Das Wunder drüben waren die Frauen

Über "soziokulturelle Bestände Ostdeutschlands" und das sozialistische Patriarchat

1965 erschienen in der Zeitschrift Constanze Reportagen, die später zu dem Buch "Das Wunder drüben sind die Frauen" zusammengefasst wurden. Die beiden Autoren, Werner Commandeur und Alfred Sterzel, wussten um das »Fräuleinwunder« in der Bundesrepublik und interessierten sich deshalb für das Frauenleben in der DDR. »Wir trafen drüben viele Frauen, die bereits Karriere gemacht hatten. Unaufgefordert und völlig überzeugend erklärten sie: ›Wir können uns heute nicht mehr vorstellen, nur noch die Rolle als Frau und Mutter einzunehmen. Und glauben Sie uns, an den häuslichen Herd kehren wir nie wieder zurück.‹« (Commandeur/Sterzel 1965, 129) Die Autoren machten aus ihrer Verwunderung keinen Hehl, auch nicht aus der Tatsache, dass sie selbstverständlich westdeutsche Frauenbilder als Maßstab im Kopf trugen.

Auch Wolfgang Plat, der einige Jahre später im Auftrag der ARD in Halle und Umgebung Gespräche führte, zeigte sich überrascht: »Der Sozialismus zerstört die Familie nicht. Aber mit der Entwicklung der Frau als Mensch, als Mensch in der Gesellschaft, wandelt sich die Familie und wird sich [...] mit zunehmender Schnelligkeit so verwandeln, dass sie im Jahr 2000 mit der Familie alten Stils keine Ähnlichkeit mehr haben wird.« (1972, 15) Auch Plat verweist auf den Maßstab, den er bei seinen Leserinnen und Lesern vermutet: »Freilich: Wer täglich die Sexmieze und die Super-Mutti als die Frau im Sinne christlich-deutscher Wertvorstellungen propagiert, dem muss angesichts einer emanzipierten, klugen, selbstbewussten Frau das kalte Grauen kommen.« (10)

Die beiden Bücher erschienen im Kalten Krieg. Die Mauer sollte für einen ›störfreien‹ Aufbau in der DDR und den anderen sozialistischen Ländern sorgen. Inzwischen sind Mauer und sozialistisches Lager Geschichte. Commandeur/Sterzel hatten für diesen Fall vorausgedacht: »Gäbe es [...] schon morgen eine Wiedervereinigung, man könnte ihr ruhig entgegensehen, wenn davon nur die Frauen betroffen wären.« (1965, 125) Denn »mit Frauen allein, ganz gleich ob Kommunistinnen oder nicht, ließ sich reden. Bei aller Ideologie blieb ihnen immer noch ein reales Empfinden für Tatsachen« (103f).

Vom Beitritt der DDR zur Bundesrepublik – 25 Jahre später – waren auch Männer betroffen. Gerade deshalb fiel das reale Empfinden der Frauen für Tatsachen auf. So befragte das Institut für Sozialdatenanalyse Berlin zwischen Mai 1990 und Mai 1993 mehrfach ostdeutsche Frauen und Männer nach ihrer generellen Haltung zu den gesellschaftlichen Umbrüchen. Während im Mai 1990 Männer und Frauen noch fast gleichermaßen (um 80 %) ihre Zustimmung und damit ihre hohen Erwartungen signalisierten, waren es drei Jahre später nur noch 51 % der Männer und 39 % der Frauen, die sich »im Großen und Ganzen« mit der politischen Entwicklung einverstanden erklärten. Ein Ergebnis, das sicherlich nicht nur auf das realere Empfinden der Frauen für Tatsachen verweist, sondern auch auf sehr unterschiedliche Tatsachen, mit denen Frauen und Männer im Osten konfrontiert worden waren. Allerdings sorgten die weiblich-östlichen Orientierungen und Verhaltensweisen durchaus nicht für Gelassenheit im Einigungsprozess, wie Commandeur/Sterzel prognostiziert hatten, sondern mitunter eher für öffentliches ›kaltes Grauen‹.

Stefan Hradil gehörte damals zu den wenigen Vertretern der etablierten Sozialwissenschaften, die bereits in der ersten Hälfte der 90er Jahre an der »scheinbaren Sicherheit, dass Ostdeutschland geprägt sei von ›veralteten‹, für die Zukunft untauglichen Mentalitäten« (1995, 5), zweifelten. »Einige soziokulturelle Bestände Ostdeutschlands, die heute noch ›Altlasten‹ [...] darstellen, könnten sich als Zukunftspotenziale erweisen. Sie könnten vielleicht sogar dazu dienen, einen etwas anderen Weg in die ›postindustrielle Gesellschaft‹ einzuschlagen und hierauf diejenigen Länder zu überholen, die den ›normalen‹ Gang westeuropäischer Modernisierung gehen.« (Ebd.) Frauenerwerbstätigkeit und Kinderkrippen gehörten nach Hradil ausdrücklich zu diesen soziokulturellen Beständen.

