Fall: Als nach der großen Demonstration am 8. April mehrere tausend Menschen versuchten, den Platz erneut zu besetzen, eröffnete das Militär das Feuer. »Ich rannte um mein Leben, bis ich dachte, meine Lungen zerreißen«, erzählt die Aktivistin Fatima. »Und immer die Schüsse, ununterbrochen, bam-bam-bam, ich habe Leute neben mir zusammensinken sehen...« Zahlreiche Menschen wurden verletzt, mindestens acht kamen nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen um. Besonders hart traf es die rund 40 Soldaten, die sich öffentlich und trotz des Verbotes der Armee den Protesten angeschlossen hatten.

Die Armee weiß, dass die jungen Wehrpflichtigen mehrheitlich mit der Bewegung sympathisieren und versuchte, dies ein für alle mal auszumerzen: Mindestens ein Soldat wurde Augenzeugenberichten zufolge noch auf dem Platz erschossen, vermutlich mehrere wurden totgeprügelt. Für die Bewegung war das nach dem 9. März der zweite große Schock. »Dass die Soldaten, denen wir vertraut haben, auf uns schießen, habe ich bis heute nicht verkraftet«, sagt Fatima. Schließlich war das ägyptische Militär in und außerhalb Ägyptens gerade dafür gefeiert worden, dass es sich geweigert hatte, auf die eigene Bevölkerung zu schießen. Am 15. Mai, als mehrere hundert Menschen anlässlich des Nakba-Tages vor der israelischen Botschaft protestierten, schossen Militär und Polizei erneut in die Menge – dieses Mal gemeinsam.

Vor allem der 9. März wurde in den ägyptischen, aber auch internationalen Medien, nahezu totgeschwiegen. Schon zwei Wochen zuvor hatte das Militär erlassen, die Medien dürften nur noch nach vorausgehender Genehmigung über die Armee berichten. Die meisten Zeitungen und Fernsehsender haben sich ohne Murren der Zensur gefügt. Die sehr aktive Blogger-Gemeinde nimmt nun wieder eine ähnliche Rolle ein wie vor der Revolution: Das Internet ist zwischen den Demonstrationen der Bewegung der einzige Ort, wo der herrschende Militärrat offen und scharf kritisiert wird, etwa beim No-SCAF-Tag am 23. Mai, an dem fast 400 Aktive gegen das Militär und seine Politik bloggten, twitterten und schrieben. Nicht ohne Folgen: Ende Mai wurde der bekannte Blogger und Aktivist Hossam Arabawy wegen Kritik am Militär von einem Militärgericht verhört. »Wir leben in einer Militärdiktatur«, schrieb dazu eine Bloggerin.

Den meisten AktivistInnen ist inzwischen klar, dass das Militär unter der weiterhin geltenden Notstandgesetzgebung und einigen gegen Streiks und Proteste gerichteten Gesetzen sogar ganz legal machen kann, was es will. In Schach gehalten wird es einzig durch die noch immer hochpolitisierte Öffentlichkeit, die seit der Revolution explodierenden Streiks und Gründungen unabhängiger Gewerkschaften sowie die sehr aktive Szene junger Protestierender. Eine Vernetzung zwischen der Protestbewegung und den Arbeiterkämpfen, die größtenteils lokal stattfinden, vom Militär hart unterdrückt und von der Presse totgeschwiegen werden, existiert derzeit jedoch höchstens ansatzweise.

Wer seine Stimme abgibt ...

Für die Zukunft des Landes entscheidend sein dürften die im September anstehenden Wahlen. Die Protestbewegung fordert gemeinsam mit vielen kleinen Parteien eine Verschiebung der Wahlen, damit zuvor eine neue Verfassung ausgearbeitet werden kann. Das Militär hingegen, scheint es, möchte die Macht zumindest formell möglichst bald wieder an eine Regierung abgeben, um unangenehme und kritikträchtige politische Aufgaben los zu sein.

Von frühen Wahlen würden vor allem die Muslimbrüder und die alte Staatspartei NDP, die vermutlich unter einem neuen Namen antreten darf, profitieren. Eben deren Vertreter dürften dann nach dem derzeitigen Plan die neue Verfassung ausarbeiten. Ein Horror-Szenario für die jungen Protestierenden, die sich angesichts dieser Entwicklungen und der Repression zunehmend radikalisieren. »Wir werden wieder auf dem Platz sitzen«, ist sich Ahmed sicher. »Anders geht es nicht. Wir werden sehen wann.«

Juliane Schumacher lebt als freie Journalistin in Berlin und Kairo, gehört der Redaktion des Ägypten-Newsletters Tahrir an und schreibt auf dem Blog www.egyptianspring.blogsport.de