Aktiver Pazifismus heute

Seine Probleme, Formen und Inhalte in der Weltmilitärundwirtschaftsmacht Bundesrepublik Deutschland

Menschenrechte kriegerisch verteidigen? Zur Aktualität des streitbaren Pazifismus in der kapitalistisch globalisierten und hochgerüsteten Welt

 

I.

Nicht am 16., 17. und 18. März hat sich das achtjährige Kind im Manne WDN* anlässlich der Zerstörung Würzburgs und der malerisch herumliegenden Leichen in der dortigen Glacis entschieden, sodass der Mann später das Kind überlegt und erfahren bewahren konnte.

Erst allmählich bildete sich die durch kein zusätzlich schmückendes Beiwort beeinträchtigte pazifistische Überzeugung. Sie wurde zum Habitus.

Obwohl es keine irdischen Ab­soluta gibt – weder erkenntnistheoretisch, noch moralisch, noch im allemal kasuistisch-opportunistischen Verhalten -, kann vollends nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts kein Menschen als todbewegte Wesen gleich achtendes Wort für kollektive Gewalt wahrhaft gesprochen werden. Erfahrungen, als da waren und sind: Na­zismus und Stalinismus, die dyslogen Parallelerscheinun­gen; Jahrzehnte westlich geprägter, weltweit angewandte kolonial- neokolonialer Moder­nisierungstheorie und Entwick­lungspraxis; andauernde, ja vermehrte Ungleichheit unten den negativ vergesellschaftenden, ethnisierenden, durch­staateten und aggressiv mitein­ander konkurrenzgehetzten Ländern und Länderblöcken im kapitalistisch pulsierenden Hunger nach mächtigem Wachstum und wachsender Macht.

 

II.

Diese eindeutige Feststellung mitten in der Aggressionsdy­namik unserer Tage steckt voll der abgründigen Risiken.

Dem täglich katastrophisch aufgehobenen Risiko aktueller Gewalt. Dem in gleicher Weise täglich sich wiederholenden Di­lemma, so man überall präsente Sinne hat, zwischen der oft plausibel wirkenden „Lösung“, ein Ende des Schreckens mit Schrecken bewirken zu können, statt den Schrecken ohne Ende genozidal ausbluten und ausmorden zu lassen.

Hinzu kommt die nie ganz vergehende Hoffnung, dass Verdammte der Erde, sich gewaltig emanzipierend Luft schaffen, wenngleich keine allgemeine Befreiung nach dem Klassenkampf noch glaubhaft am geschichtlichen Horizont zukünftig winkt. Keine geschichtsphi­losophisch hypothesenporös fundierte Utopie darf heute noch Handeln leiten.

Also gibt es keine moralisch oder menschenrechtlich sauberen Hände. Ein mehrfaches Ver­haltensgemisch ist mit verschiedenen Akzenten zu üben peinlich. Gewaltknäuel sind im komplexen Hin und Her genetisch aufzudröseln. Solche sind gegenwärtig zu einfach zu entdecken. In afrikanischen Ländern, beispielsweise der „DR Kongo“ oder anders, Afghanistan oder, am schwierigsten: Israel/Palästina. Keine Letztur­sachen sind zu finden.

Keine linearen Kausalsequen­zen. Vor allem sind abstrakte Moralisierungen zu vermeiden. Deutlich aber dürfte jeweils werden: es gibt keine alexandrinischen Knoten-Schwert-Zer­schlagungslösungen.

Das pazifistisch Schwierigste ist geboten: blutige Widersprüche aushalten zu können, ohne das „Schwert zu nehmen“ als Mittel der angeblich letzten Hand. Zücken tun es fast immer die Kinder, die Jungen, herr­schafts- und kriegsalt zum Morden missbraucht.

 

III.

Pazifismus im Sinne des gelebten MathiasclaudiusKäthekoll­witzverzweiflungsschreis ist al­so alles andere als ein quietistisch gutes Gewissen unter himmlischem Friedensblau.

Vielmehr Geschichts- und Ge­genwartswissen – das wahre heilig nüchterne Wissen – das skrupulös Ereignisse zusam­mensieht und ergründet: Dass kollektive Gewalt, wie und wo sie immer geübt und gerechtfertigt werden mag, Schillers Fluch erweitert, der Magie enteignet, durch und durch men­schentümlich: „Das ist der Fluch des kriegerischen Tuns, dass es fortdauernd schlafendwachende Gewalt muss bewirken.“

Kollektive Gewalt ereignet sich nie voraussetzungs- und folgenlos. Kassandra, von Christa Wolf, der ein wenig älteren Schwester gestaltet, wusste es. Alle kollektive Gewalt, in Form des pseudoneuen Krieges zu­mal, reicht lange kriegsheckend zurück. Sie wirkt bis zum nächsten Krieg in innerer und äußerer Rüstung nach. Sie bereitet denselben. Kriege waren und sind totalitär, auch als „Kabinetts- und Staatenkriege“ verharmlost. Damit sie das Unwort und die Untat unserer europäisch angelsächsischen Zeit, „humanitäre Interventionen“ legitimieren und nation-buil­ding als nation-killing.