Als einige Jahre später die ersten Bilanzen gezogen wurden, war nach meiner Erinnerung keine Rede mehr von Zukunftshoffnungen aus dem Osten. Die Frauen hätten ihre Distanz zum Feminismus nicht überwunden, und »der Feminismus [...] konnte sich auf Grund der Erfahrung des Kommunismus [sic] nicht normal entfalten« (Watson 1999, 676). Die Ostdeutschen hätten sich zu wenig um die erforderliche »psychische Infrastruktur« bemüht. Private Bedürfnisse seien ihnen immer noch wichtiger als berufliches Fortkommen, und »Personen mit einer privatistischen Perspektive« hätten nun einmal geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt (Diewald 1997, 20ff).

Es dauerte dann noch etwa zehn Jahre, bis die Bundesregierung in ihrem jährlichen Bericht zur deutschen Einheit erstmals feststellte, dass es bezüglich »weiblicher Erwerbsneigung«[1] eine Annäherung des Westens an den Osten gibt. Auch mit Blick auf öffentliche Kinderbetreuung verloren in den letzten Jahren konservative Auffassungen an Bedeutung. Sogar bei den Meinungen zur berufstätigen Mutter oder zur DDR-Familie – Rückzugsort bzw. »Gegen-Gesellschaft« (Watson 1999, 682) oder Versorgungsgemeinschaft (vgl. Scheller 2004) – relativierte sich das »kalte Grauen«. Der vor wenigen Monaten erschienene Erste Gleichstellungsbericht der Bundesregierung reflektiert ganz selbstverständlich deutliche Ost-West-Unterschiede bei familiären bzw. weiblichen Entscheidungen und begründet diese mit den unter-schiedlichen frauenpolitischen Traditionen (Gutachten 2011, 101). Nicht nur, dass es im Osten die freiwillige Hausfrau nach wie vor so gut wie nicht gibt, es gibt auch keinen Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau der Mutter und Kinderlosigkeit. Während für die alten Länder immer noch gilt, dass vor allem hoch qualifizierte Frauen auf Kinder verzichten, ist in den neuen – genau wie in der DDR – dieser Trend nicht erkennbar. Im Gegenteil, es sind gegenwärtig im Osten gerade die hoch gebildeten Frauen, die die Mütterrate der letzten DDR-Jahre wieder erreicht haben. Auch Frauen, die eher zum unteren Teil der Bildungsskala gehören, verhalten sich im Osten völlig anders als im Westen. Im Osten gehören sie eher zu den Kinderlosen, im Westen eher zu den Kinderreichen. Geht man davon aus, dass Frauen, die heute im gebärfähigen Alter sind, bestenfalls Kindheitserinnerungen an die DDR haben können, so ergibt sich, dass im Osten stabile Familien-Orientierungen vorherrschen – Verhaltensweisen, die sich auch auf die junge Generation übertragen und die, wie alles Familiäre, mehr durch Frauen als durch Männer geprägt werden. Vielleicht kann man für den Osten von einer spezifischen Familienphilosophie sprechen, die die »Erwerbsneigung« gleichrangig neben die »Mutterneigung« stellt. Zweifellos ein soziokultureller Bestand, der zu Unrecht in die Nähe zukunftsuntauglicher Mentalitäten gerückt wurde – von »privatistischen« Perspektiven ganz zu schweigen.

Der Chancenreichtum, auf den sich DDR-Frauen berufen konnten, ist schon lange als »Gleichstellungsvorsprung ostdeutscher Frauen« (Geißler 1993, 65) im Gespräch. Aber taugen die mit DDR-Frauenpolitik und DDR-Familienpolitik verbundenen und bis heute wirksamen soziokulturellen Bestände als Zukunftshoffnung? Wohl nur, wenn gleichzeitig die Grenzen dieser Politik bestimmt werden, wenn auf das nicht Erreichte hingewiesen wird, sowohl auf das noch nicht Erreichte als auch auf das nicht Angestrebte. Wenn gleichzeitig das sozialistische Patriarchat auf die Tagesordnung gesetzt wird.

Zu Matriarchat und Patriarchat sind gesicherte Aussagen rar. Es gibt keine unumstrittene Theorie der Entstehung des Patriarchats, insofern auch keine unumstrittene Definition. Gerda Lerner schreibt: »Das System des Patriarchats ist ein historisches Konstrukt. Es hat einen Anfang, und es wird ein Ende haben. Seine Zeit scheint zur Neige zu gehen, denn es dient nicht mehr den Bedürfnissen von Männern und Frauen, und seine unauflösliche Verstrickung mit Militarismus, hierarchischer Struktur und Rassismus ist eine unmittelbare Bedrohung für den Fortbestand des Lebens auf unserem Planeten.« (1991, Umschlagtext) Eva Cyba kommt zu dem Schluss, dass alle Patriarchatsdefinitionen auf soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und auf asymmetrische Machtstrukturen verweisen. Und auf die Tatsache, dass es sich dabei nicht um ein natürliches Phänomen handelt (2004, 15). Noch vielfältiger sind die Auffassungen, die zur Frühgeschichte der Menschheit im Umlauf sind. Sie reichen von der Vermutung, es habe nie ein Matriarchat gegeben (vgl. Fisher 2000, 202), bis dahin, dass matriarchale Muster bis heute die Gesellschaft prägten, dass es also nie einen Bruch gegeben hätte (vgl. Kuhn 2010). Dazwischen liegen Auffassungen, nach denen weltweit matriarchale Gesellschaftsformen existierten, die sich in Enklaven bis in die Gegenwart erhalten haben (vgl. Göttner-Abendroth 2004, 21).

