Klassenkampf von oben

Sloterdijk, Sarrazin und die Verteilung der Kosten der Finanzkrise

in (26.08.2011)

Die SPD hat das Ausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin eingestellt. Die Parteispitze hoffte wohl, das Thema damit noch vor dem Senatswahlkampf in Berlin endgültig aus der öffentlichen Diskussion heraus zu bekommen. Das dürfte, wie die ersten Reaktionen innerhalb wie außerhalb der Partei zeigen, ein Irrtum sein. Zwar hat sich das Mediengetöse um Sarrazins Buch in den letzten Monaten gelegt, die Brisanz seiner Aus-sagen hat dadurch aber nicht abgenommen. Auch das Vorgehen der SPD-Führung demonstriert das deutlich. Sie hat das Ausschlussverfahren ja nur aus einem wesentlichen Grund eingestellt: sie hatte Angst, dadurch Wähler zu verprellen; denn auch in den Reihen der SPD-Wähler gibt es nicht wenige, die Sarrazin in seinem Grundtenor zumindest teilweise zustimmen.


Das Bürgertum und die »Sozialschmarotzer«


Dieser Grundtenor bezieht sich nicht nur auf Muslime, sondern ebenso auch auf alle die, die nach Ansicht von Sarrazin den deutschen Sozialstaat ausnutzen. Eine derart abwertende Haltung vor allem gegenüber Arbeitslosen war in den letzten beiden Jahren auch bei anderen bekannten Personen des öffentlichen Lebens, Politikern, Wissenschaftlern oder Journalisten, zu beobachten. Es gab 2009/2010 sogar so etwas wie eine öffentliche Kampagne gegen die sogenannten „Sozialschmarotzer“. Sie begann Mitte 2009 mit einem FAZ-Artikel des Philosophen Peter Sloterdijk. Er stellte dort publikumswirksam die These von der Enteignung der Leistungsträger durch den modernen Steuerstaat vor, dessen Kassen aufgrund „von sozialpolitisch festgelegten Rechtsansprüchen“ fortlaufend durch die „Transfermassennehmer“, das heißt besonders durch die Arbeitslosen, geleert würden. Anfang 2010 sprach Bundesaußenminister Guido Westerwelle dann in Bezug auf den Sozialstaat und vor allem die Bezieher von Hartz IV von „spätrömischer Dekadenz“ und der Chefredakteur der ZEIT, Giovanni di Lorenzo, fabulierte zeitgleich in einem Leitartikel auf der ersten Seite seiner Zeitung bar aller Sachkenntnis davon, dass das deutsche „Sozialsystem immer noch attraktiv genug ist, dass es eine massenhafte Einwanderung in die sozialen Netze auslöst, was das Prinzip der Einwanderung, in einem fremden Land durch eigner Hände Arbeit sein Glück zu finden, auf den Kopf stellte“. Maßgebliche Vertreter der bürgerlichen Kreise vertraten damit offen Positionen, die man dort bislang allenfalls hinter vorgehaltener Hand geäußert hatte. Dass eine Aussage von der ersten Seite der ZEIT am nächsten Tag in großen Lettern auch auf der ersten Seite der Bild zu finden war, und zwar mit eindeutig zustimmendem Tenor, das hatte es noch nie gegeben.

Die Äußerungen von di Lorenzo, Sloterdijk, Westerwelle oder Sarrazin fallen auf einen fruchtbaren Boden; denn anders als in den Jahren davor stößt die Ausgrenzung sozial Schwacher seit kurzem auch in gut ausgebildeten und gutsituierten Kreisen auf immer mehr Zustimmung. Das zeigen die seit vielen Jahren im Rahmen einer Langzeitstudie zu „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ regelmäßig durchgeführten Befragungen der Forschergruppe um Wilhelm Heitmeyer. Die bemerkenswerteste Veränderung zwischen 2009 und 2010 erfolgte nämlich genau in diesen Kreisen. Fand die Abwertung von Langzeitarbeitslosen bei den Beziehern hoher Einkommen 2009 noch deutlich weniger Zustimmung als bei den anderen Einkommensgruppen, war dieser Unterschied 2010 nicht nur verschwunden, die „Gutverdiener“ lagen nun sogar an der Spitze, wenn es um Ressentiments gegenüber Langzeitarbeitslosen ging. Ihnen wurde vor allem vorgehalten, sich nicht genug anzustrengen und nicht genügend Eigenverantwortung aufzubringen. Konsequent wurden die staatlichen Unterstützungsleistungen für Arbeitslose von den Beziehern hoher Einkommen dann auch sehr kritisch gesehen. In dieses Bild passt auch die Tatsache, dass der aus großbürgerlichen Kreisen stammende frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi nicht nur die Verteidigung Sarrazins im Parteiausschlussverfahren übernommen hatte, sondern Sarrazin in Interviews auch immer wieder als wichtigen Querdenker lobt.


Wer trägt die Kosten der Finanzkrise?


