PERIPHERIE-Stichwort „Gerechter Krieg“

In der westlichen Tradition wird die Lehre vom Gerechten Krieg (bellum iustum) auf den Kirchenvater Augustinus zurückgeführt. Er formulierte im 4. Jahrhundert Maßstäbe, wann ein Krieg zur Verteidigung der eigenen Gemeinschaft und des Glaubens gerechtfertigt sein kann (Augustinus 1978). Die Auseinandersetzung um Regeln zur Begründung von Kriegen und für die Kriegführung geht jedoch bis auf deren Anfänge zurück und lässt sich etwa auch in klassischen chinesischen Texten oder in altindischer Epik nachweisen (vgl. Godehardt 2008). Im Okzident reicht die ideengeschichtliche Linie weiter über Thomas von Aquin, Gratian oder de Vitoria bis zu Grotius und de Vattel.

 

Die Lehre vom Gerechten Krieg ist handlungsorientiert. Sie verortet sich zwischen einem radikalen Bellizismus einerseits und einem grundsätzlichen Pazifismus andererseits und soll Bedingungen formulieren, unter denen der ansonsten geächtete Krieg dennoch legitim ist. Sie soll ethische Maßstäbe bereitstellen, nach denen militärisches Gewalthandeln moralisch zu bewerten ist, stellt aber im strengen Sinn keine Theorie dar. Eingeführt ist folgender Kriterienkatalog: Das ius ad bellum (das Recht zum Kriege) fordert die legitime Autorität, den legitimen Grund sowie die sittliche Intention der Kriegführung, die ferner als letztes Mittel (ultima ratio) erscheinen und realistische Aussicht auf Erfolg haben muss. Hinzu kommt die Verhältnismäßigkeit gegenüber dem Kriegsanlass. Das ius in bello (das Recht im Kriege) fordert die Verhältnismäßigkeit der im Krieg eingesetzten Mittel sowie der Angriffsziele und die Immunität von Nicht-Kombattanten. Neuerdings wird ferner im Sinne eines ius post bellum gefordert, den Zustand nach einem Krieg mit der Forderung nach Verhinderung von Verbrechen gegen die Menschheit zu konfrontieren, die legitimierender Anlass der Gewaltanwendung waren. Anhaltende systematische Verletzung der Menschenrechte etwa würde demgemäß einen Krieg im Nachhinein delegitimieren (vgl. z.B. Williams & Caldwill 2006).

Mit dem Hinweis auf die Menschenrechte verweist die Lehre vom Gerechten Krieg auf die aktuelle Problematik der humanitären Intervention. Historisch ist diese Begründung für kriegerisches Gewalthandeln freilich weit älter als oft angenommen wird. Fälle, die einer kritischen Beurteilung im Sinne der angeführten Grundsätze standhalten, sind in Wirklichkeit allenfalls selten, denn die Akteure der internationalen Politik verfolgen in der Regel Eigeninteressen. Sie sind ferner voraussetzungsreich, da sie insbesondere funktionierende internationale Organisationen sowie die Anerkennung entsprechender Völkerrechtsnormen erfordern (vgl. Osterhammel 2001: 316). Zugleich erweisen sich kriegerische Prozesse einschließlich der an sie anschließenden Besatzungsregime systematisch als resistent gegen eine regelhafte Eingrenzung der durch sie implizierten Gewalt (vgl. Moses 2009).

Humanitäre Interventionen werfen so die alte Frage nach der moralischen Legitimität von Kriegen unter dem Aspekt der gewaltsamen Durchsetzung von Menschenrechten neu auf. Dabei wurde im Kontext des Kosovo-Krieges 1999 auch die Formel „illegal, doch legitim" vertreten: Für die Goldstone-Kommission war der Krieg trotz seines Verstoßes gegen das Völkerrecht „gerechtfertigt, weil alle Mittel der Diplomatie ausgeschöpft waren und es keinen anderen Weg gab, Gemetzel und Gräuel im Kosovo zu beenden" (Independent International Commission on Kosovo 2000).

