Die konservative Konterrevolution

Eine Analyse der politischen Entwicklungen in Ungarn

„Der Retter der Nation ist eine Person, die in den letzten 20 Jahren genau soviel gestohlen hat wie jede andere. Natürlich! Alle stehlen in Ungarn, es werden aber nur jene bestraft, die fürs Überleben stehlen, und nicht jene, die dadurch Wohlstand anhäufen.“
Szalay Tekla, die Großmutter des Autors, Budapest 2011

„Ein großes Kreuz ragt aus der Mitte Europas hervor, weil Ungarn tot ist. Es wird niemals irgendetwas Gutes in diesem Land geben!“
Endi, Einwohner des 8. Budapester Bezirks, Budapest 2011

Vor sechs Jahren verfasste ich einen Artikel über die möglichen Entwicklungen der politischen Rechten in Ungarn. (1)
In den darauf folgenden fünf Jahren wurden fast alle von mir beschriebenen Perspektiven übertroffen. Die gegenwärtig herrschende Klasse Ungarns begann, ein neues, effektiveres System der Unterdrückung zu installieren, das in den letzten anderthalb Jahren bereits spürbar war und sich in den kommenden Jahren fortsetzen wird.
Die Konturen zeichnen sich bereits deutlich ab. Der Gedanke, der hinter der Überschrift dieses Artikels steht, stammt von PublizistInnen der Opposition und bezieht sich auf Viktor Orbáns Regime, das sich selbst und seine Ideologie als „revolutionär“ legitimiert.
Der konterrevolutionäre Charakter dieses neuen Systems zeigt sich aber einerseits in den bisher verabschiedeten Gesetzen und andererseits in der neuen Verfassung, welche die Transformation von einer Demokratie hin zu einer Diktatur finalisiert.

