PERIPHERIE-Stichwort: Land Grabbing

in (15.01.2012)

Mit der Publikation „Seized!“ gelang es der Nichtregierungsorganisation GRAIN Ende 2008, den Begriff „land grabbing“ wirkungsmächtig in der medialen und politischen Öffentlichkeit zu verankern. Als politischer Kampfbegriff machte er auf die Problematik großflächiger Landnahme in zahlreichen Ländern des Südens durch ausländische Investoren aufmerksam, die seit Mitte des Jahrzehnts, spätestens seit dem Anstieg der Weltmarktpreise für Grundnahrungsmittel 2007/2008 sprunghaft zunahm. Die Publikation stellte einen Zusammenhang zwischen dem neuen Interesse an Landerwerb im globalen Süden und post-sozialistischen Osten, der Finanzkrise, der Energie‑ und Klimakrise und den Preissteigerungen für Nahrungsmittel her. Inzwischen wird der Begriff aber auch für ein breites Spektrum landbezogener Investitionen verwendet – vom Bergbau über Sonderwirtschaftszonen bis zur städtischen Bodenspekulation.

Einen Gegenpol bilden die dadurch angestoßenen Diskussionsbeiträge der Weltbank, der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO oder des Internatio­nalen Forschungsinstitut für Ernährungspolitik IFPRI, welche die Debatte schnell auf den Aspekt „Investitionen in den Agrarsektor“ reduzierten (s. z.B. Cotula u.a. 2009). Aus ihrer Perspektive stehen den – unbestrittenen – Risiken großflächiger Landnahmen durch kapitalkräftige Investoren, etwa die Vertreibung von Kleinbauern und kleinen Tierhaltern oder die Verdrängung der Nahrungsmittelproduktion für die einheimische Versorgung, erhebliche Chancen gegenüber, weil die jahrzehntelange Unterfinanzierung der landwirtschaftlichen Entwicklung durch Regierungen, Entwicklungsfinanziers und landwirtschaftliche Betriebe nun beendet werde. Die genannten Insti­tutionen fokussierten die Debatte auf potenzielle „win-win-Situationen“ (Produktivitätssteigerungen, Armutsminderung und Ernährungssicherung) und die Voraussetzungen, die dafür politisch geschaffen werden müssten, wie Good Governance und Regulierung von Investitionen.

Mittlerweile ist ein breiter Diskussionsprozess zu den aktuellen Landnahmen entstanden, an dem sich Entwicklungsorganisationen und multilaterale Institutionen, Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen, akademische und bewegungsorientierte Forschung beteiligen. In vielen Fragen steht diese Forschung dabei noch am Anfang.

Die Versuche einer Bestandsaufnahme machten zumindest in den ersten Jahren einen Großteil der Aktivitäten und Publikationen aus. Es erweist sich als ausgesprochen schwierig, das Ausmaß der Landnahmen, die unterschiedlichen Akteure, ihre Interessen und Motive, die Produkte, in die investiert wird – von Grundnahrungsmitteln über Agrartreibstoffe bis zu Rinderhaltung – sowie die Spezifika und Veränderungen der Eigentums‑ und Nutzungsverhältnisse zu erfassen. Gründe dafür sind die große Anzahl der Akteure, Schwierigkeiten, zwischen (medialen) Absichtserklärungen, laufenden Verhandlungen und tatsächlich abgeschlossenen Pacht‑ oder (selten) Kaufverträgen zu differenzieren, sowie die fehlende Transparenz bei den Verhandlungen bzw. bei Abkommen zwischen Regierungen und Investoren.

Ein weiterer Debattenstrang stellt die Frage: Was ist neu an der gegenwärtigen Landnahme? Die staatlich geförderte und abgesicherte Aneignung von Land in großem Stil mit dem Ziel der Exportproduktion ist keineswegs eine neue Entwicklung, was sich unter anderem darin niederschlug, dass die Landnahmen als Neokolonialismus bezeichnet wurden. In der Tat sind die rechtlichen Grundlagen vielfach Eigentumsverhältnisse, die in der Kolonialzeit durchgesetzt und in der post-kolonialen Zeit fortgeschrieben wurden. Demnach ist neben dem klar markierten Privateigentum, etwa an kommerziellen Plantagen, der Staat Eigentümer großer Flächen, die von Kleinbauern und Tierhaltern genutzt werden, häufig im Rahmen traditioneller und Gewohnheitsrechte.

Auch wenn einige Erscheinungsformen an koloniale Zeiten erinnern, sprechen die Unterschiede dafür, in den gegenwärtigen Landnahmen ein neues Phänomen zu sehen:

  • Zunächst ist hier die Beteiligung von Schwellenländern, beispielsweise China und Indien, sowie reichen Erdölstaaten zu nennen, die über wenig agrarische Ressourcen wie fruchtbares Land und Wasser verfügen.
  • Von zunehmender Bedeutung sind zudem der Anbau von Grundnahrungsmitteln und die Fleischproduktion, die eine gestiegene (Wohlstands‑)Nachfrage reflektieren, sowie die Produktion von Agrartreibstoffen.
  • Neu ist schließlich die starke Präsenz von Finanzinvestoren – von Pensionsfonds über Investmentbanken bis hin zu individuellen Bodenspekulanten.