All das wäre für den Rückblick auf die DDR uninteressant, wenn das real-sozialistische Konzept nicht eine bestimmte Auffassung zur Patriarchatsentstehung und -überwindung enthalten hätte. Bekanntlich ging Friedrich Engels mit Bezug auf damals aktuelle Forschungen von Bachofen und anderen davon aus, dass es erstens in der Menschheitsentwicklung eine »Herrschaft der Weiber«[2]2 gab und dass zweitens mit der Entstehung von Klassen die Männerherrschaft entstanden sei. »Der erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen mit der Entwicklung des Antagonismus zwischen Mann und Weib in der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche.« (MEW 21, 68) So gesehen hatte es seine Logik, dass mit der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln – Fernziel: klassenlose Gesellschaft – auch die patriarchale Familie und das hierarchische Verhältnis zwischen Mann und Frau abgeschafft ist. Oder, wie es August Bebel ausdrückte, dass mit dem Ende der Klassenherrschaft auch die Herrschaft des Mannes über die Frau endet (1879/1954, 575).

Einige Linke in der Bundesrepublik haben daraus die These vom Haupt- und Nebenwiderspruch abgeleitet. In der DDR gab es diese Begrifflichkeit nicht, wohl aber die entsprechende Politik. Die Frauenfrage war in die Klassenfrage, in die »soziale Frage« eingeordnet, was in der praktischen Politik nicht selten eine Unterordnung bedeutete. Frauenbefreiung galt als Bestandteil der Arbeiterbefreiung.

Gerda Lerner konnte in den 1980er Jahren nachweisen, dass patriarchale Strukturen sehr viel früher entstanden sind als die Klassengesellschaft. Sie war zunächst von marxistischen Positionen ausgegangen, kam dann aber zu dem Schluss, dass die männliche Kontrolle über weibliche Sexualität bzw. die »Aneignung der sexuellen und reproduktiven Kapazität der Frauen durch die Männer« (1991, 26) Ausgangspunkt patriarchaler Gesellschaften war. Lerner war sich der Brisanz dieser Forschungsergebnisse für die Frauenpolitik der damals noch existierenden sozialistischen Länder bewusst. Denn wenn Männerherrschaft sehr viel älter ist als Klassenherrschaft, dann muss sie nicht ins Wanken geraten, sobald die Klassenstruktur infrage gestellt wird. Dann stimmen die Ausgangspunkte der sozialistischen Frauenpolitik nicht, und ein sozialistisches Patriarchat ist sehr wohl möglich.

Als Anfang der 90er Jahre Frauenerfahrung Ost auf Frauenerfahrung West traf, kam eine Debatte zu diesem Thema nicht zustande. Die Unterschiede zwischen der sozialistischen und der nun dominierenden kapitalistischen Männerherrschaft waren so groß, dass sich aus ostdeutscher Sicht eine rückblickende Kritik an patriarchalen Strukturen – hier wie dort – zu verbieten schien. Deshalb trafen Thesen wie »Ein bisschen Männerhass steht jeder Frau« (Eifler 1991) oder »Sozialistische Politik wurde in ihrer staatlichen Praxis zum schlechteren Spiegelbild des kapitalistischen Patriarchats« (Jansen 1991, 43) im Osten nicht nur auf Unverständnis, sondern auch auf Ablehnung. Auf allen Ebenen wurden Ostdeutsche als unvollständige Westdeutsche dargestellt. Da musste die Aufforderung an Ostfrauen, sich nicht als unvollständige Männer wahrzunehmen, ins Leere laufen. Hinzu kam, dass westliche Feministinnen im Allgemeinen Patriarchatskritik mit Kapitalismuskritik in Zusammenhang brachten. Ihre These: Kapitalismus funktioniert nur zusammen mit Patriarchat, weil die kapitalistische Ausbeutung geschlechtsspezifische Arbeitsteilung braucht (vgl. Haug 2008, 315ff). Diese These ist sicherlich richtig, aber für die Analyse von DDR-Verhältnissen nicht hilfreich. Mir scheint, es ist erst jetzt an der Zeit, dass ostdeutsche Frauen sich zu Wort melden. Der bisherige Feminismus ist zu ergänzen: Patriarchat funktioniert auch ohne Kapitalismus.

Die bis heute spürbare andere Frauen- und Familienpolitik der DDR hat das Patriarchat gezügelt, aber nicht infrage gestellt. Die unterschiedlichen Traditionen in Ost und West, die im Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung zur Sprache kommen, sprechen nicht gegen ebenfalls vorhandene gemeinsame Traditionen. In Ermangelung wohl definierter und geprüfter Indikatoren, mit denen patriarchale Gesellschaften gemessen werden könnten, verweise ich auf sechs Aspekte.