Politik
Seitdem die demokratisch gewählte Orbán-Clique die Macht in Ungarn übernommen hat, wurde die Verfassung mehrmals geändert. Im April 2011 wurde jedoch eine neue Verfassung (gemeinhin als „Grundgesetz“ bezeichnet) formuliert, die den ungarischen Staat radikal umstrukturieren soll. Die Präambel, die den Titel „Nationales Glaubensbekenntnis“ trägt, versucht, das spirituelle und geistige Leben der Menschen in Ungarn zu definieren.
Hier erfahren wir, dass die Grundlage für Ehre und Koexistenz die Familie, Arbeit und die Nation und unsere wichtigsten Werte Loyalität, Glaube und Liebe seien. Ein christlich inspirierter Paternalismus bestimmt den gesamten Text: Der/die StaatsbürgerIn wird zu einem schlichten Subjekt degradiert, das sich loyal zu den Mächtigen verhält, an die strahlende Zukunft, die ihr/ihm die Mächtigen versichern, glaubt, und – um es zynisch auszudrücken – das Elend liebt. Gründe eine Familie, zeuge Kinder und opfere dein Leben mittels moderner Sklavenarbeit für die Nation!
Allerdings stellte sich der Prozess, eine neue Verfassung zu implementieren, auch in geografischer Hinsicht als problematisch dar, da das Gesetz die „von Natur verliehenen und von Menschen erschaffenen Werte des Karpatenbeckens“ (3) schützen will, wozu aber auch sieben andere Länder in der Region zählen. Des Weiteren werden die UngarInnen als kämpfendes Volk beschrieben, die durch Jahrhunderte des Krieges abgehärtet worden seien. Neben kriegerischen Formulierungen dieser Art wird erklärt: „Jeder ungarische Staatsbürger ist verpflichtet, die Nation zu beschützen.“ (4)
Es ist noch nicht klar, wie dieses „Beschützen der Nation“ von ungarischen Regierungen in der Zukunft interpretiert werden wird. Im Sinne der gegenwärtig existierenden Grenzregime des „Karpartenbeckens“ entsteht hier eine neue politische Abgrenzung.
Das neue Grundgesetz erklärt auch, dass die Heirat eine Gemeinschaft von Mann und Frau sei, und negiert somit alternative Familienmodelle. Auch das Leben des Fötus ab der Empfängnis müsse beschützt werden, wodurch der Weg frei gemacht wird für eine Illegalisierung von Abtreibung. Es wird auch erwähnt, dass die Zeit zwischen 1944 und 1990 „verfassungswidrig“ gewesen sei, wodurch die Verantwortung des ungarischen Staates an den organisierten Massakern an Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, Menschen mit Behinderung, sexuellen Minderheiten und politischen DissidentInnen negiert wird.
Es wird auch die Legalität der demokratischen oder staatssozialistischen Regierungen dieser Periode in Zweifel gezogen. Orbáns Regierung datiert die gesetzliche Kontinuität der historischen, ungeschriebenen Verfassung zwischen den Jahren 1001 (die Gründung des feudalen, katholischen Staates) und 1944 (die Besetzung Ungarns durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg). Sie versucht, aus den historischen Zeugnissen der feudalen Regimes traditionelle soziale Werte herzuleiten und sie als solche zu präsentieren.
Es lohnt sich auch, sich näher mit den fehlgeschlagenen Ansuchen Ungarns für einen nicht-ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat für Osteuropäische Länder auseinander zu setzen. (5)
Unter den wichtigsten Themen, die Ungarn dort verfolgen wollte, um aus der Welt einen besseren Ort zu machen, finden wir die oben bereits erwähnten „traditionellen Werte der Gesellschaft“, die wir wieder „in Einklang“ bringen müssten mit den „Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit“, was bedeutet, dass das Außenministerium davon ausgeht, dass diese beiden Bereiche bislang miteinander unvereinbar waren. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir aber zugeben, dass das sogar recht nahe an der Wahrheit ist.
In den letzten 1.000 Jahren herrschten Unterdrückung und Sklaverei in Ungarn, und es gab nur kleinere Versuche, die Freiheit zu erlangen – z.B. 1848, 1918-19, 1945-46 und 1956.
Der konservativen historischen Tradition folgend, sind Dinge wie Demokratie, Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus, Feminismus allesamt fremdartige Elemente in der Geschichte dieses Landes, obwohl sie zumindest seit 150 Jahren präsent sind.
Die Verfassung betreffend könnten wir auch das Konzept der „Förderung einer grünen Ökonomie“ im Lichte der international bekannten Giftschlammkatastrophe in Devecser und Kolontár analysieren oder uns die Frage stellen, warum die Gleichstellung der Geschlechter problematisch ist, wenn es darum geht, den „Zusammenhalt der Gesellschaft aufrechtzuerhalten“.
Werfen wir aber einen Blick auf die allgemeinen Parameter, nach denen die Struktur des Staates, gemäß der neuen Verfassung, umgestaltet wird. Viele Menschen haben die Auswirkungen einer Ein-Parteien-Herrschaft, und wie in ihr staatliche Institutionen und ihre Beziehungen zueinander umorganisiert werden, analysiert. János Kis, früher liberaler Parlamentsabgeordneter und postmarxistischer Philosoph, war in Zeiten des Staatssozialismus 20 Jahre in der Opposition. Er meint, die Verfassung „verspricht, die grundlegenden Rechte in Übereinstimmung mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu sichern, passt aber im Gegensatz dazu viele Grundrechte den moralischen Grundsätzen der christlichen Kirchen an und schwächt den Schutz der gefährdetsten Minderheiten. Sie verspricht, die unantastbaren und unveräußerlichen Grundrechte zu schützen, schränkt aber die Handlungsfähigkeit des Verfassungsgerichtshofes – der Hauptschützer dieser Rechte – derartig ein, dass er zu einer Requisite verkommt. Sie behauptet, dass die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn in Kraft sei, erlaubt dem Staat aber, seinen BürgerInnen rückwirkend zu schaden (7) und inhumane und entwürdigende Strafen zu vollziehen.
Nominell steht sie für die Gewaltenteilung ein, erlaubt es der regierenden Mehrheit aber gleichzeitig, alle Machtbereiche zu übernehmen, und macht sich somit unabhängig von den konstitutionellen Kontrollmechanismen. Gleichzeitig erlaubt sie den UrheberInnen dieser Verfassung, die Behörden zu manipulieren, um zukünftige Regierungen lahm zu legen.
Sie spricht von Demokratie, zementiert jedoch die politischen Vorlieben der gegenwärtigen Regierung auf Verfassungsebene ein, was sowohl eine gute Regierung, als auch eine verantwortungsbewusste Oppositionspolitik auf lange Sicht gesehen unmöglich macht.“ (8)
Für Gleichschaltung gibt es aber keinen Grund, denn die Leute, die von der Regierung bestellt wurden, können wichtige Posten sogar bis ins Jahr 2020 behalten. Davon betroffen sind Bereiche wie die Steuerbehörde, die Aktienverwaltung, im Justizapparat oder im Verfassungsschutz.