Die veränderte Einstellung in den „besseren Kreisen“ gegenüber Arbeitslosen, sozial Schwachen und Migranten ist eine Reaktion auf die Verschärfung der realen gesellschaftlichen Lage. Es geht in dieser Diskussion im Kern nämlich darum, wer die enormen Kosten der Finanzkrise zu tragen hat. Für den Ausgang der damit verbundenen gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung ist es von entscheidender Bedeutung, welche Interpretation der Lage sich die tief verunsicherten Mittelschichten mehrheitlich zu eigen machen. Die heftigen Angriffe auf die Hartz-IV-Bezieher und die Migranten dienen daher vor allem einem Zweck: Der Blick der Mittelschichten soll sich vorrangig nach unten richten, nicht nach oben, wenn es um die Verteilung der Krisenkosten geht. Nicht die Gewinner der letzten Jahrzehnte sollen ins Visier genommen werden, sondern die Verlierer. Der Begriff der „Leistungsträger“ ist dafür geradezu ideal geeignet; denn als Leistungsträger fühlt sich, zu Recht, auch die Masse der Durchschnittsverdiener.

Sloterdijks Argumentation ist dafür typisch. Seiner Ansicht nach reklamierten die Steuerstaaten inzwischen „die Hälfte aller Wirtschaftserfolge ihrer produktiven Schichten für den Fiskus“, so seine Worte. Er erweckt damit den Eindruck, als belaste der Staat den produktiv arbeitenden Teil der Bevölkerung weit über Gebühr, um mit dem ihm abgepressten Geld die Masse der nicht produktiven Einwohner durchzufüttern. Die Parallelen zu Sarrazin und seiner Definition von produktiv und unproduktiv werden hier sehr deutlich. Das gilt aber auch noch in einem weiteren Punkt. Sloterdijk geht ebenso wie Sarrazin (oder auch Westerwelle und di Lorenzo) in der Regel recht großzügig mit Zahlen und Fakten um.


Die Einkommensverteilung wird ungleicher

Ein genauerer Blick auf die deutsche Wirklichkeit zeigt das sofort. Zwar stimmt es, dass die oberen zehn Prozent der Einkommensbezieher ungefähr die Hälfte der Einkommensteuer aufbringen. Das ist aber nur die halbe Wahrheit; denn auf diese zehn Prozent entfallen auch knapp 40 Prozent der Markteinkommen (Löhne, Gehälter, Kapitaleinkünfte, Mieteinnahmen etc.). Sie werden steuerlich zwar überproportional belastet, aber bei weitem nicht in dem Maße, wie Sloterdijk es darstellt. Außerdem ist die steuerliche Belastung der höheren Einkommen im letzten Jahrzehnt nicht gestiegen, sondern ganz im Gegenteil deutlich gesunken. Verschiedene gesetzliche Maßnahmen haben dafür gesorgt. Nach der Abschaffung der Vermögenssteuer 1997 ist auch der Spitzensteuersatz zwischen 2000 und 2005 von 53 auf nur noch 42 Prozent gesenkt worden. Für Kapitalgesellschaften bleiben seit 2000 Gewinne völlig steuerfrei, die bei der Veräußerung von Unternehmen oder Unternehmensanteilen erzielt werden. Schließlich sorgt die 2008 beschlossene 25-prozentige Abgeltungssteuer dafür, dass höhere Einkommen ihre Kapitaleinkünfte nicht mehr mit dem persönlichen Steuersatz von bis zu 42 Prozent versteuern müssen. Das begünstigt vor allem die Reichen und die Super-reichen. Die reale steuerliche Belastung der 450 reichsten Deutschen mit einem jährlichen Mindesteinkommen von damals neun Millionen Euro hat sich nach Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) allein zwischen 1998 und 2002 durch die Steuerreformen der ersten rot-grünen Bundesregierung von 41 auf 34,3 Prozent verringert. Nach neuesten Angaben des Statistischen Bundesamts hat sich daran in den letzten Jahren trotz der Einführung der sogenannten Reichensteuer (ein Spitzensteuersatz von 45 Prozent für Einkommen ab 250.000 Euro jährlich für Ledige) kaum etwas geändert.

Die Folgen sind eindeutig. Im Gegensatz zu dem von Sloterdijk erweckten Eindruck hat die Umverteilung seitens des Staates spürbar ab- und nicht etwa zugenommen. Zwischen 1998 und 2006 sind die Einkommensunterschiede bei den Nettoeinkommen, also nach Steuern und Sozialabgaben, erheblich schneller gestiegen als bei den Bruttoeinkommen. Das spüren vor allem die Bezieher geringer Einkommen. Sie sind die eindeutigen Verlierer der letzten Jahre. Der Anteil der Armen hat in Deutschland massiv zugenommen. Mittlerweile gilt jeder sechste Bundesbürger als arm. Für diese Zunahme sind in erster Linie die Hartz-Gesetze der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder verantwortlich. Sie haben nicht nur zu einer deutlichen Senkung der Sozialleistungen für Arbeitslose (deutliche Verkürzung des Bezugszeitraums für Arbeitslosengeld, Abschaffung der Arbeitslosenhilfe), sondern auch zu einer massiven Ausweitung eines Niedriglohnsektors geführt. In ihm sind mittlerweile 21,5 Prozent der Beschäftigten tätig, verglichen mit nur 14,7 Prozent Mitte der 1990er Jahre. Die Löhne liegen dort vielfach unterhalb der Hartz-IV-Sätze und müssen deshalb durch staatliche Transferzahlungen ergänzt werden. Jeder zehnte in Deutschland lebende Mensch erhält inzwischen Leistungen aus den sozialen Mindestsicherungssystemen, und das, obwohl über ein Viertel der Anspruchberechtigten seinen Anspruch nicht geltend macht und daher keine staatliche Unterstützung erfährt.