1. Es gab auch in der DDR eine unangefochten hierarchische Sicht auf Öffentlichkeit und Privatheit. Die in der Öffentlichkeit geleistete Arbeit erfuhr eine sehr viel höhere Wertschätzung, nicht nur gemessen an der Bezahlung. Nur die in der Öffentlichkeit erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen wurden mit gesellschaftlichem Fortschritt in Zusammenhang gebracht. Zu Öffentlichkeit und Privatheit, verstanden als Kategorien ausschließlich der bürgerlichen Gesellschaft, gibt es seit den 60er Jahren in Deutschland intensive Debatten und zahlreiche Publikationen. Zum Mann gehört das Öffentliche und Relevante, zur Frau das Private und Unwichtige. Inwieweit diese Zuordnung auch für Gesellschaften gilt, in denen die Frauen massenhaft in die Öffentlichkeit geholt wurden, ist nicht erforscht. Es fehlen auch Aussagen zur Trennwand zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, die in der westlichen Soziologie als »strukturelle Rücksichtslosigkeit des Öffentlichen gegenüber dem Privaten« (vgl. Kaufmann 1990) bezeichnet wird und die in der DDR bekanntlich sehr viel durchlässiger war. Was im privaten Bereich passierte, unterlag in der Öffentlichkeit keiner Schweigeverpflichtung. Seit den 60er Jahren waren die Arbeitsstätten »soziale Orte«, an denen das ›Private‹ präsent war: Kindereinrichtungen, Essen, medizinische Versorgung, Urlaubs- und Freizeitangebote, Kosmetik, Friseur usw. Doch hatte die durchlässigere Trennwand nicht nur eine helfende, sondern auch eine kontrollierende Funktion. Immer gemäß dem Grundsatz, dass in der Öffentlichkeit entschieden wird, was auch im Privaten erstrebenswert ist. Als Beispiel dafür könnten die Debatten um den Erziehungsstil dienen, die seit den 50er Jahren geführt wurden, zunächst als parteipolitische Forderung (vgl. Ulbricht 1958/1968, 165), später im Zusammenhang mit soziologischen Untersuchungen. Die Ergebnisse waren immer ähnlich: Die Väter könnten ihre Kinder richtig erziehen, weil sie konkrete Vorstellungen zum sozialistischen Menschenbild haben, tun es aber zu wenig. Die Mütter tun es, können es aber nicht gut genug, weil sie »allgemeinere« Erziehungsziele verinnerlicht haben (Grüne Hefte 4, 1973, 3 u. 64)[3]

Auch in der DDR gab es eine Auffassung von gesellschaftlich notwendiger Arbeit, die Frauen benachteiligte. Das betrifft nicht nur das Hausarbeitsproblem, auf das ich als erstes hinweisen möchte. Mit der Auffassung, Hausarbeit sei nicht produktiv, hat die Arbeiterbewegung das Erbe Adam Smiths angetreten. Wenn Lenin in ihr nur eine »barbarisch unproduktive, kleinliche, entnervende, abstumpfende, niederdrückende Arbeit« sehen konnte (1919, LW 29, 419), so in der Annahme, dass von der demnächst beginnenden Umgestaltung zur sozialistischen Großwirtschaft auch die Hausarbeit profitieren würde. Mit diesem berühmt gewordenen Zitat war zwar ein DDR-Haushalt nicht zu beschreiben, aber die Auffassung, dass es sich bei Hausarbeit um ein ›Auslaufmodell‹ handelt, blieb erhalten.

Die Forschung zur Frage unbezahlter Arbeit im DDR-Haushalt begann 1966 und wurde später vielfach fortgesetzt. Heute kann man sie als Indiz für die Ernsthaftigkeit der Gleichberechtigungsbestrebungen werten, aber auch für die Hilflosigkeit gegenüber der Fortdauer der patriarchalen Strukturen. Immer wieder wurde festgestellt, dass für die Hausarbeit mehr Zeit als für die Berufsarbeit gebraucht und dass sie zu 70 bis 80 Prozent von den Frauen erledigt werde, auch wenn diese berufstätig waren (vgl. Schröter/Ullrich 2004, 76ff). Lösungen wurden zunächst in drei Richtungen gesucht: Zum einen sollten bestimmte Arbeiten im Haushalt ganz weggelassen, zum zweiten mehr Arbeiten an Dienstleistungsbereiche ausgelagert (die leninsche Empfehlung) und zum dritten mehr Technik eingesetzt werden. Der Gedanke, dass sich Frau und Mann die Arbeit teilen könnten, gehörte zumindest in den 1960er Jahren nicht zu den Zukunftsvorstellungen. Die erste Empfehlung wurde offenbar angenommen, denn bis heute ist nachweisbar, dass in ostdeutsche Haushalte weniger Zeit investiert wird als in westdeutsche. Der zweite Weg wurde begonnen und Verbesserungen wurden bis zum Ende der DDR immer wieder angemahnt. Den dritten Ansatz sah man schon bald kritisch, weil sich herausstellte, dass der Zeitaufwand trotz Technisierung nicht geringer wurde. Auch der jüngste Familienbericht der Bundesregierung weist darauf hin, dass seit mehr als 100 Jahren Umfang und Verantwortlichkeit für die unbezahlte Arbeit im Haushalt fast stabil geblieben sind und dass jede technische Neuerung andere, bisher nicht erforderliche Arbeiten hervorrufen würde.