Nebenher schlachtet man, randständig als Ferment von Zivilisation und Menschenrechten gutgesagt, europäisch „Untermenschen“ anderer Länder progressiven Muts. Der ICC sorgt nun für das von einseitigen Interessen gestrickte Leichentuch einer Weltgerechtigkeit. Insgesamt arbeitet man globa­liter mit den Waffen des Kapitals indirekt, dem schattengleich die direkten, längst ihrerseits abstrakt gewordenen Waffensysteme folgen.

Von den Drohnen bis hin zu den Atombomben wirksam beson­ders vor ihrem Einsatz. Anders gesagt: kollektive Gewalt ist nie auf Formen und Funktionen „chirurgischer Operationen“ begrenzt. Und setzte man voraus, dass die Instrumente und Fertigkeiten chirurgischer Operationen problemlos dem angeblich aseptischen Fortschritt wissenschaftlich heilsamen Fortschritts gemäß entwickelt und fortgeschrieben würden.

Nicht nur Blut ist ein besonderer Saft. Kollektive, gegebe­nenfalls staatlich legitimierte Gewalt als Ausdruck und Abbruch menschlichen Handelns setzt heute mehr denn je voraus, dass sie akkumuliert, modernisiert und dauernd zu handen sei. Das, was man eingeschränkt Aufrüstung und die Präsenz militärischer Infrastruktur längst vor aller Verwendung nennt. Gewalt penetriert allseits als der die Menschen und ihre Organisationen in ihrem Umfang nachhaltig sozialisierende Faktor. Er prägt nicht nur alle Innen- und Außenpolitik. Ihr ist letzten Endes durchgehend die Gewalt als Transpolitische Ressource zuhanden. Sie besitzt, nur dem Anscheine nach paradox, als emphatisch physische letzten Endes tötend vernichtende Gewalt, die Funktion einer höchst wirksamen Metaphysik der Politik.

Diese ist u. a. greifbar in der konstitutiven Bedeutung des Ausnahmezustands am Rande und unter allen Normen (der Verfassung und des Rechts). Anders gesagt: ebenso wohl innere bürgerliche, prinzipiell an Gleichberechtigung orientierte und sie realisierende Politik, als auch und vor allem internationale, völkerrechtlich ausgerichtete Politik, in Zeiten globaler Interdependenz zumal, kann nur zur  P O L I T I K  sich emanzipieren, notabene von ih­rem kriegerischen, von ihrem genozidalen Sklavendasein, wenn Kriege nicht mehr die Fort­setzung der Politik mit anderen Mitteln sind. Sonst wird, mehr als Clausewitz einräumte, vor allem mehr als alle die Politiker, ihre politikwissenschaftlichen „Dominikaner“, als canes domi­nationis, und alle BürgerInnen  zugeben oder ahnen, „Politik“ immer vor allem Krieg mit sublimeren Mitteln imitieren.

 

IV.

Kurz und vor dem Hintergrund komplexer Einsichten gilt klipp und klar: Rüstung, Militär und Krieg, Bevölkerungen in Waffen einerseits und sei es „nur“ kognitiv und habituell, Menschenrechte und Demokratie andererseits schließen einander aus. Da kann man mit Tuchol­sky keine „kleinen Kompromisse“ machen. Konsequent stellt die Behauptung „gerechter Kriege“ eine individuelle und kollektive Täuschung dar, geschehe sie auch, wie meist, in der Form einer Selbsttäuschung. Ebenso sind Stellver­treterkriege zugunsten einer besseren Gegenwart oder Zukunft nicht zu rechtfertigen. Es sei denn letztlich mit Gewalt. Ich verzichte darauf auch „nur“ die Kriege Revue passieren zu lassen, die in meiner einigermaßen bewussten Lebenszeit geführt worden sind mit humanen Kosten und Folgen angesichts derer wir alle todesgeschockt erstarrten und nur noch traumatisch posttraumatisch eine Art dahinsiechendes Leben führen könnten. Wir werden ihrer jedoch nie auf einmal inne. Davor schützt uns das Lebenssieb un­seres nachhaltig erodierenden Gedächtnisses. „Meine“ Kriege begännen mit dem vom nationalsozialistischen Deutschland, meinen  Eltern, mir schier dreijährig am 1.9.1939 um 5.45 Uhr mit dem Überfall auf Polen inszenierten 2. Weltkrieg. Ihn habe ich kindlich wohl erst wahrgenommen, als meine Mutter um ihren 1942 gefallenen Bruder weinte und als mir die Vorstellung knäblichen Spaß bereitete, herabtropfende Bomben könnten Mainwasser aufspritzen lassen.

