Präsidentschaftswahlen in Frankreich

Die Renaissance der radikalen Linken

Der Sieg des Sozialisten François Hollande bei der Stichwahl am 6. Mai beendet eine 17jährige Herrschaft konservativer Präsidenten in Frankreich. Ob damit ein Kurswechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik stattfinden wird, ist nach allen Erfahrungen mit sozialdemokratischen Regierungen in Europa fraglich. Zumindest kann man hoffen, dass die übelsten Auswüchse der Migra-
tions- und Innenpolitik seines Vorgängers Nicolas Sarkozys gestoppt werden
und das neoliberale Bündnis Frankreich-Deutschland angreifbarer wird.
Einen Einfluss auf die Politik Hollandes werden zweifellos auch die Entwick-
lungen vor und nach dem ersten Wahlgang am 22. April auf den beiden Rän-
dern des politischen Spektrums haben. Sollte die Linksfront (Front de Gauche,
FG) ihren Aufschwung auch bei den Parlamentswahlen am 10. und 17. Juni
2012 fortsetzen, könnten die Chancen für eine Politik, die innen- wie außen-
politisch nicht den neoliberalen Dogmen verpflichtet ist, zunehmen.

Der Mobilisierungserfolg der Front de Gauche
Die FG und ihr Kandidat Jean-Luc Mélenchon haben dem Wahlkampf ihren
Stempel aufgedrückt. 42 Prozent der Befragten bescheinigten der FG, den bes-
ten Wahlkampf geführt zu haben.1 Mélenchon hatte Anfang 2011 seine Bereit-
schaft zur Kandidatur für die FG bekundet, die vor den letzten Europawahlen
2009 aus der Kommunistischen Partei Frankreich (PCF), der Ende 2008 nach
deutschem Vorbild gegründeten Partei der Linken (PG) Mélenchons und einer
Absplitterung des Revolutionären Kommunistischen Bundes (LCR) entstanden
war. Im Juni 2011 stimmte die PCF in einem Mitgliederentscheid mit 59 Pro-
zent dafür, die Kandidatur des ehemaligen Mitglieds der PS zu unterstützen.
Die Umfragewerte der FG stiegen von 5 bis 6 Prozent in den Monaten nach
seiner Nominierung auf durchschnittlich gut 14 Prozent Anfang April 2012.
Die Anzahl der Franzosen, die eine „gute Meinung“ von Mélenchon haben,
stieg im gleichen Zeitraum von 37 auf 62 Prozent. Er lag damit auf Platz 7 vor
Hollande (58 Prozent), Sarkozy (40 Prozent), Marine Le Pen (35 Prozent) und
derem Vater (18 Prozent). 13 Prozent hatten sogar eine „sehr gute Meinung“
von Mélenchon, mehr als bei allen anderen Politikern.2
Der Wahlkampf der FG war davon geprägt, den Menschen die Hoffnung auf
eine Veränderung der Gesellschaft wieder zu geben. Diese Hoffnung galt es
zuerst bei der linken Wählerschaft zu erzeugen.
Die Rückbesinnung auf die revolutionäre und linke Geschichte Frankreichs soll-
te dabei helfen. Großkundgebungen fanden an symbolträchtigen Jahrestagen
oder Orten mit bis zu 120.000 Teilnehmern statt. Auf der Place de la Bastille er-
innerte Mélenchon nicht nur an die Französische Revolution, sondern auch an
den Beginn der Pariser Commune. In Toulouse sprach er am Jahrestag der Spa-
nischen Republik und in Marseille an dem der Unabhängigkeit Algeriens.
Gleichzeitig präsentierten Mélenchon und die FG eine Zukunftsvision mit einer
Kampagne für eine demokratische, parlamentarische und soziale VI. Republik
und ermunterten unter der Losung „Place au Peuple“ (Platz für das Volk) und
„Prenez le Pouvoir“ (Ergreift die Macht) die Bürger, selbst aktiv zu werden und
nicht nur mit ihrer Wählerstimme für einen Kurswechsel zu sorgen. Mit dem
Satz „Wir sind die Utopie, die regieren wird“ fasste Mélenchon in Marseille den
Radikalismus und den Realismus des linken Programms zusammen.