Nach meiner Erfahrung enden viele feministische Debatten mit der Forderung nach einer neuen Definition von Arbeit. Wir müssen neu und aus Frauensicht definieren, was gesellschaftlich notwendig ist. Wir müssen nicht alles machen, was technisch machbar ist. In der DDR gab es, abgesehen von den allerletzten Jahren, keine feministischen Debatten. Und als der Übergang von der Industrie- zur ›Dienstleistungsgesellschaft‹ Ende der 1970er Jahre weltweit als »große Hoffnung« diskutiert wurde (vgl. Bell 1979), fühlten wir uns nur partiell angesprochen, weil unsere ›Arbeitsgesellschaft‹ nicht in Gefahr schien. Heute meine ich, dass das Unbehagen über einen männlich definierten Arbeitsbegriff und die spezifischen Probleme für Frauen im Zusammenhang mit der Arbeit im Dienstleistungssektor auch in die DDR gehört hätten. Gesellschaftlich ernst genommene und deshalb gut bezahlte Arbeit war auch in der DDR ans Herstellen und Verändern und weniger ans Pflegen und Erhalten gebunden. Auch in der DDR hatte dieses Thema eine Geschlechterdimension. Übrigens hat sich in den letzten Jahren, die nichts mehr mit der DDR-Geschichte zu tun haben, innerhalb des stark angewachsenen Dienstleistungssektors eine neue Geschlechtertrennung ergeben. Männer pflegen und erhalten Sachen, Frauen pflegen und erhalten Personen. Und prompt werden personenbezogene Dienstleistungen schlechter bezahlt als sachbezogene und gibt es bei den personenbezogenen weniger Vollzeitjobs als bei den sachbezogenen (vgl. Gender-Datenreport 2005, 127). So ist der Gesellschaft die Pflege eines Babys weniger wert als die einer Datei. »Es gibt eine gesellschaftliche Geringschätzung weiblicher Tätigkeitsfelder, auch jenseits der Familienarbeit.« (BMFSFJ 2005, 153) Diese Geringschätzung gab es auch in der DDR und in den anderen sozialistischen Ländern. In dem Maße, in dem beispielsweise in der Sowjetunion der Arzt-Beruf von Frauen ausgeführt wurde, verlor er an gesellschaftlichem Wert und wurde schlechter bezahlt.

2. Mit Gleichberechtigung war in der DDR Heranführen der Frauen an Männerniveau gemeint. Das erklärte Ziel war Einbeziehung der Frauen in die Öffentlichkeit, in die Berufstätigkeit – aus heutiger Sicht nicht wenig. Aufgabe der Männer war es, Frauen dabei zu unterstützen. Schon für August Bebel war selbstverständlich, dass es Sache der Frau sei, »zu beweisen, dass sie ihre wahre Stellung [...] in den Kämpfen der Gegenwart für eine bessere Zukunft begriffen hat und entschlossen ist, daran teilzunehmen. Sache der Männer ist es, sie in der Abstreifung aller Vorurteile und in der Teilnahme am Kampfe zu unterstützen.« (1879/1954, 613) Frauen müssen neue Wege gehen und Männer müssen sie dabei hilfreich begleiten – dies war der Kompass, der die Frauenpolitik orientierte. Dabei existierte dieses hierarchische Bild selbstverständlich nicht nur in den Köpfen von Männern. Aus Analysen von Ehescheidungsverfahren oder auch Heiratsannoncen, die Anfang der 70er Jahre durchgeführt wurden, geht hervor, dass Frauen, zumindest im zweiten Anlauf, überwiegend Männer suchten, zu denen sie ›aufblicken‹ konnten, die nicht nur älter waren, sondern auch einen höheren sozialen Status hatten (vgl. Grüne Hefte 4/71, 56; 5/73, 80).

Es gibt inzwischen aufschlussreiche Vergleiche, die zeigen, dass in den Gesetzen beider Staaten »die Rollenbilder von Frauen und die Verhaltenserwartungen an Frauen überaus deutlich ausgeprägt« waren und dass sie sich beträchtlich voneinander unterschieden, während die Rollenerwartungen an Männer in den Gesetzen nicht so deutlich und nicht so unterschiedlich durchscheinen (Gutachten 2011, 37). In beiden Staaten wusste man genau, wie Frauen sein sollten, welches Verhalten unterstützt, welches unterdrückt werden sollte. In der alten Bundesrepublik die den Rücken freihaltende Hausfrau, besonders deutlich bis Ende der 70er Jahre, in der DDR die werktätige Mutter. Wie Männer sein sollten, spiegelt sich in den Gesetzen nicht im gleichen Maße wider. Männer entsprachen hier wie dort schon den Erwartungen.

Männliche Verhaltensweisen haben sich zwar in den 40 DDR-Jahren auch geändert (was bis heute als Ost-West-Unterschiede in der Männerforschung sichtbar wird), aber sie standen nicht offiziell zur Debatte und erst recht nicht zur Disposition. Einbeziehung der Männer in den Haushalt war eine sozialwissenschaftliche und in vielen Familien auch eine private Forderung, aber keine politische. Und das, obwohl schon Clara Zetkin prophezeit hatte: »Erschließt die Berufstätigkeit der Frau die Welt, so gibt sie dem Mann das Heim zurück. Denn wenn die Frau auf allen Gebieten menschlichen Schaffens als Mitarbeitende neben dem Mann steht, so gewinnt dieser Zeit und Kraft, als Mitarbeitender im Heim und bei der Erziehung der Kinder neben der Frau zu wirken.« (1899/2008, 62) Zetkin sprach in diesem Zusammenhang von einem »Vollleben«, das Männer und Frauen im Sozialismus zu erwarten hätten. Die DDR hat dieses nur für Frauen angestrebt und damit für die männliche Persönlichkeitsentwicklung Chancen vergeben.