Am Exempel des ungeheuerlichen II. WK und der „Endlösung der Judenfrage“ in ihm fiele es am schwersten, das Argument hinterher durchzuhalten, Kriege, auch Kriege gegen ein zur Todesschwadron umfunktioniertes, Todesköpfe als Herr­schaftszeichen wählendes na­zistisches Land und seine überwiegend mehrheitliche Bevölkerung, seien nicht als „gerechte Kriege“ zu adeln. Ich gehe an dieser Stelle nicht darauf ein. Jedes Schlagwort stopfte als Bumerang den geschwätzigen Mund. Ich sage nur, dass ich, umzirkte man den Kontext weiter mein zentrales Argument durchhalten könnte: es gibt keinen human rechtfertigbaren Krieg heute. Mir geht es aller­dings nicht darum, von der Gegenwart und heute möglichen Einsichten aus, die uns bekannten menschlicher Vergangenheiten antihistorisch abstrakt zuzurichten. Pazifistisch gilt wie auch sonst zuerst: Hic Rhodos hic salta!1 

 

V.

Wenn man meiner Überzeugung folgt, dass sich Krieg, schon in seiner Inkubation, De­mokratie und Menschenrechte ausschließen, die Letztgenannten als striktes Tandem verstanden – und nicht erst, wenn der kriegerische Not- oder Ausnahmezustand eingetreten ist –, dann tritt die pazifistische ´Reserve´ in einem permanenten Unruhestand. Dann wird nämlich einsichtig, dass der Pazifismus als Kern der Menschenrechte in selbstredend radikaldemokratischer Form und die Menschenrechte als Mutterboden des Pazifismus eine Politik der ersten Person Singularis und Pluralis in panoptischen, mehr noch in panergetischen und/oder panpraktischen Sinn bedeutet. Sprich: es gibt kein humanes Gebiet, das ohne – küchenlateinisch – habitus pa­cificus zu betreten und in dem nicht mit solchen habitus zu handeln wäre. Sobald man nach Kriegsursachen nicht primär waffenzählerisch oder heute in neoliberal kapitalismusexpan­siver, sog. modernistischer Perspektive Ausschau hält, kann man ein hier nur anzutupfendes Dreifaches wissen. Zum einen: Konflikte und Aggressionen unter Menschen sind menschlich. Diese Einsicht geht weit über Freuds bedenkenswerte Antwort hinaus, mit der er Einsteins Frage erwiderte: ob denn – mit Kant zugespitzt zu reden – „ewiger Frieden“ unter Menschen ausgeschlossen sei.

Zum zweiten: die anhaltende Chance, kollektive Gewalt in heutigen und zukünftigen Zeiten in überfreudschem Sinne zu sublimieren, manchen gesellschaftliche Organisationsfor­men in der Fülle der Gesellschaften erforderlich.

Sie haben vor anderem, den Hauptskandal von Menschenrechten und Demokratie dauernd zu bearbeiten und abzubauen zu suchen: die nicht qua Geburt und individuellem Werden fort und fort gehäufte, herr­schaftsvielfältig ausgebeutete, selbst herrschaftsförmige Ungleichheit unter den Menschen.

Zum dritten: Menschen und Gesellschaften wandeln sich und lernen, sie entlernen auch, wie sie vergessen. O schlimme, denkmalsgefüllte und gerade darum vergessende BRD!

Darum ist die Aufgabe menschlich unendlich, Gesellungsfor­men der Menschen zu finden, zu stabilisieren, erneuernd zu verändern, die auf dem Plafond struktureller Gleichheit vielerlei Formen differenzierten Zusammenlebens anstrengend lustig erproben, fast Chaplins „Goldrausch“ gleich. Parallelgesell­schaften, Organisationsformen im Sinne von Diasporai u. ä. m. Das wäre, gegensätzlich zur kapitalistisch, wissenschaftlich, technologischen Innovations­tollerei humaner Hybris des Strebens der Edelsten, der Phantasiereichen, der sozialen Imaginationen wert.

 

VI.

Pazifismus im Kontext materialisierter Menschenrechte sind also ein umfassendes politisches und je spezifisches Ge­samtprogramm. Darum gilt: wer von Pazifismus schweigt, kann von Menschenrechten nicht reden und umgekehrt. Das heißt aber zugleich: die Aufgaben sind riesig. Ihrer angesichtig gilt es den Forderungen des Tages zu genügen. Auch diesen kann nur gemäß der Einsicht Gan­dhis gefolgt werden: der Weg ist das Ziel, sprich die Art, wie man ihn mit lebenslangem Atem geht. Mittel und Ziel müssen übereinstimmen. Die Träume ei­nes anderen Deutschland inmitten eines anderen Europa haben nicht lange gewährt.