Neben Verweisen auf den Zweiten Weltkrieg als den vor allem aus anglo-amerikanischer Sicht klassischen „Good War" des 20. Jahrhunderts stehen Forderungen, das völkerrechtlich verankerte Gewaltverbot im Zuge des „Krieges gegen den Terrorismus" zu reformieren. Herfried Münkler stellt in dieser Perspektive auch die strikte Aufgabentrennung zwischen Polizei und Militär zur Disposition. Vor dem Hintergrund asymmetrischer Kriegführung und der (scheinbaren) Gefahr, dass „Terroristen" in den Besitz von Nuklearwaffen gelangen könnten, hält er das bestehende Völkerrecht für dysfunktional (Münkler 2006). Damit erschiene freilich auch die Rede von „gerechten Kriegen" in einem anderen Licht. So begründet die Formel „illegal, doch legitim" (Noam Chomsky) mittlerweile eine populäre, doch höchst umstrittene Doktrin, wonach bewaffnete Interventionen in bestimmten Fällen zwar völkerrechtswidrig, aber moralisch und weltordnungspolitisch legitim seien. Die Lehre des Gerechten Krieges wird so aktualisiert. Georg Meggle (2004; 2006) spricht von einer populären und klassischen Software, die einen äußerst gefährlichen Chip enthalte. Diesen Chip können sich sowohl Gewaltakteure als auch die grundsätzlichen Kritiker von Gewalt gleichermaßen zunutze machen und tun dies auch. Gewalt darf sich auch aus Sicht derer, die beanspruchen, einen „gerechten Krieg" zu führen, nicht direkt gegen unbeteiligte Dritte bzw. Zivilpersonen richten. Doch ist aus dieser Sicht die Schädigung von Zivilpersonen als „Kollateralschaden" entschuldbar, insofern diese nicht direktes Ziel der Gewalt sind. Diese Argumentation schafft aus moralischer Sicht Entgrenzungsbedingungen für Gewalthandlungen: Ein Schaden ist dem Gewaltakteur dann stark zurechenbar, wenn er entweder wusste, dass seine Tat diesen Schaden bewirken wird oder dies billigend in Kauf nahm. In seiner Konsequenz führt der Verweis auf „Kollateralschäden" gerade dazu, dass sich die Rechtfertigung von Gewaltanwendung unter dem Aspekt des ius in bello verflüchtigt. Des Pudels Kern liegt in der als Ausnahme gedachten Entschuldbarkeit von „Kollateralschäden" - eine Ausnahme, die jedoch bisher sehr oft zum Regelfall wurde und daher die Rechtfertigungsstrategie als zutiefst fragwürdig erscheinen lässt: Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki sowie die Bombardierung von Dresden sind zwei aussagekräftige Beispiele für diese „Ausnahme". Die vorgebliche Gewaltbegrenzung gerät hier zur handlungsethischen Beliebigkeit der Massenvernichtung, die auch unter dem Anspruch des „Good War" der Prüfung der Verhältnismäßigkeit kaum standhält. Andererseits kann der Verweis auf absehbare Handlungsfolgen in verantwortungsethischer Perspektive Gewalthandeln gerade entlegitimieren (vgl. Kößler 1991).

Diese ethischen Abwägungen werden auch von nicht-staatlichen Akteuren wie unterschiedlichst motivierten Widerstandsakteuren, nationalen Befreiungsbewegungen oder Bürgerkriegsparteien getroffen; denn auch diese berufen sich explizit oder implizit auf die Kriterien des Gerechten Krieges. In der Eigenlogik nicht-staatlicher Gewaltakteure, z.B. der Irish Republican Army (IRA) oder der Euskadi Ta Askatasuna (ETA), ist das ius-in-bello-Prinzip als (vorgeblicher) Gewaltbegrenzer das entscheidende Element. Eine gerechte Kriegsführung ist aus deren Sicht entscheidend für das Gelingen der „legitimitätssuchenden Selbstverständigung" innerhalb der irischen bzw. baskischen Gemeinschaften (Baumann 2011).