Gerade die Bundesbürger, die nur geringe Einkommen haben, sind zudem von der Anhebung indirekter Steuern überproportional betroffen. Deren Anteil am gesamten Steueraufkommen ist in den letzten Jahrzehnten vor allem durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, der Mineralölsteuer und der Tabaksteuer kontinuierlich gestiegen. Machten die indirekten Steuern 1990 zirka 40 Prozent des Steueraufkommens aus, so liegt ihr Anteil seit 2001 fast durchweg über 50 Prozent. Indirekte Steuern aber betreffen niedrige und mittlere Einkommen weit stärker als höhere Einkommen, weil sie ganz oder zum allergrößten Teil für die alltägliche Lebensführung ausgegeben werden müssen, während von den hohen Einkommen ein beträchtlicher Teil gespart wird. Die in den letzten Jahren bereits deutlich reduzierte, aber immer noch vorhandene Umverteilungswirkung bei der Einkommensteuer verliert durch die Verschiebung zwischen direkten und indirekten Steuern noch weiter an Bedeutung. Dazu kommen dann noch die Belastungen durch Veränderungen in anderen Bereichen wie etwa der Krankenversicherung, wo die Masse der Bevölkerung durch die Einführung eines allein von den Versicherten zu zahlenden Eigenanteils, die Anhebung der Eigenbeteiligung und die neuerdings von vielen Kassen verlangten Zuzahlungen spürbar belastet wird.

All diese Entwicklungen erklären, warum die Vermögenskonzentration in Deutschland während der letzten Jahre spürbar zugenommen hat statt abzunehmen, wie man es angesichts der Sloterdijkschen Äußerungen eigentlich hätte annehmen müssen. Der Anteil der oberen zehn Prozent am gesamten privaten Nettovermögen (Bruttovermögen minus Schulden) von ungefähr 6,6 Milliarden. Euro ist allein in den fünf Jahren zwischen 2002 und 2007 von schon beachtlichen 57,9 Prozent noch einmal deutlich auf dann 61,1 Prozent gestiegen. Alle anderen Gruppen der Bevölkerung haben dagegen verloren. Die unteren 70 Prozent kommen gerade noch auf einen Vermögensanteil von 8,8 Prozent, ein Siebtel weniger als fünf Jahre zuvor. Diese Entwicklung wird durch die jüngsten Steuergesetze der schwarz-gelben Koalition, sprich vor allem die deutliche Entlastung von Unternehmen und Erben, weiter voran getrieben.


Die Kluft zwischen Arm und Reich öffnet sich in Deutschland besonders schnell

Ein genauerer Blick auf die Bundesrepublik zeigt eines mehr als deutlich: die Behauptung von der massiven Ausnutzung des Sozialstaats durch „Sozialschmarotzer“ oder Migranten geht an der Wirklichkeit weit vorbei. Wie die Statistiken der Europäischen Union zeigen, ist es genau umgekehrt. Die Einkommen sind in der Bundesrepublik Deutschland so ungleich verteilt wie noch nie seit ihrer Gründung. Lag Deutschland zu Beginn des neuen Jahrtausends, was die Differenz zwischen dem oberen und dem unteren Fünftel der Einkommen angeht, mit einem Wert von 3,5 wie immer in den letzten Jahrzehnten in der unteren Hälfte und relativ nah an den skandinavischen Ländern, so hat sich die Lage binnen eines Jahrzehnts dramatisch verändert. Inzwischen liegt der Wert bei 4,8 und damit im oberen Mittelfeld, weit weg von den skandinavischen Staaten und relativ nah an traditionell für ihre soziale Ungleichheit bekannten Ländern wie Großbritannien oder Irland. In der gesamten EU gibt es nur zwei Länder, in denen sich die Schere zwischen Arm und Reich in diesem Zeitraum noch schneller geöffnet hat als in Deutschland: Das sind Bulgarien und Rumänien. Wer angesichts der horrenden öffentlichen Verschuldung mit dem Finger auf die Hartz-IV-Empfänger zeigt, lenkt von den wirklichen Verursachern ab. Die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen für den Finanzsektor, die sich weltweit auf mehrere Billionen Euro summieren, auch für Deutschland allein mehrere hundert Milliarden Euro ausmachen und für die enorme Zunahme der Staatsverschuldung verantwortlich sind, sind in erster Linie denen zugutegekommen, die über nennenswertes Geldvermögen verfügen und/oder mit Finanzspekulationen Gewinne erzielt haben und weiter erzielen.

 

Der Artikel erschien in der Ausgabe Nr. 44/Sommer 2011 der antifaschistischen Zeitschrift Lotta.