Die radikale Rechte
Eine ernst zu nehmende, organisierte Opposition kann sich nur auf der radikalen Rechten formieren, auch wenn die generelle Verschiebung nach rechts Begriffe wie „rechts“ und „rechtsradikal“ signifikant verändert. Die bekannteste paramilitärische Organisation Magyar Gárda (Ungarische Garde) sowie die größte Partei der radikalen Rechten – Jobbik –, die 2010 bei der Wahl 12 % der Stimmen erlangte, sind lediglich ein Schleier, der einen tobenden Abgrund verbirgt.
In Wahrheit gibt es nicht nur eine Ungarische Garde, sondern mindestens vier. Sie werden sowohl auf lokaler als auch auf landesweiter Ebene gegründet. Diese paramilitärischen Organisationen pflegen intensive Beziehungen untereinander und haben zig ehemalige und aktive Soldaten als Mitglieder. Auf Ebene der politischen Führer gibt es Rivalitäten zwischen den wichtigsten Faschisten wie Zagyva György Gyula – ein Jobbik-Parlamentsabgeordneter und Befürworter der Installierung eines Regimes, das er „Apostolisches Heiliges Königreich Ungarn“ nennen will – und Toroczkai László, der vor Tausenden UnterstützerInnen in aller Öffentlichkeit sagte, sie sollten „nicht zögern, wenn sie gezwungen sind, den Abzug einer Maschinenpistole zu betätigen“.
Diese Beiden sind die ehemaligen bzw. gegenwärtigen Anführer der größten nationalistischen Jugendbewegung Hatvannégy Vármegye Ifjúsági Mozgalom (64 Gespannschaften). Faschisten können Tausende UnterstützerInnen mobilisieren. Ihr Potential kann daran abgelesen werden, wie stark die Rechte und radikale Rechte bei den Anti-Regierungs-Protesten 2006 und 2007 involviert waren.
Ihre Entschlossenheit wurde auch bei den gegen Roma gerichteten Attacken zwischen 2008 und 2011 deutlich. In diesem Zeitraum gab es 50 schwere Übergriffe, wobei neun Menschen getötet wurden. (9)
Der Fall von Tatárszentgyörgy sollte besondere Aufmerksamkeit erhalten, wo ein Vater mit seinem 4 Jahre alten Sohn aus seinem in Brand gesteckten Haus flüchtete, um anschließend gezielt erschossen zu werden. (10)  
Es ist ein Fakt, dass der ungarische Geheimdienst vor derartigen Massakern diverse Verdächtige überwacht hatte (einer davon war gar ein vom Geheimdienst angeheuerter Militär).
In der Anklageschrift findet sich aber nichts darüber, woher diese Leute ihr Geld und ihre Waffen bekamen, obwohl die Waffe, mit der die tödlichen Schüsse abgegeben wurden, ein sehr seltenes Scharfschützengewehr ist, das nur durch Kontakte zur Polizei oder zum Militär angeschafft werden konnte.
Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass faschistische Terrorzellen, die diese Attacken ausführten, derartiges noch jahrelang machen können, weil einige rechtsradikale Führungspersönlichkeiten gute Kontakte zu Polizei- und Militärkreisen pflegen.
Auch der Geheimdienst wurde erst kürzlich neu organisiert.
Es wurde, ähnlich den Umstrukturierungen im Rahmen des Patriot Acts in den USA, eine neue Behörde geschaffen, die allen bereits existierenden Geheimdienstbereichen übergeordnet ist, die es ihr z.B. erlauben, ohne richterliche Erlaubnis Individuen oder Gruppen auszuspionieren.
In Ungarn wird jede fünfte Frau regelmäßig von einem Mann in ihrer Nähe geschlagen; 80 % der Bevölkerung geben offen zu, dass sie Roma und Sinti hassen; und 20 % stimmen mit Vorschlägen überein, man sollte diese in Konzentrationslager stecken oder sie aus Ungarn deportieren; einige hundert Menschen sterben jährlich an den Folgen häuslicher Gewalt, und die gleiche Anzahl an Menschen erfriert jeden Winter – häufig in ihren ungeheizten Wohnungen. Es wird noch eine Menge Blut fließen in diesem Land.