In der Regel waren sie nicht ge­nug durchdacht. Sie wurden auch nur von Minderheiten angestrebt. Beispielsweise eine Bundesrepublik ohne Bundeswehr. Lange erfroren sie im Kalten Krieg. Sie wurden innen und außen Feind verstellt. Als sich dann 1990 eine Chance zu bieten schien, war die Alt-BRD viel zu staatkonventionell, liberaldemokratisch magersüchtig und kriegerisch feindverstockt. Ein anderes Europa ging – strukturell antidemokratisch und funktionell als versuchter kapitalistischer Großraum in der EU – den krisengeschüttelten Gang der Konkurrenz der Machtblöcke im Kontext organisierter Verantwortungslosigkeit des Weltmarkts.

Uns heutigen tut Not, den gegenwärtigen Gefahren einer Weltmilitärundwirtschaftsmacht Bundesrepublik Deutschland im Umkreis von EU und NATO, soweit immer wir können und wo immer möglich, mit aufklärenden Störungen entgegenzutreten. Radikal. Indem wir dies tun, sollten wir uns auch in der Erinnerung an die vielen Personen und Gruppen stärken, die zuerst der „Wiederaufrüstung“ Anfang der 50er Jahre opponiert haben; die danach über den „Antiatomkampf“ die britisch erfundenen Ostermärsche einführten; bis die Opposition gegen die „Nachrüstung“ expandierte und zur ersten Etappe des Komitee führten. Der Widerspruch ist schwer auszuhalten: zwischen den dauernd lauernden und dauernd gegenwärtigen Kriegsgefahren und ihren Interessenhintergründen und dem demonstrativ Wenigen, das wir auf die Beine bringen.

Dennoch und gerade deswegen: Mehr denn je gilt in der radikalen antimilitaristischen Opposition nicht müde zu werden und zugleich den Kampf gegen Gewalt mit dem Kampf gegen Ungleichheit zu verbinden. Und das zuerst in der BRD. Weil wir dort in der Regel am ehesten phantasievoll Sand im Getriebe sein können.

 

Postskriptum:

Der 8jährige, der am 16.3.1945 am Rande der Hindenburgstraße, wohlbemerkt, das mehr­geschossige Haus niederbrennen sah, Stabbrandbomben auf Schritt und Tritt, rauchvergif­tete Menschen wankten dahin, Tote gesellten (!) sich am nächsten Vormittag nach wa­genremisiger Nacht hinzu, dieser Achtjähtige, Nazikind, kann nun als alter Mann über der Mitsiebziger Greisenschwelle, von der erfahrenen Hoffnung durchdrungen und Angst, der docta spes Ernst Blochs, keine albernen Hofferei, kann schlechterdings nicht verstehen, dass das Land, in dem er infolge der Gnade der späten Geburt lebt, dass die Bundesrepublik Deutschland kriegsge­rüstet weltweit in ihrem Interesse, Kriege zu führen, erpicht ist. Dieser Acht- und Fünfund­siebzigjährige fühlt und benimmt sich darob als Displaced Person, sympathievoll mit all den vielen sozial ortlosen Dis­placed Persons dieser Welt.

Und er opponiert der Ge­schichts-, der Gegenwarts- und der Zukunftsvergessenheit mit all seinen schwachen, immer schwächer werdenden Kräften in jeder radikalen und das heißt zugleich gewaltfreien Form. So­lange der Atem reicht.

 

Wolf-Dieter Narr

 

Anmerkung der GWR-Redaktion:

* Am 18. März 2012 hat Prof. Dr. Wolf-Dieter Narr (WDN) im Rahmen des Komitee für Grundrechte und Demokratie-Seminars „Pazifismus“ in Berlin zum Thema referiert.

 

Fußnote

 1 lat. Sprichwort: „Hier ist Rhodus, hier springe!“, d. h. hier gilt es, hier zeige, was du kannst. Der Ausspruch beruht auf einer Äsopischen Fabel (Nr. 203), wo von einem Prahler erzählt wird, der sich rühmte, in Rhodus einst einen gewaltigen Sprung getan zu haben, und sich dabei auf Zeugen berief, die es dort mit angesehen. Darauf habe einer ihm geantwortet: „Freund, wenn es wahr ist, brauchst du keine Zeugen; hier ist Rho­dus, hier springe!“ (Meyers Großes Konversations-Lexikon)

 

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 368. 41. Jahrgang, April 2012, www.graswurzel.net