Land grabbing ist also gleichermaßen als Reaktion und als Lösungsstrategie eng in die multiple Krise der kapitalistischen Verwertung eingebunden (Hoering 2011): Überakkumulation, Energie‑ und Finanzkrise, Verknappung natürlicher Ressourcen und die zunehmende globale Konkurrenz um Ressourcen und Absatzmärkte durch aufstrebende Schwellenländer.

Das Phänomen ist Teil einer Entwicklung, die sich mit der „Wiederentdeckung der Landwirtschaft“ bereits seit etwa Anfang der 2000er Jahre abzeichnet. Zunächst waren es vor allem internationale Finanzorganisationen, bilaterale Entwicklungsakteure und private Stiftungen, die als Wegbereiter die rechtlichen Rahmenbedingungen schufen: die Integration in den Weltmarkt und die Umgestaltung der (Land‑)Rechtssysteme. Agrarische Bereiche, die als „unproduktiv“ gelten, sollen kapitalistischen Produktionsbedingungen unterworfen werden – mit fundamentalen Auswirkungen auf die bestehenden Eigentums‑ und Nutzungsverhältnisse.

Unstrittig ist das Konfliktpotenzial, das großflächige Landnahmen, die damit einhergehenden Nutzungsänderungen, Exportorientierung und die Verdrängung von Nahrungsmittelproduktion für die lokalen Märkte mit sich bringen. Akute Konflikte dagegen scheinen bislang eher selten zu sein. Auch hier stehen die Forschungen erst am Anfang, wobei mit unterschiedlichen Ansätzen versucht wird, die Dynamiken der komplexen Auswirkungen zu erfassen (s. z.B. Borras & Franco 2010).

Während sich das Thema inzwischen zu einem umfangreichen, neuen Forschungsfeld mit einer Flut von Studien zu einzelnen Sektoren, Ländern, zu Triebkräften und Auswirkungen auswächst, (s. beispielhaft dafür die Konferenz „Global Land Grabbing“ im April 2011), stellt sich auf der politischen Ebene die ursprüngliche, polarisierte Frontstellung wieder her. Regierungen, Investoren, multilaterale Institutionen wie die Weltbank und eine Reihe zivilgesellschaftlicher Organisationen setzen auf Governance-Reformen, auf freiwillige Richtlinien – etwa die „Voluntary Guidelines on Responsible Governance of Tenure of Land and Other Natural Resources“, die gegenwärtig von der FAO erarbeitet werden, und die „Principles for Responsible Agricultural Investment“ (RAI), die im Auftrag der G20 von der Weltbank vorangetrieben werden – sowie auf die Einbindung der ­Bauern in die Landnahme durch Vertragslandwirtschaft als Konzept politischer Steuerbarkeit. Negative Auswirkungen könnten so eingedämmt, positive gefördert werden, verkünden sie. Auf der anderen Seite fordern zahlreiche soziale Bewegungen und ihnen nahestehende zivilgesellschaftliche Organisationen wie beispielsweise die Menschenrechtsorganisation FIAN: „Stop land grabbing!“

Uwe Hoering

Literatur

Die gegenwärtig wohl beste Übersicht im deutschsprachigen Bereich: Collection of Data concerning „Land grabbing and Conflict“, erstellt vom EED: http://www.eed.de/fix/files/doc/110408_Land_grabbing_Sammlung.pdf, letzter Aufruf: 4. 10. 2011

Mehrere Websites informieren über die Entwicklung, davon unverzichtbar: www.farmlandgrab.org. Das Forschungs‑ und Dokumentationszentrum Lateinamerika (FDCL, http://land-grabbing.de) und der Themendienst http://www.globe-spotting.de/special_landgrabbing.html, letzter Aufruf: 4. 10. 2011, bieten Informationen, Texte und Links.

Die Forschungsarbeiten, die bei der International Conference on Global Land Grabbing im April 2011 vorgestellt wurden, geben einen guten Überblick über den Stand der kritischen Forschung: http://www.future-agricultures.org/index.php?option=com_content&view=
category&layout=blog&id=1547&Itemid=978, letzter Aufruf: 4. 10. 2011

Borras, Saturnino M., & Jennifer Franco (2010): Towards a Broader View of the Politics of Global Land Grab: Rethinking Land Issues, Reframing Resistance. ICAS Working Paper Series No. 001, Mai.

Cotula, Lorenzo; Sonja Vermeulen, Rebeca Leonard & James Keeley (2009): Land Grab or Development Opportunity? Agricultural Investment and International Land Deals in Africa. IIED, FAO & IFAD, ftp://ftp.fao.org/docrep/fao/011/ak241e/ak241e00.pdf, letzter Aufruf: 4. 10. 2011

GRAIN (2008): „Seized“! The 2008 Land Grab for Food and Financial Security. GRAIN Briefing, Oktober, http://www.grain.org/briefings/?id=212, letzter Aufruf: 4. 10. 2011

Hoering, Uwe (2011): „Die Wiederentdeckung des ländlichen Raumes als Beitrag zur kapitalistischen Krisenlösung“. In: Demirovic, Alex; Julia Dück; Florian Becker & Pauline Bader (2011) (Hg.): VielfachKrise. Im finanzmarktdominierten Kapitalismus. Hamburg, S. 111-128.