sozialer stabilitätspakt für europa

Nur ein Integrationsschub führt aus der Krise

Die Eurokrise zeigt die Unzulänglichkeit des bisherigen Integrationsprozesses. Anders als die Europäische Kommission und die deutsche Bundesregierung glauben machen wollen, ist nicht mangelnde Spardisziplin an der Peripherie der Europäischen Union die erste Ursache für Bankrotterklärungen, Finanzhilfen und eilig aufgespannte Rettungsschirme. Die hohen Staatsdefizite nahezu aller Länder der EU sind mitnichten der Grund für die Wirtschaftskrise. Die Verschuldung der Länder kletterte erst infolge der Krise in astronomische Höhen, als marode Banken und Finanzinstitute verstaatlicht und Rezession und Arbeitslosigkeit abgefedert werden mussten. So hat etwa Spanien das Drei-Prozent-Kriterium des Stabilitäts- und Wachstumspakts zwischen 1999 und 2007 nie verletzt. Hier wie auch in Irland sank die staatliche Schuldenstandsquote radikal. Der Staat erzielte sogar Haushaltsüberschüsse. Wenn zur Verhinderung künftiger Krisen nun in erster Linie der Zwang zu Budgetkonsolidierung und Nullverschuldung erhöht wird, entspricht dies nicht den realen Problemen.
Was die Krise in Wahrheit ans Licht gebracht hat, ist die wirtschaftliche Heterogenität der Staatengemeinschaft. Bald zwei Jahrzehnte nach Verwirklichung eines einheitlichen Binnenmarkts schwankt die ökonomische Entwicklung innerhalb des Integrationsraums weiterhin stark. So verfügen die einzelnen Volkswirtschaften über sehr unterschiedliche Öffnungsgrade, Produktionsverhältnisse und wirtschaftspolitische Schwerpunktsetzungen. Darüber hinaus ist in der Eurozone durch den Verlust des Wechselkursinstruments als Mittel der Politik das Interesse gestiegen, die eigene nationale Wirtschaftsbilanz auf Kosten anderer Staaten zu verbessern. Deutschlands seit Jahren praktizierte Lohnzurückhaltung zur Reduzierung der Preise seiner Exporte ist hierfür ein zentrales Beispiel. Angela Merkel betreibt eine merkantilistische Politik und steigert die deutsche Wettbewerbsfähigkeit zu Lasten der europäischen Nachbarn. Niedrige Lohnstückkosten sind dabei nur ein Instrument im selbst geschaffenen System von Wettbewerbsstaaten. Die EU-Länder konkurrieren um Finanzinvestitionen und Produktionsstandorte und nutzen hierfür Dumping-Strategien durch Reduzierung finanzieller Belastungen in Form von Steuern, Sozialabgaben und Lohnnebenkosten jeglicher Art. Die ungleiche Verteilung von Leistungsbilanzdefiziten und -überschüssen, hohe Lohngefälle, unfairer Steuerwettbewerb und erhebliche Differenzen im Wohlstandsniveau sind die Folge. Die sozioökonomischen Heterogenitäten machen die EU anfällig für regionale Krisenphänomene wie etwa Immobilienblasen, Massenarbeitslosigkeit, Spekulationsattacken oder übermäßige Verschuldung. In einem in hohem Grad verflochtenen Wirtschaftsraum bleiben die Auswirkungen der Krisen nicht regional begrenzt. Die Eurokrise des Jahres 2010 beweist die Unzulänglichkeit des gewählten liberalen Integrationswegs. So wurde eine in erster Linie marktschaffende Politik verfolgt, während die Etablierung marktgestaltender und marktkorrigierender Aspekte auf EU-Ebene an nationalen Egoismen und ideologischer Verblendung scheiterten. Die Konkurrenz um das am besten an die Erfordernisse des gemeinsamen Marktes angepasste Wohlfahrtsstaatsmodell wird nun durch die unrealistischen Spardiktate für viele europäische Länder perpetuiert. Die Rezession kann dadurch nicht überwunden werden, doch die ungleiche sozioökonomische Entwicklung des Kontinents wird für lange Zeit zementiert. Europaskepsis könnte dann vielerorts leicht in offene Ablehnung umschlagen, letztlich zu einem Rückbau der gemeinsamen Errungenschaften führen. Die politischen Sackgassen von Renationalisierungstendenzen und Fortschreibung des fragilen Systems von Wettbewerbsstaaten sind nur zu umgehen, indem der schrittchenweise, oft ad hoc erfolgende Dauerreparaturbetrieb der Europäischen Integration durch einen neuen, umfassenden Gestaltungsansatz ersetzt wird. Dazu müssen Wahrheiten eingestanden werden: Wer eine Wirtschafts- und Währungsunion will, muss auch Ja zu einer Sozialunion sagen. Strebt man eine politische Union an, bedeutet dies die Teilung nationaler Souveränität. Soll die regionale Krisenanfälligkeit der Gemeinschaft verringert werden, darf auch ein europäischer Finanzausgleich kein Tabu sein. Und: Der Vertrag von Lissabon war für die demokratische Funktionsfähigkeit der EU zwar ein Meilenstein, aber nicht der Weisheit letzter Schluss. Künftig wird mehr benötigt als der vertragliche Kompromiss von 27 auf den eigenen Vorteil schielenden Staaten auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner.
Ein neuer außenwirtschaftlicher und sozialer Stabilitätspakt sollte die ökonomisch wenig zielführende, einseitige Fokussierung auf Gesamt- und Neuverschuldung ersetzen durch Bestimmungen zur Vermeidung übermäßiger Leistungsbilanzungleichgewichte und die Koppelung der Sozialausgabenhöhe an die ökonomische Leistungsfähigkeit der einzelnen Staaten. Ferner sollten gemeinsame Bemessungsgrundlagen und Mindestsätze für Unternehmenssteuern beschlossen sowie Mindestlöhne orientiert am durchschnittlichen Lohnniveau der einzelnen Länder vereinbart werden. Solche neuen Regeln erfordern aber ein Bekenntnis zu einem zusammenwachsenden, politischen Europa und dies muss sich auch auf der Akteursebene spiegeln: In neuen institutionellen Arrangements ebenso wie in der sich ganz ohne neue Vertragsgrundlagen und Beschlüsse stellenden Daueraufgabe der dringlichen Europäisierung von Parteien, Gewerkschaften und Parlamenten.