Ökonomie
Die ökonomischen Richtlinien der Diktatur bestehen aus drei Grundpfeilern: neue Formen der Massenarbeit zu schaffen, den privaten Konsum anzukurbeln und Eigentum zu verstaatlichen. Sie beschwören den wohlbekannten osteuropäischen Geist der wirtschaftlichen Unabhängigkeit.
Der Modellstaat für dieses historische Phänomen ist Weißrussland. Es lassen sich beängstigende Ähnlichkeiten zwischen der Anti-Korruptionskampagne von Diktator Alexander Lukaschenko der Jahre 1993-94 und jener von Viktor Orbán der Jahre 2010-11 ausmachen. Der Unterschied ist jener, dass Lukaschenko mit dieser Kampagne an die Macht gelangte und Orbán – bereits an der Macht – sie dazu nutzt, um seine politischen GegnerInnen aus dem Mitte-Links-Lager zu unterdrücken.
Die Regierung will eine „Arbeits-basierte Wirtschaft“, da, wie sie es in der neuen Verfassung formuliert hatte, „die Grundlage der Ehre einer jeden Person die Arbeit ist“. (11)
Die LohnarbeiterInnen des späten ungarischen Staatssozialismus hatten die Möglichkeit, abseits ihrer Jobs beim Staat, in unabhängigen oder tolerierten Kleinunternehmen mit verstaatlichten oder illegal privatisierten Produktionsmitteln Mehrarbeit zu leisten.
Wenn sie also in ihrer Freizeit mehr arbeiteten, konnten sie auch mehr Geld verdienen und sich dadurch mehr leisten. Kapitalistische Betriebe heute können den Grad der Ausbeutung beliebig nach oben schrauben, und es gibt keine festgelegten Preise für Konsumgüter mehr.
Die Menschen merken, dass sie länger und härter arbeiten müssen, gleichzeitig aber tendenziell ärmer werden. So verbreitet sich die Einsicht, dass ein „ehrlicher Tag Arbeit“ keine Ehre in sich trägt, nichts mehr wert ist.
Während die Akkumulation von Kapital und der technologische Fortschritt voranschreiten, reduziert sich der Bedarf an variablem Kapital.
Der Bedarf an Arbeit ist geringer, weshalb die Beschäftigungsrate des Wohlfahrtsstaates nie wieder erreicht werden kann. Das ist eine Tatsache, die die Regierung nur schwer schlucken kann.
Es sieht so aus, als ob der Széll-Kálmán-Plan (ein Langzeit-Wirtschaftsentwicklungsprogramm des Regimes) darauf beharrt, „eine Million Jobs in zehn Jahren zu schaffen“. Das ist ein Trick, denn dahinter steckt eine neue Form der wirtschaftlichen Rationalisierung.
Die Regierung setzt auf billige, vom Staat angebotene Arbeit im öffentlichen Dienst, kombiniert mit einer Strafregelung für ArbeiterInnen als Stimulus für die Wirtschaft.
Die Presse und „ExpertInnen“ warnen Orbán, dass dies nicht funktionieren wird. Der Präsident konterte, dass die Vorhersagen seines Scheiterns aus handelsüblichen Wirtschaftssachbüchern hergeleitet würden, was jedoch deshalb falsch sei, da seine ökonomischen Prinzipien noch in keinem Buch zu finden seien.
Die Regierung will Hunderttausende Arbeitslose im öffentlichen Sektor einsetzen. Gleichzeitig will sie Armen und Menschen mit Behinderungen ihre Beihilfen streichen, um sie so dazu zu bringen, auch harte Arbeit für einen minimalen Lohn zu machen. Die Hauptsektoren der Wirtschaft sollen die Landwirtschaft, die Energiewirtschaft und große nationale Investments sein. Das Ideal ist jenes, von der Auszahlung von Beihilfen zu erzwungener Arbeit zu gelangen. Der staatliche Niedriglohnsektor erführe dann ein großes Revival, so dass daraus ein lukratives Geschäft für den Staat würde.