Inhaltlich standen zwar die sozialen und wirtschaftlichen Forderungen im Mit-
telpunkt (Mindestlohn von 1700 Euro; Beibehaltung der Rente ab 60; Verbes-
serung der Staatseinnahmen durch eine 100-Prozent Steuer für alle Einkom-
men ab 360.000 Euro; direkte Kreditvergabe durch die EZB), doch der Wahl-
kampf beschränkte sich nicht auf die Kernbotschaften. Das macht schon das
Programm „L’Humain d’abord“ (Das Menschliche zuerst) deutlich, das
400.000-mal verkauft wurde. Die Demokratisierung des politischen Systems
und der Wirtschaft, die direkte Beteiligung der Bürger und die strikte Tren-
nung von Staat und Religion waren ein weiterer Schwerpunkt bei den Kund-
gebungen. Die Umweltpolitik spielte jedes Mal ein Rolle, auch wenn die FG
in der Frage der Abschaltung der französischen AKW gespalten ist (PG dafür,
PCF dagegen), aber gemeinsam die Forderung nach eine Umweltplanung
trägt, die durch Förderung erneuerbarer Energien eine Reindustrialisierung
einleiten soll. Auch die Gleichstellung der Geschlechter war immer Thema, so
u.a. hinsichtlich der besonderen Benachteiligung der Frauen auf dem Ar-
beitsmarkt oder des Rechts auf kostenlose Abtreibung, das von Le Pen in Fra-
ge gestellt wurde.
Die Auseinandersetzung mit dem sozialdemokratischen Konkurrenten Hol-
lande spielte nur eine geringe Rolle. Mélenchon machte aber immer die Un-
abhängigkeit der FG deutlich und verwies darauf, dass das Programm Hollan-
des keine Regierungsbeteiligung und keine Wahlabsprachen im ersten Wahl-
gang der Parlamentswahlen ermögliche. Konsequenterweise rief er auch nicht
auf, im zweiten Wahlgang für Hollande zu stimmen, sondern gegen Sarkozy.
Der Stimmzettel für Hollande sei die einzige Möglichkeit, Sarkozy loszuwer-
den und so den weiteren Weg zu einer VI. Republik zu beschreiten.
Mélenchon widmete sich im Wahlkampf vor allem der Politik Sarkozys und
führte – anders als Hollande – eine offensive Auseinandersetzung mit der Na-
tionalen Front (FN) und Marine Le Pen. Er ließ sich keine Debatten über ge-
schächtetes Fleisch oder eine angeblich notwendige Verschärfung von Sicher-
heitsgesetzen nach den Attentaten in Toulouse aufdrängen. Auf seinen Kund-
gebungen betonte er stattdessen die Gleichstellung von allen Franzosen, un-
abhängig von ihrer Herkunft. In Marseille sang er ein Hohelied auf die Ein-
wanderung und die Einheit der Franzosen und Maghrebiner.
Die Begeisterung bei den ersten Kundgebungen führte dazu, dass der Zulauf
immer größer wurde und bald keine bezahlbaren Säle mehr verfügbar waren.
Die Wahlkampfleitung machte aus dieser Not eine Tugend. Die FG veranstal-
tete die meisten ihrer Wahlveranstaltungen im Freien mit Teilnehmerzahlen
von bis zu 120.000 (in Marseille). Hollande und Sarkozy imitierten die FG
mit eigenen Großkundgebungen.
Während ursprünglich das Erreichen eines zweistelligen Ergebnisses Ziel der
Kampagne war, spornten Wahlprognosen von bis zu 17 Prozent die FG an,
das Wahlziel höher anzusetzen. Das Überflügeln Le Pens wurde ins Auge ge-
fasst und Mélenchon kokettierte sogar mit der Vorstellung, in den zweiten
Wahlgang zu kommen.

Das Wahlergebnis der Front de Gauche
Angesichts der so hochgeschraubten Erwartungen blieb bei einem Ergebnis
von 11,1 Prozent für Mélenchon der Frust am Wahlabend bei vielen Sympa-
thisanten nicht aus. Verstärkt wurde dieses Gefühl durch die 17,9 Prozent, die
Le Pen holen konnte.
Gemessen an früheren Wahlergebnissen und an den Umfragen von 2011 ist
das Ergebnis jedoch als großer Erfolg zu werten. Seit 1981 hat kein Kandidat
links der Sozialisten eine derart hohe Zustimmung gefunden. 2007 lag Marie-
George Buffet, die Kandidatin der PCF, die heute das Gros der FG ausmacht,
bei 1,9 Prozent. Wenn man die Stimmen aller Kandidaten der radikalen Lin-
ken zusammenzählt, ist das Ergebnis 2012 mit 12,8 Prozent fast doppelt so
hoch wie 2007 (7,7 Prozent) und nahe dem von 2002 (13,8 Prozent).
