aneignung von zeit in der zigarettenpause

Arbeit zwischen Kontrolle und Eigensinn

Unsicherheit, Überlastung und Prekarität, wohin man blickt: Die gängigen Beschreibungen gegenwärtiger Veränderungen der Arbeitswelt zeichnen ein düsteres Bild. Immer unverblümtere Angriffe auf die Überbleibsel des Sozialstaats flankieren die zunehmende Warenförmigkeit von Arbeitskraft und die fortschreitende Intensivierung von Arbeitsprozessen. Alte und neue Kontrollregime sollen dabei eine maximale Ausbeute an Arbeitsleistung sicherstellen. Die Kameraüberwachung an der Discounter-Kasse, die penible Pflicht zur Dokumentation aller Pflegemaßnahmen aber auch die disziplinierte Selbstkontrolle der freiberuflichen Bildungsarbeiter/innen dienen nur einem Zweck: Der reibungsfreien Übersetzung von Arbeitskraft in tatsächlich verausgabte und ökonomisch verwertbare Arbeit. Kollektiver Widerstand gegen die Zumutungen dieser „schönen neuen Arbeitswelt“ wird dabei so notwendig wie unwahrscheinlich. Fragmentierte Erwerbsverläufe, hohe Fluktuation innerhalb der Belegschaften, Arbeitslosigkeit und „aktivierende“ Sozialpolitik sowie sinkendes gewerkschaftliches Organisationspotential bilden denkbar schlechte Voraussetzungen für das Aufkeimen kollektiver Widerstandsformen.
Die vermeintliche Stille am Arbeitsplatz darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hinter der „frontstage“ alltäglichen Gehorsams auch noch eine „backstage“ (James C. Scott) gibt. Wesentlich chaotischer eingerichtet, beherbergt sie ein schillerndes Spektrum von Praktiken, die sich der zielgerichteten Indienstnahme durch die Unternehmen widersetzen. Sie werden in dem immer wiederkehrenden Scheitern der Versuche, Arbeitskraft bis ins Letzte zu kontrollieren, sichtbar. Sie verweisen so auf deren Eigensinn. Die „eigentümliche Gleichzeitigkeit von selbstbewusster (Wieder-)Aneignung und Distanz-Nehmen“ (Alf Lüdtke) kennzeichnet die Art und Weise, in der ein Kassierer der Kundin einen schönen Tag (ver-)wünscht genauso wie den sarkastischen Kommentar zweier Krankenschwestern über den kritischen Zustand eines Patienten. Er findet sich in der (Wieder-)Aneignung von Arbeitsprodukten, der Aneignung von Arbeitszeit in der Zigarettenpause oder auch der Aneignung von Raum durch die Dekoration des Arbeitsplatzes mit Scott Adams’ Dilbert-Comics.
Eigensinn kann sich also widerständig zeigen und damit unterschwellig den Arbeits- in einen „Kampfplatz“ verwandeln, auf dem managerielle Kontrollambitionen mit widerspenstigen Arbeitspraxen ringen. Aber auch wenn der Eigensinn der Beschäftigten nicht zwingend der Rationalität der Organisation gehorchen muss, handelt es sich dabei nicht schlicht um Unsinn. Eher kommt in ihm die Eigenlogik von Personen, die Rationalität ihrer Selbstorganisation, zum Ausdruck. Das bedeutet allerdings auch, dass Eigensinn nicht umstandslos emanzipatorisches Potential entfaltet. Vielmehr hängt dies vom Verhältnis des Eigensinns der Personen zu anderen – u.a. kollektiven – Formen der Selbstorganisation ab.
Die Artikulation von Eigensinn und Formen individueller Widerständigkeit am Arbeitsplatz können kollektiven Widerstand keinesfalls überflüssig machen. Sie bieten allerdings Ansatzpunkte, um das hintergründige Rumoren auch auf die Vorderbühne dringen zu lassen. Gerade unter gegenwärtigen Bedingungen scheint die Anerkennung eigensinniger Praktiken unabdingbar, macht sie doch die Allgegenwärtigkeit von Handlungsspielräumen im Arbeitsprozess sichtbar – und damit auch politisch nutzbar.

Literatur:
Lüdtke, Alf (1986): Betriebe als Kampffeld: Kontrolle, Notwendigkeits-Kooperation und ‚Eigensinn‘. Beispiele aus dem Maschinenbau, 1890-1940. In: Rüdiger Seltz/Ulrich Mill/Eckart Hildebrandt (Hrsg.), Organisation als soziales System. Kontrolle und Kommunikationstechnologie in Arbeitsorganisationen. Berlin, S. 103-139.
Negt, Oskar/Alexander Kluge (1993): Geschichte und Eigensinn. 3 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Scott, James C. (1990): Domination and the arts of resistance. Hidden transcripts. New Haven; London: Yale University Press