Die Strafregelungen in diesem Bereich wurden in den letzten Jahren bereits mehrmals verschärft. Containern ist nun in einigen Teilen des Landes verboten; es ist illegal, obdachlos zu sein; die Polizei ist befugt, jemanden zu verhaften, wenn er/sie auf der Straße lebt oder bei Diebstählen von minder wertvollen Gegenständen oder bei Sachbeschädigung ertappt wird; Graffiti zu sprühen, Metall oder Holz zum Überleben zu sammeln, kann mit Gefängnisstrafen enden.
Gefängnisarbeit ist ein bekanntes Phänomen. Aber die Ideen eines „sich selbst erhaltenden Gefängnisses“, wie es die faschistische Jobbik-Partei fordert, sind nicht so umfangreich wie die der Regierung. Sie will Beschäftigte des öffentlichen Dienstes an private Firmen für diverse Projekte „leihen“ oder sie zur Beschäftigung „freigeben“.
Man stelle sich vor, dass zukünftig transnationale Konzerne nicht wegen der Steuererleichterungen nach Ungarn kommen, sondern weil ihnen hier Tausende Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, die nach afrikanischem Lohnniveau bezahlt werden, weil Langzeitarbeitslose und Ladendiebe  juristisch gezwungen werden können, derartige Arbeiten zu verrichten. Hier verspricht sich die Regierung enorme Steuereinnahmen. Sklavenarbeit ist also das wahre ungarische Ideal!
Die neue Verfassung betont, dass es die Pflicht (!) jedes Ungarn und jeder Ungarin sei, für die Gemeinschaft zu arbeiten. Mit dem 1. Januar 2012 wird so der Weg frei gemacht für die Wiedereinführung des Straftatbestandes „Arbeitsumgehung“, den es vor 1989 schon einmal gab. Gleichzeitig wird auch die neue Verfassung in Kraft treten sowie ein neues staatliches Arbeitsprogramm namens „START“. Das Arbeitsgesetzbuch wird neu geschrieben werden. Es wird mehr Arbeitsstunden beinhalten, weniger Bezahlung, weniger Rechte und mehr Pflichten. Ein Hauptproblem daran ist, dass Streiks beinahe verunmöglicht werden, indem ein Streik als illegal erklärt werden kann, wenn der Arbeitgeber denkt, dass die erforderlichen Mindestleistungen (12) nicht erbracht werden.
Wenn er/sie also dagegen ist, kann nicht gestreikt werden.
Einer der Hauptarchitekten hinter diesem neuen Gesetz ist der CEO (Chief Executive Officer) des ungarischen Zweigs des Tesco-Konzerns. Wenn weniger Sozialhilfe bezahlt wird und mehr ArbeiterInnen mehr arbeiten und daraus mehr Steuereinnahmen resultieren, wird der erforderliche wirtschaftliche Anreiz herbeigeführt – so die Hoffnung. Seit Januar 2011 gibt es in Ungarn eine Flat-Tax, von der lediglich Menschen profitieren, die über 300.000 Forint (ca. 1000 Euro, wobei der Mindestlohn 280 Euro beträgt) pro Monat verdienen, wobei gleichzeitig die Mehrwertsteuer auf 27 % erhöht wurde. Das bedeutet, dass der Profit, der von der erzwungenen Arbeit der Armen erwirtschaftet wird, den Reichen in Form von Steuererleichterungen gegeben wird.
Die Diktatur in Weißrussland fährt hier sozial einen entspannteren Kurs, weil sie durch die staatlich kontrollierten Preise den unteren Schichten etwas zurück gibt. Das ungarische Regime hingegen reserviert die Früchte der billigen Sklavenarbeit ausschließlich für die Ober- und Mittelschicht.
Der Mittelschicht – die bereits an der Kreditkrise zu leiden hat – werden billige Kredite angeboten, um Kleinunternehmen gründen zu können, wohingegen von den Leuten, die bereits große Schulden haben, vom Staat genaue Rückzahlungspläne abverlangt werden (die im Grunde genommen Darlehen sind, um die Schuldenrückzahlung so lange hinauszuzögern, bis die Legislaturperiode dieser Regierung zu Ende ist).
Die Banken werden gezwungen, eine Rückzahlung zu einem fixierten Wechselkurs zu akzeptieren.