Warum kam es zu diesem Rückgang? Eine gute Wahlkampagne allein kann
die Voraussetzungen für den Erfolg einer linken Kraft nicht auf den Kopf stel-
len. Die Abnahme der Stimmen der PCF seit den 80er Jahren hatte Gründe,
die noch immer fortwirken. Dazu zählen – neben der neoliberalen Hegemonie
in Politik, Medien und Alltagsleben – die viel zu späte Einstellung auf die
weitreichenden Veränderungen in Struktur und Lebensweise der Arbeiterklas-
se, der tiefe Einschnitt durch den Zusammenbruch des Realsozialismus, an
dem sich die PCF immer orientiert hatte, und nicht zuletzt die Enttäuschungen
und erneuten Wahleinbrüche, die die Teilnahme an den Linksregierungen
1981-84 und 1997-2002 auslösten.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass zu Beginn der Wahlkampagne nur
eine Minderheit der Mélenchon-Wähler sich schon sicher war, ihn zu wählen.
Viele blieben unsicher bis zum Schluss. Andererseits stellte sich heraus, dass
31 Prozent der Wähler Hollandes (und damit fast 9 Prozent aller Wähler) mit
einer Wahl Mélenchons geliebäugelt hatten.
Ein Teil der Sympathisanten Mélenchons hat sich am Ende doch für den „vote
util“ (nützliche Stimmabgabe) für Hollande ausgesprochen. Das Trauma von
2002, als kein linker Kandidat in die Stichwahl kam, weil die Linke wegen ih-
rer Zersplitterung von Le Pen überholt wurde, sitzt anscheinend noch tief.
Auch scheint das Argument Hollandes gezogen zu haben, dass seine Aussich-
ten für den 2. Wahlausgang besser seien, wenn er im 1. Wahlgang die meisten
Stimmen erzielen würde.
Darüber hinaus sind nach dem rasanten Anstieg der Umfragewerte Mélenchons
spätestens Anfang April seine Gegner aufgewacht. Die rechte und linksliberale
Presse versuchte mit angeblichen Aussagen Mélenchons zu Kuba, Venezuela
oder Tibet, mit Berichten über Kontakte, die er zu Beratern Sarkozys pflegte,
oder mit Behauptungen, er wolle die Terrormethoden der Französischen Revo-
lution wiederbeleben, seinen Ruf zu schädigen. Die eine oder andere Geschichte
dürfte bei den neuen Sympathisaten auf fruchtbaren Boden gefallen sein.
Das Ziel der FG, der FN die Volksstimmen („vote populaire“), d.h. die der
Arbeiter, der Angestellten und der unteren Mittelschichten und Ausgegrenzten
streitig zu machen, ist nicht erreicht worden. Im Gegenteil, im Vergleich zu
2007, zu den Europawahlen 2009 und den Regionalwahlen 2010 sind sogar
mehr Stimmen aus dem linken Lager an die FN gewandert als umgekehrt. Je-
weils 7 bis 8 Prozent der radikalen linken Stimmen der Wahlen zwischen
2007 und 2010 gingen 2012 an Marine Le Pen, aber nur 1 bis 2 Prozent der
Stimmen der FN flossen an Mélenchon.
Dafür braucht es mehr als eine Wahlkampagne, um gegen tief sitzende Vorur-
teile und Ressentiments, die über Jahre vom FN und immer stärker auch von
der Regierung gefördert wurden, anzukommen. 62 Prozent der Franzosen wa-
ren am Wahltag der Meinung, dass es zu viele Einwanderer in Frankreich gä-
be. 60 Prozent halten den Islam für eine Bedrohung des Westens. Auch ein
gutes Drittel der Wähler Mélenchons teilt diese Meinungen. Diese Werte wa-
ren im letzten Jahrzehnt zeitweilig schon mal höher und sind in den letzten
Jahren wieder angestiegen.3
Die FG hat keine Rücksicht genommen auf konservative oder rassistische
Einstellungen möglicher Wähler. Das mag nicht dazu beigetragen haben, den
Stimmenanteil Le Pens zu drücken, aber die offensive Werbung für die The-
men der Linken hat die eigenen Anhänger mobilisiert und andere progressive
Wähler motiviert, ihren Parteien den Rücken zu kehren.