Kontrafaktisch gedacht: Bei strikter Anwendung werden gerade die Prinzipien des ius in bello konkrete Kriege eher entlegitimieren als dass sie diese rechtfertigen könnten. Ähnliches gilt für die Erreichbarkeit als legitim anerkannter Ziele im Sinne des ius ad bellum und endlich für die Dauerhaftigkeit hypothetisch erzielter Erfolge (ius post bellum). Das verhindert nicht, dass, wie der Augenschein lehrt, Kriege verschiedenster Art beständig als „gerecht" bezeichnet werden. In den klassischen Lehrsätzen aber findet sich dafür wenig mehr als der Rekurs auf die dehnbare Formel der Verhältnismäßigkeit.

Marcel M. Baumann & Reinhart Kößler

Literatur

Augustinus, Aurelius ([413-426] 1978): Vom Gottesstaat, 2 Bde. Zürich.

Baumann, Marcel M. (2011): „‘Wenn die Fische immer noch ihr Wasser suchen'. Die Auswirkungen des Elften Septembers auf den herkömmlichen Terrorismus". In: Neumärker, Bernhard (Hg.): Konflikt, Macht und Gewalt aus politökonomischer Sicht. Marburg, S. 127-161.

Chomsky, Noam (2006): „Illegal, doch legitim. Eine dubiose Doktrin unserer Zeit". In: Blätter für deutsche und internationale Politik (Hg.): Der Sound des Sachzwangs. Der Globalisierungs-Reader. Bonn & Berlin, S. 65-77.

Gratian ([ca. 1140] 1879): Decretum Magistri Gratiani. Lipsiae.

Grotius, Hugo ([1625] 1950): Vom Recht des Krieges und des Friedens. Tübingen.

Independent International Commission on Kosovo (2000): The Kosovo Report: Conflict, International Response, Lessons Learned. Oxford.

Godehardt, Nadine (2008): The Chinese Meaning of Just War and its Impact on the Foreign Policy oft he People's Republic of China. Hamburg.

Kößler, Reinhart (1991): „Verantwortungsethik. Klarstellungen anläßlich des zweiten Golfkrieges". In: Peripherie, Nr. 42, S. 7-17.

Meggle, Georg (2004): Kollateralschäden? Vortrag im Rahmen des Philosophischen Kolloquium an der Universität Duisburg-Essen am 12. 4. 2004, http://www.uni-leipzig.de/~philos/meggle/&aktivitaeten/vortraege_manuskripte/Kollateralschaeden.pdf, letzter Aufruf: 23. 5. 2006.

Meggle, Georg (2006): Gerechter Terror? In: Telepolis, 2. 2. 2006, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/21/21897/1.html, letzter Aufruf: 13. 2. 2007).

Münkler, Herfried (2006): „Asymmetrie und Kriegsvölkerrecht". In: Die Friedens-Warte, Bd. 81, Nr. 2, S. 59-65.

Moses, Dirk (2009): „Besatzung, Kolonialherrschaft und Widerstand". In: Peripherie, Nr. 116, S. 399-424.

Osterhammel, Jürgen (2001): Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zur Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. Göttingen.

Thomas von Aquin (1966): Die deutsche Thomas-Ausgabe. Graz.

Vattel, Emer de ([1758] 1959): Le droit des gens ou principes de la loi naturelle. Tübingen.

Vitoria, Francisco de ([1557/65] 1952): De indis recenter inventis et de jure belli hispanorum in barbaros. Tübingen.

Williams, Robert E. & Caldwill, Dan (2006): „Jus Post Bellum: Just War Theory and the Principles of Just Peace". In: International Studies Perspective, Nr. 7/2006, S. 309-320.

Walzer, Michael ([1977] 2000): Just and Unjust Wars: A Moral Argument with Historical Illustrations. New York, NY.