3. Das Abtreibungsverbot gilt nach Ute Gerhard als »Kernstück der Frauenunterdrückung«, und wenn sich die Thesen von Gerda Lerner als richtig erweisen sollten, dann auch als Ausgangspunkt des Patriarchats. In der DDR wurde Abtreibung nach Kriegsende liberal behandelt, der § 218 galt nicht mehr und einen neuen gab es zunächst nicht. Das ist sicher ein Hinweis darauf, dass die Entscheidungsträger über Vergewaltigungen in der Nachkriegszeit informiert waren – ein Tabu-Thema, weil die Sowjetsoldaten nicht nur Männer, sondern auch Klassenbrüder waren. Im September 1950 wurde dann, noch von der provisorischen Volkskammer, das »Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau« verabschiedet, das in § 14 – 27 Jahre früher als in der ehemaligen Bundesrepublik – das Alleinbestimmungsrecht des Mannes in allen familiären Angelegenheiten aufhob, das aber auch in § 11 die soziale Indikation, die bis dahin zwar nicht de jure aber de facto wirksam war, zurücknahm (vgl. Thietz 1992). Zweifellos eine patriarchale Entscheidung, die erst 1965 gelockert und 1972 aufgehoben wurde. In den Constanze-Reportagen kommt das Thema auch zur Sprache. Die Autoren stellen fest, dass auf diesem Gebiet die DDR – es war nach der Lockerung 1965 – »nur ein Schrittchen vorwärtsgegangen ist« und dass es offenbar hüben wie drüben wenig »aufrichtiges Bemühen gibt, die Frauen von ihren Ängsten zu befreien« (Commandeur/Sterzel 1965, 101).

Als im März 1972 eine Abtreibung, »wenn die Frau es will«, als rechtens erklärt und dem Krankheitsfall gleichgesetzt wurde (also kostenlos war!), überraschte das möglicherweise manche Jurist/innen und Mediziner/innen und wahrscheinlich auch die Teilnehmerinnen am Ersten DDR-Frauenkongress 1964 nicht, aber für die Masse der DDR-Frauen war dieses Gesetz ein Frauentagsgeschenk, erfreulich und überraschend. Das Gesetz wurde nicht wie das Familiengesetz einige Jahre zuvor im Entwurf breit diskutiert, und dass es bei der Abstimmung darüber in der Volkskammer erstmals Gegenstimmen und Stimmenthaltungen gab, erfuhren auch nur wenige. Genau neun Monate vor der Veröffentlichung des Gesetzes fand im Westen die spektakuläre Stern-Aktion »Ich habe abgetrieben« statt. Im Westen die lautstarke Forderung ohne juristisches Ergebnis, im Osten das juristische Ergebnis ohne lautstarke Forderung.

4. Asymmetrische Machtstrukturen charakterisieren nach Eva Cyba das Patriarchat. Das Thema kann für die DDR etwa so auf den Punkt gebracht werden: Je höher die Entscheidungsebene, desto weniger Frauen. Das ist seit 1990 relativ häufig diskutiert worden und war auch in der DDR kein Geheimnis. Wichtig ist mir, darauf hinzuweisen, dass es in den 40 Jahren deutliche Unterschiede in der Wahrnehmung Das Wunder drüben waren die Frauen dieser Asymmetrie gab. Solange Lotte Ulbricht Einfluss hatte, wurde das Problem zumindest angesprochen. Das Kommuniqué des Politbüros »Die Frau – der Frieden und der Sozialismus«, das im Dezember 1961 veröffentlicht wurde, kritisiert in erster Linie, dass zu wenig Frauen an der »Lenkung des Staates« beteiligt sind. Und Lotte Ulbricht ließ in der Folgezeit keine Gelegenheit aus, um öffentlich zu betonen, dass dieses Kommuniqué vor allem für Männer geschrieben sei, weil sich vor allem Männer ändern müssten. Engstirnigkeit, Kurzsichtigkeit, mangelndes Vertrauen und Voreingenommenheit gegenüber Frauen seien zu überwinden. Heute gelesen, hinterlassen die Texte um das Kommuniqué zwiespältige Gefühle: zum einen eine erstaunlich kritische Sicht (im Vergleich zu dem, was danach kam), zum anderen eine hoffnungslose Orientierung ausschließlich auf Bewusstseins- und Einstellungsveränderung. Dass festgeklopfte gesellschaftliche Strukturen die Frauen daran hindern könnten, Führungspositionen zu übernehmen, wurde – konsequenter noch als heute – nicht in Erwägung gezogen.

Ende der 80er Jahre jedenfalls lag der Anteil der Frauen an Leitungsfunktionen aller Ebenen bei etwa 30 Prozent. Genauso hoch ist zurzeit im Osten der Frauenanteil an Führungskräften in der Privatwirtschaft. Im Westen beträgt der Anteil etwa 25 Prozent (vgl. Gutachten 2011).