Dabei musste die extreme Linke die meisten Federn lassen. 40 Prozent der
Stimmen Olivier Besancenots (LCR) gingen an die FG, aber auch 12 Prozent
der Wähler der PS-Kandidatin von 2007 Ségolène Royal und 10 Prozent Bay-
rous4. Die ökologischen Akzente im Programm der FG und die öffentliche
Präsenz der Co-Vorsitzenden der PG, der ehemals grünen Abgeordneten Mar-
tine Billard, haben offenbar auch einen Teil der grünen Wähler überzeugt, von
denen viele mit der engen Allianz ihrer Partei mit der PS unzufrieden sind. 15
Prozent der Anhänger von Europe Écologie/Les Verts haben Mélenchon ge-
wählt. Überdurchschnittlich hoch war auch der Anteil der Nichtwähler: Von
denen, die 2007 nicht gewählt hatten und diesmal teilnahmen, stimmten 17
Prozent für Mélenchon.

Das Abschneiden der extremen Rechten
Auf der extremen Rechten ist das Ergebnis von 17,9 Prozent für Marine Le Pen,
die Nachfolgerin ihres Vaters Jean-Marie als Kandidatin der FN, in den Medien
als „Durchbruch“ und „Sieg“ bezeichnet worden, obwohl sie ihre Ziele – mehr
als 20 Prozent und den Einzug in den zweiten Wahlgang – nicht erreichen konn-
te. Das Ergebnis ist dennoch auffällig: Die Umfragen in den Wochen vor der
Wahl ließen niedrigere Zahlen erwarten, der Wähleranteil lag um fast 8 Prozent
höher als 2007 und die ersten Hochrechnungen hatten sogar 20 Prozent voraus-
gesagt. Das war allerdings nicht das Spitzenergebnis der extremen Rechten.
2002, als Jean-Marie Le Pen und sein ehemaliger Stellvertreter Bruno Mégret
gegeneinander kandidierten, hatte sie in der Summe fast zwei Prozent mehr er-
zielt. Auch im Vergleich zu den Umfragewerten vom Sommer 2011, als Marine
Le Pen mit 24 Prozent sogar an der Spitze stand, ist das Ergebnis ein Rückgang.
Dennoch steht die FN auf dem Höhepunkt ihres Einflusses. Durch einen ande-
ren Stil ist es mit Marine Le Pen an der Spitze gelungen, die FN salonfähiger
zu machen. Beim Rassismus bzw. bei der „Priorität für die Franzosen“, wie es
die FN zu sagen pflegt, bleibt es, seit man 1986 darauf gekommen war, dass
das Stimmen einbringen könnte. Der Antiislamismus hat mittlerweile Vorrang
vor dem Antisemitismus erhalten. Während ihr Vater sich noch die neolibera-
le Politik Ronald Reagans zum Vorbild nahm, würzte sie die Politik der FN
mit ein paar Prisen Antiglobalisierung – wobei sie vor Anleihen bei linken
Autoren nicht zurückschreckte – und mit etwas Hetze gegen die Eliten.5 An-
ders als ihr Vater ist sie außerdem bemüht, das Verhältnis zur regierenden
Rechten zu verbessern. Diese Bemühungen um eine Imageverbesserung wur-
den von den konservativen Medien gerne gefördert, da der „cordon sanitaire“
um die FN die Regierungsrechte an Bündnissen mit ihr gehindert hatte und so
das rechte Potential in Frankreich nicht voll ausgeschöpft werden konnte.
Die Anzahl der Menschen, die eine eher gute Meinung von der FN haben, ist
von Februar 2011 bis Februar 2012 von 12 auf 20 Prozent gestiegen. 37 Pro-
zent der Befragten stimmten im April 2012 den Ideen der FN vollständig oder
teilweise zu, der höchste Wert, seit die Frage erstmals 1984 gestellt wurde.
Nur noch 51 Prozent halten die FN für eine Gefahr für die Demokratie.6
Das dürfte nicht nur das Verdienst Marine Le Pens sein, sondern auch Sarkozys,
dessen Politik bezüglich Migranten, innere Sicherheit und Islam immer mehr
der der FN ähnelt. Ob die hohen Stimmenverluste an die FN dadurch verursacht
wurden oder noch höhere vermieden wurden, bleibt Spekulation. Tatsache ist
aber, dass durch diese Politik Sarkozys nicht nur die FN, sondern auch ihre Vor-
schläge immer stärkeres Gehör finden. Da wundert es nicht, dass 64 Prozent der
Wähler Sakozys und 59 Prozent der Le Pens dafür sind, dass die bisher regierende
Union für eine Volksbewegung (UMP) und die FN ein Wahlabkommen schlie-
ßen.7 Beim zweiten Wahlgang der Parlamentswahlen im Juni 2012 könnten sich
dann ihre jeweiligen Kandidaten zugunsten des Bestplazierten zurückziehen.