Die ungarische Mittelschicht ist beinahe verschwunden
Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt bereits unter der Armutsgrenze (das sind mehr als vier Millionen Menschen), und diese Zahl wird mit massenhaften Räumungen von Wohnungen und der Finanzkrise noch weiter steigen. Die neuen Pläne zur Schuldenbekämpfung propagieren Abhängigkeit vom Staat anstatt Abhängigkeit vom Markt, womit versucht wird, potentiellen Widerstand zu verhindern. Physische Haft für die Armen und „Geldhaft“ für die Mittelschicht: jedem nach seinen Bedürfnissen.
Die Kosten des Schuldenpakets und der Reorganisierung des öffentlichen Sektors sollen teilweise durch die Verstaatlichung der privaten Pensionsvorsorge finanziert werden.
Dieses Geld wurde jedoch schon zur Tilgung von Auslandsschulden ausgegeben und um die größten ungarischen Mineralölkonzerne von russischen Investoren zurückzukaufen.
Das Orbán-Regime will jeglichen finanziellen Kontakt zum IWF und zur Weltbank bis November 2011 aufkündigen, indem es alle Schulden zurückzahlen will. Diese Anti-Schulden-Rhetorik ist jedoch mehr als zweifelhaft, wenn man bedenkt, dass sich die Regierung einen 1-Milliarde-Kredit bei der chinesischen Regierung besorgte – eben jene Summe, die sich die vorhergehende ungarische Regierung von der Weltbank geliehen hat. Andere strategische Partner sind u.a. Saudi Arabien und Iran. (13)