5. Die Geschichtsschreibung enthielt wie überall vor allem die Taten der Männer, zusätzlich legitimiert durch die These, dass Geschichte vor allem Geschichte von Klassenkämpfen ist. Zur Veranschaulichung ein einziges Beispiel. Der kurze Aufsatz von Friedrich Engels »Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen« gehörte in der DDR zur Grundausbildung. Aus meiner heutigen (!) Sicht reflektiert er vor allem die Mannwerdung. Denn für Frauen hatte der aufrechte Gang und die damit verbundene Arbeit noch ganz andere Folgen. Aufrechter Gang bedeutete auch, dass Frauen ihre Kinder nicht mehr auf dem Rücken tragen konnten, dass sie also eine der beiden frei gewordenen Hände für das Tragen des Kindes brauchten, dass sie folglich bei der Nahrungssuche und auch bei der Abwehr von Feinden gegenüber dem Mann benachteiligt waren, Hilfe brauchten, vielleicht Beziehungen knüpfen mussten. Der aufrechte Gang bedeutete weiterhin, dass im Laufe der Jahrtausende das Becken eingeengt wurde, während gleichzeitig der Kopf des Ungeborenen wegen der Entwicklung des Gehirns größer wurde. Die Kinder wurden in der Folge davon als »Frühchen« geboren. Das wiederum hieß, dass sich die Betreuungszeit für das Kind vergrößerte, weil es hilfloser zur Welt kam. Mitunter wird im Zusammenhang mit dem aufrechten Gang von der ersten Krise des weiblichen Geschlechts gesprochen und nicht nur vom gesellschaftlichen Fortschritt (vgl. Fisher 2000, 182).

6. Über die Beziehungen zwischen Klasse, Geschlecht, Ethnie, Generation und andere gesellschaftliche Widersprüche muss – mit der Weisheit einer Niederlage – neu nachgedacht und geforscht werden. Für unbestreitbar halte ich, dass die absolute Dominanz der Klassentheorie und Klassenpolitik, die das DDR-Konzept prägte und die in Zeiten des Kalten Krieges lebensnotwendig erschien, dem Patriarchat gut tat. Oder anders: dass diese Dominanz den Blick verstellte für spezifische Potenzen der weiblichen Sozialisation. »Wir sollen zuerst Werktätige sein, dann erst Frauen.« (Commandeur/Sterzel 1965, 29) Und die Orientierung auf den geschlechtslosen Werktätigen machte den Umgang mit Frauenverbänden, Fraueninstitutionen, Frauenaktivitäten usw. schwierig. Das soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden.

Der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) ging aus den Frauenausschüssen hervor, die sich nach Kriegsende in ganz Deutschland gebildet hatten, und wurde 1947 mit dem Gelöbnis von »schwesterlicher Verbundenheit« gegründet. Offizielle Dokumente der späteren DDR-Jahre enthielten ausschließlich die »brüderliche Verbundenheit« und meinten damit – ganz wie die Ode an die Freude – die Menschen im Allgemeinen. Die Gründungsfrauen des DFD schlossen mit ihrer Formulierung aber Männer aus, signalisierten Misstrauen gegenüber Männerpolitik und hatten nach 12 Jahren Faschismus ja auch allen Grund dazu. Das Bild des DFD als einer biederen und SED-treuen Organisation – als solche wurde sie 1989/90 beschimpft – gerät zumindest für die 1940er und 50er Jahre ins Wanken. Entsprechend autoritär wurden sie und ihre jeweiligen Vorsitzenden in den Anfangsjahren behandelt, wurden ihre Betriebsgruppen zunächst erlaubt, später verboten, wurde ihr ein Mitspracherecht bei der Gesetzgebung zunächst gestattet, später verwehrt, wurde ihre Mitgliedschaft in der IDFF[4] offiziell gewürdigt, unter der Oberfläche misstrauisch beobachtet. Immer mit der Grundangst, dass die »bürgerlichen Frauen im DFD« der führenden Rolle der Arbeiterklasse im Wege stehen könnten (vgl. Schröter 2009).

Vor allem Ende der 40er Jahre stand der DFD und mit ihm die gesamte Frauenarbeit der SED in harter Kritik. Seit wann gibt es in der Partei Männer- und Fraueninteressen? Diese Frage wurde im Neuen Deutschland sehr polemisch behandelt. Und in einer Vorlage für das Zentralsekretariat der SED ist zu lesen, dass die Partei sich zu wenig um die anderen Massenorganisationen kümmert und zu viel um den DFD, ohne »jedoch die klare politische Führung zu sichern [...]. Die Arbeit zur Umerziehung der Frauenmassen muss verstärkt werden [...]. Die Genossinnen des DFD werden nochmals darauf aufmerksam gemacht, dass sie sich als Beauftragte der Partei zu fühlen haben.« (SAPMO[5] NY 4036/731) Die Parteien- und Klassenunabhängigkeit, die zum Gründungsgelöbnis des DFD gehörte, wurde in den ersten Jahren von den Frauen ganz offensichtlich ernst genommen.

Später, nachdem drei DFD-Vorsitzende abgelöst worden waren bzw. wegen Krankheit nicht wieder kandidiert hatten, wurden die Kritiken seltener. 1953 fand in Berlin eine Konferenz statt unter dem Motto »Die Frauen fördern heißt die Kampfkraft der Arbeiterklasse stärken«. Frauenfrage und Klassenfrage also scheinbar in Übereinstimmung. Dennoch sprach Walter Ulbricht noch 1963 auf dem VI. SED-Parteitag die Hoffnung aus, dass der DFD nun auch »die letzten Reste von Sektierertum« überwinden möge.

