Nazi-Justiz

Korrekturen am Bild des Volksgerichtshofs

Gebirge von Literatur verdecken oft horrende Forschungslücken. Nach unzähligen Veröffentlichungen, in denen die DDR zur Stasi-Diktatur über ein Volk von Widerständlern stilisiert wurde, geraten erst jetzt die führende Rolle der SED und der normale DDR-Alltag ins Blickfeld. Und bei der diesem mißlungenen Versuch einer sozialistischen Republik vorangegangenen nationalsozialistischen Diktatur, die als der besterforschte Abschnitt deutscher Geschichte gilt, werden sogar in zentralen Bereichen noch Forschungsdefizite entdeckt.

So in der vorliegenden Neuerscheinung zur NS-Justiz. Dazu fallen vielen Roland Freislers Tiraden gegen die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944, Georgi Dimitroffs Auftritt vor dem Reichsgericht in Leipzig oder die „Rassen“-Diskriminierung durch die Nürnberger Gesetze ein. Aufsehen erregte vor Jahren Wolfgang Kohl (Rechtswissenschaftler in Frankfurt/M., inzwischen Geschäftsführer der LVA Mitteldeutschland), als er ein übersehenes Gericht entdeckte: das Reichsverwaltungsgericht. Dem Justizministerium Nordrhein-Westfalens verdanken wir die leicht übersehbare, wertvolle Schriftenreihe „Juristische Zeitgeschichte“. Anläßlich der Jahrestage des 20. Juli 1944 und der Selbsttötung des Richters Paul Reimers vor 20 Jahren, ist der 13. Band dem Volksgerichtshof (VGH) gewidmet, von dem jeder ein klares Bild hat. Auch der Bundestag, der 1985 einstimmig beschloß, der VGH sei kein Gericht, sondern ein Terrorinstrument des NS-Staats gewesen. Das stimme (nur) für die Zeit, auf die man geschaut habe, meinen die Herausgeber, falsch also für den VGH insgesamt.

Es mußte wohl erst eine unbelastete, politisch-undogmatische Rechtswissenschaftlergeneration kommen (Klaus Marxen, Strafrechtsprofessor an der Berliner Humboldt-Universität, entstammt der juristischen Linken in Frankfurt am Main), um unaufgeregt festzustellen, daß es neben dem „bekannten“ noch einen „unbekannten Volksgerichtshof“ gibt, mit einer „Urteilspraxis, die Züge justitieller Normalität trägt“. Das bisherige VGH-Bild sei „maßgeblich geprägt durch erhalten gebliebene Filmdokumente“ über Freisler und die angeklagten Widerstandskämpfer des 20. Juli. Bisherige Veröffentlichungen seinen einseitig auf die Endphase des VGH bezogen, auch das 1989 erschienene Buch des DDR-Staatsanwalts Günther Wieland, der nur die Zeit Oktober 1942 bis Kriegsende und vor allem Verfahren wegen Wehrkraftzersetzung selektierte. Solche Verzerrungen seinen „nicht nur unhistorisch“, sondern „auch vergangenheitspolitisch von Nachteil“, denn sie verkleistern Realitäten: „Hinreichende Vorkehrungen zum Schutz vor Strafterror kann eine Gesellschaft nur dann treffen, wenn sie sich Klarheit darüber verschafft, wie Normalität in Terror übergeht und wie es möglich ist, daß Normalität und Terror nebeneinander existieren“. (Für Insider ein Hinweis auf die in der sozialistischen DDR nie erschienene, in der kapitalistischen BRD unter Linken viel diskutierte Faschismusanalyse „Der Doppelstaat“, die Franz Neumann im US-Exil verfaßte.) In der Einleitung setzen sich die Herausgeber kritisch mit dem Forschungsstand auseinander und geben einen Überblick über Institutionsgeschichte und Urteilspraxis des VGH, dann werden 50 Urteile aus der Zeit vom 9. August 1934 bis zum 17. Januar 1945 dokumentiert.

Die DDR-Historikerlegende, der VGH sei eine Reaktion auf den Reichstagsbrand-Prozeß vor dem Reichsgericht gewesen, wird als unwahrscheinlich zurückgewiesen. Mit Freisprüchen in knapp einem Zehntel der Fälle unterschied sich der VGH kaum vom Reichsgericht, Verurteilungen im Stile Freislers waren die Ausnahme. Rund ein Drittel – „mindestens 5279 Abgeurteilte“ – wurde zum Tode verurteilt; vor Kriegsbeginn lag der Todesstrafenanteil unter 8,5 Prozent, in den ersten drei Jahren unter 2 Prozent. Urteilsbegründungen waren „beachtlich umfangreich“ und auch in der Strafzumessung nicht willkürlich, sondern entsprachen „erkennbaren Prinzipien“. Auf die Willkür des Strafverfolgungssystems im Ganzen - die vorher (Gestapo) und die nach Freisprüchen (Schutzhaft) – wird verwiesen. Schnellverfahren von wenigen Tagen gab es nicht, mehr als ein Jahr betrug die durchschnittliche Verfahrensdauer. Bei den Richtern dominierten nicht „eingefleischte Nationalsozialisten“, „politische Konformität war keine unbedingt notwendige Voraussetzung“. Ein Drittel der Verfahren wurde außerhalb Berlins durchgeführt. Das verweist ebenso auf die Rolle des VGH ab 1938 bei der Absicherung deutscher Expansionspolitik wie die geringe Zahl sogenannter Altreichsdeutscher (38,5 Prozent) unter den Angeklagten. Bei den Verurteilten dominierte keineswegs der bürgerliche Widerstand, wie Filmdokumente suggerieren: „Fast 90% von ihnen sind dem politisch linken Spektrum zuzurechnen. Fast 70% wurde die Unterstützung der KPD und ihrer Organisationen vorgeworfen. Mit der SPD wurden ca. 13% in Verbindung gebracht... Todesurteile gegen Angeklagte dieser Verfahrensgruppe sind... mit ca. 14% relativ selten“.

Leider wird die 1988 erschienene VGH-Mongraphie des rechten Hannsjoachim W. Koch verschwiegen, in der neben apologetischen Passagen solche zum „unbekannten Volksgerichtshof“ stehen – und in der ein Nazizeitungskommentar zitiert wurde, zur Verurteilung des Pianisten Karlrobert Kreiten zum Tode, trotz Intervention des Dirigenten Wilhelm Furtwängler. Der das Urteil hämisch rechtfertigende Journalist war Werner Höfer – im Westen Nachkriegsdeutschlands jahrzehntelang sonntags Moderator des „Internationalen Frühschoppens“.

Klaus Marxen/Holger Schlüter: Terror und „Normalität“. Urteile des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs 1934-1945: Eine Dokumentation. Herausgegeben vom Justizministerium des Landes NRW. 370 Seiten / 3,50 Euro. ISSN 1615-5718. · Internet: http://www.justiz.nrw.de/JM/haus_und_historie/zeitgeschichte/3publikationen/jur_zeitgeschichte/bandXIII/index.php