Kultur
Jedes kulturelle Institut, das nicht unter der Führung der Finanzaufsicht oder loyal zur Regierung steht, ist gezwungen zu schließen, ob es sich nun um Wissenschaft, Unterhaltung oder sonst etwas, was der Bevölkerung nutzt, handelt. Das kontroverse Mediengesetz, das eine neue und mächtige Behörde über die gesamte ungarische Medienlandschaft (mit einer neunjährigen Amtszeit für ihre Vorsitzende) installierte, ist nichts gegen das Medienmonopol, das gegründet wurde, und gegen die Säuberungskampagnen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, in der Filmbranche, im Theater, bei den Zeitungen, Museen und Think-Tanks. Beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurden auf einen Schlag 550 Leute entlassen. Alle waren liberal oder sozialistisch eingestellt, kein einziger nationalistisch oder Orbán-unterstützend konservativ. Seither sind die öffentlich-rechtlichen Medien tatsächlich „national“: Alles, was keine Verbindung zur nationalistischen Kultur hat, ist wertlos.

Demokratischer Journalismus verschwindet
Die meisten Internetportale und beinahe der gesamte Bereich der Printmedien ist dazu angehalten, die Meinung der Regierung zu unterstützen. Bei Zuwiderhandlung drohen hohe Geldstrafen und die Streichung von Förderungen. Als Begründung wird dann angeführt, sie würden nicht „ausgewogen“ berichten.
Das Tûzraktér-Kulturzentrum, in dem zahlreiche KünstlerInnenkollektive sowie der Morze-Infoladen beheimatet waren (14), musste geschlossen werden, da die Lokalregierung meinte, sie habe einen besseren Verwendungszweck für das Gebäude gefunden.
Es steht nun leer. Die beliebteste Freiluft-Bar der Stadt, Zöld Pardon, wurde diesen Herbst geschlossen. Nächstes Jahr wird an diesem Ort eine Denkmal-Anlage für die neue Verfassung errichtet.
Im Januar 2011 brach in einer überfüllten Diskothek Panik aus, wobei drei Menschen zu Tode kamen. Die Budapester Stadtverwaltung – auch in der Hand der regierenden Fidesz-Partei – ergriff diese Möglichkeit und zwang die Nachtclub- und Disco-BesitzerInnen, sämtliche Gäste und ihre privaten Daten zu registrieren.
Die Stadtregierung – so hieß es – brauche diese Daten zum Zwecke der Kontrolle der Menschenmengen in diesen Orten. Nun weiß die Regierung sogar, wer wohin geht, um Spaß zu haben.
Misstrauen der Jugend gegenüber ist auch die Motivation hinter einer Änderung des Unisystems.
Die traditionell eher kritischen Institute werden radikal zusammen gekürzt, während die eher technischen Wissenschaften gefördert werden.
Die Ziele der Regierung sind klar: Die Intelligenzia soll den Mächtigen dienen und am besten keinerlei dissidente Gedanken hegen. Es wird angestrebt, die Unis nur für die reichen Schichten zugänglich zu machen, indem die freie Bildung abgeschafft wird. Es gibt zwar immer noch die Möglichkeit, staatliche Stipendien zu beziehen, diese sind aber – je nach Studium – an einen Vertrag gekoppelt, der die Studierenden verpflichtet, für fünf Jahre im ungarischen Staatsgebiet zu arbeiten. Andererseits müssen die Stipendien wieder zurückgezahlt werden.
Im restlichen Bildungssektor wird die Kirche eine bedeutende Rolle spielen. Seit die Orbán-Regierung die Macht übernommen hat, wurden 56 Schulen in die Obhut der Kirche übergeben, wo die SchülerInnen dann theologischen Unterricht erhalten und ihnen gutes christliches Verhalten beigebracht wird. Das Bildungssystem wird zu einem Instrument, um die neue nationale Mittelschicht heranzuziehen. Es entsteht eine kulturelle Knechtschaft.

Dániel Vázsonyi

Der Autor lebt in Budapest und betreut dort die linke Bibliothek und den Infoladen Morze (http://morzeinfoshop.narod.ru). Er studierte Politikwissenschaften und Eastern European Studies an der Eötvös Loránd Universität Budapest.

Übersetzung aus dem Englischen: Sebastian Kalicha

Anmerkungen:
(1) Vázsonyi Dániel: Válaszút elõtt a magyar és a közép-európai jobboldal in Társadalom és Politika 2005/3. 164-172. old.
(2) Magyarország alaptörvénye, R) cikk, (3) pont
(3) Magyarország alaptörvénye, „NEMZETI HITVALLÁS”
(4) Magyarország alaptörvénye, XXXI. cikk, (1) pont
(5) www.kulugyminiszterium.hu/kum/hu/bal/Kulpolitikank/ensz_bt
(7) Hier sind beispielsweise Steuerrückforderungen gemeint. Ein weiteres Beispiel ist ein kürzlich veröffentlichtes, neues Detail der Verfassung, welches rückwirkend sämtliche sozialistische Parteien für die „Verbrechen des Kommunismus“ kollektiv verantwortlich macht. Jede Person, die irgendwann Mitglied einer sozialistischen/kommunistischen Partei war oder ist, kann also mit Inkrafttreten der neuen Verfassung dafür bestraft werden. Davon sind seit 1918 (!) fünf Parteien betroffen, inklusive der größten heutigen Oppositionspartei, der sozialdemokratischen MSZP.
(8) http://es.hu/kis_janos;alkotmanyozas_8211;_mi_vegre_iii;2011-04-06.html
(9) www.errc.org/cms/upload/file/attacks-list-in-hungary.pdf
(10) www.nytimes.com/2009/04/27/world/europe/27hungary.html
(11) Magyarország alaptörvénye in Magyar Közlöny 2011. évi 43. szám
(12) Damit sind Leistungen gemeint, auf die sich ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen verständigt haben, die auch während eines Streiks zu gewähren seien. Die neuen Gesetze geben den ArbeitgeberInnen jedoch de facto ein Vetorecht gegen Streiks, wenn diese behaupten, diverse erforderliche Mindestleistungen würden nicht erfüllt.
(13) Das ungarische Regime ist finanziell in einer verzweifelten Lage, weshalb es seine Ideen zur Besteuerung beinahe wöchentlich ändert.
(14) http://lmv.hu/infoshop


Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 365, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, 41. Jahrgang, Januar 2012, www.graswurzel.net