Zum Thema Klasse und Geschlecht ein zweites Beispiel, ein Rückblick auf den Ersten Frauenkongress 1964. Zunächst fällt auf, mit welch riesigem Aufwand der Kongress vorbereitet und ausgewertet wurde. Monate vorher wurde festgelegt, Das Wunder drüben waren die Frauen zu welchen Terminen, einschließlich Tageszeiten, das DDR-Fernsehen über den Kongress berichtet, welche Briefmarken, welche DIA-Serien, welche Leserbriefaktionen vorzubereiten sind, worauf sich die Zeitungen und der Rundfunk einzustellen haben usw. Die Antragskommission, die sich im Vorfeld gebildet hatte, nahm mehr als 1 300 Anträge aus der weiblichen Bevölkerung entgegen, die den Frauenalltag in heute berührender Weise widerspiegeln. Diese Anträge wurden noch vor dem Kongress analysiert und nach dem Kongress an die entsprechenden staatlichen Stellen weitergeleitet. Die Dokumente sprechen zweifellos für ehrliche Fürsorglichkeit, aber auch für ein ungebrochenes Erziehungsbedürfnis und Misstrauen Frauen gegenüber. Denn sowohl im Vorfeld als auch nach dem Kongress wird der Bewusstseinsstand der Frauen scharf kritisiert. Sie würden immer noch vorwiegend Probleme diskutieren, die mit ihrem individuellen Leben zusammenhingen. Und solche Diskussionen seien angetan, von den Hauptfragen des Kongresses abzulenken (SAPMO DY 31/050). In einer zusammenfassenden Information an das ZK der SED steht sinngemäß, dass die Frauen auf dem Kongress ihre Alltagsprobleme überbetont und die wichtigeren politisch-ideologischen Fragen völlig ungenügend behandelt hätten (SAPMO DY 30/IV/A2/17/60).

Als 1969 der zweite (und letzte) Frauenkongress der DDR stattfand, schienen die Frauen sich deutlich gebessert zu haben. In einer abschließenden Information, wahrscheinlich an das Politbüro, heißt es: »Der Kongress machte eindrucksvoll sichtbar, dass die Frauen und Mädchen bereit sind, Verantwortung für das Ganze zu tragen. Sie beschäftigen sich nicht nur mit Problemen, die sich auf ihr unmittelbares Leben in der Familie, auf ihren Arbeitsplatz beziehen, sondern auch mit solchen, die das Vorwärtskommen unserer ganzen Gesellschaft betreffen.« (SAPMO DY 30/IV/A2/17/61) Aber das war wohl schon der Übergang zu Sprechblasen und damit der Anfang vom DDR-Ende.

Ein Wunder waren DDR-Frauen ganz sicher nicht. Aber sie hatten im Vergleich zur westdeutschen Schwester andere Lebenschancen und andere Konflikte zu lösen. Ein Zukunftspotenzial für Deutschland ja, wenn außer »soziokulturellen Beständen Ostdeutschlands« auch die »Außenstände ganz Deutschlands«, die seit den 70er Jahren diskutierten offenen Forderungen der Frauen politisch wirksam werden.

 

Literatur

Bebel, August, Die Frau und der Sozialismus (1879), Berlin 1954

Becker, Ruth, u. Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie, Wiesbaden 2004

Bell, Daniel, Die nachindustrielle Gesellschaft, Reinbek 1979

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Familien zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik, Siebter Familienbericht, Berlin 2005

Commandeur, Werner, u. Alfred Sterzel, Das Wunder drüben sind die Frauen. Begegnungen zwischen Dresden und Rügen, Bergisch Gladbach 1965

Cyba, Eva, »Patriarchat: Wandel und Aktualität«, in: Becker/Kortendiek 2004, 15-20

Diewald, Martin, Aufbruch oder Entmutigung? Kompetenzentfaltung, Kompetenzentwertung und subjektive Kontrolle in den neuen Bundesländern. Projekt »Ostdeutsche Lebensverläufe im Transformationsprozess«, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin 1997

Eifler, Christine (Hg.), Ein bisschen Männerhass steht jeder Frau, Berlin 1991

Fisher, Helen, Das starke Geschlecht. Wie das weibliche Denken die Zukunft verändern wird, München 2000

Geißler, Rainer, »Sozialer Umbruch als Modernisierung«, in: ders. (Hg.), Sozialer Umbruch in Ostdeutschland, Opladen 1993

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[1] Ein doppelt falscher Begriff, denn es geht nicht nur um den Erwerb und auch nicht nur um eine Neigung.

[2] Nach Göttner-Abendroth eine unzulässige Gleichsetzung mit Matriarchat (2004, 25).

[3] Als »Grüne Hefte« wurden die Informationen des Wissenschaftlichen (Bei)Rates »Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft« bezeichnet, die von 1966 bis 1990 erschienen und für deren Inhalt Herta Kuhrig verantwortlich zeichnete.

[4] Internationale Demokratische Frauenföderation, seit 2002 in Brasilien ansässig.

[5] Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR.

 

Erschienen in DAS ARGUMENT 295/2011: 885-896.