Damit steht man in Frankreich vor einem ähnlichen Dammbruch, was die Ak-
zeptanz der extremen Rechten angeht, wie in den Niederlanden, Italien, Öster-
reich, Finnland und Griechenland.
Noch aber ist es nicht soweit. Auch wenn Sarkozy nach dem ersten Wahlgang
Le Pen als „kompatibel mit der Republik“ bezeichnete, Sympathie für ihre
Wähler („ein Volk, das leidet“) und für viele rassistische Forderungen der FN
bekundete, blieb der Erfolg aus. Marine Le Pen, die erklärte, nicht für Sarkozy
zu stimmen und einen weißen Stimmzettel abzugeben, will die UMP noch
zappeln lassen. Sie setzt auf eine Spaltung der bürgerlichen Rechten, um so
aus einer Position der Stärke heraus, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Zu-
mindest zu punktuellen Absprachen könnte es aber bereits bei den Parla-
mentswahlen im Juni kommen.
Die Hinwendung Sarkozys und der UMP zur FN hat aber auch ihren Preis.
Der Kandidat des zentristischen Demokratischen Bewegung (MoDem) Fran-
çois Bayrou begründete seine Unterstützung für Hollande im zweiten Wahl-
gang mit der Annäherung Sarkozys an die FN und dürfte damit endgültig für
die Niederlage Sarkozys gesorgt haben.

Die Wähler der Rechten und Linken
Vergleicht man die Wählerschaft der wichtigsten Kandidaten, so wird folgendes
deutlich:8 Bei den Geschlechtern herrscht bei ihnen ziemliche Ausgeglichen-
heit. Mélenchon holt etwas mehr Stimmen bei den Männern (12 Prozent). Eine
Überraschung ist das Ergebnis Le Pens, das deutlich macht, dass ihr Ergebnis
vor allem auf einen enormen Zuwachs bei den Frauen zurückzuführen ist. Ihr
Vater hatte 2007 nur 7 Prozent der Wählerinnen erreicht, sie dagegen 18 Pro-
zent.
In den Altersgruppen erzielt Mélenchon bei den unter 25-Jährigen überdurch-
schnittliche 16 Prozent, bei den über 60-Jährigen hingegen nur 7 Prozent. Le
Pen liegt mit einem Anteil von 19 Prozent bei den Jugendlichen etwa im
Durchschnitt und wird von Hollande (25 Prozent) und Sarkozy (23 Prozent)
übertroffen. Sarkozy holt fast 40 Prozent bei den über 60-Jährigen.
Bei den sozialen Gruppen wird deutlich, dass die Linke die Mehrheit, die sie
unter den Arbeitern in den 80er Jahren verloren hat, nicht wiedererlangen
konnte. Lediglich 40 Prozent stimmten für die linken und grünen Kandidaten
(davon 15 Prozent für Mélenchon). Auf die FN fielen 35 Prozent. Bei einfa-
chen Angestellten ist die Lage nicht viel besser (43 Prozent linke und grüne
Stimmen, 25 Prozent für Le Pen, 21 Prozent für Sarkozy).
Von allen Beschäftigten mit einem befristeten Arbeitsvertrag stimmten 16
Prozent für Mélenchon und 24 Prozent für Le Pen. Bei den Leiharbeitern wa-
ren es 18 Prozent für Mélenchon und 38 Prozent für Le Pen, bei Arbeitslosen
jeweils 15 und 24 Prozent. Nur bei Studenten und Schülern lag Mélenchon
mit 16 Prozent zu 13 Prozent vor Le Pen.
Vergleicht man den „vote populaire“ beim ersten Wahlgang der Präsident-
schaftswahlen über drei Jahrzehnte, muss man feststellen, dass die Rechte hier
schrittweise die Hegemonie erringen konnte. Noch bei den Präsidentschafts-
wahlen 1988 wählten knapp 60 Prozent einen linken Kandidaten. Dieser An-
teil ist 1995 auf 43 Prozent gefallen und 2007 und 2012 weiter auf 37 bzw. 40
Prozent. Die schwersten Einbußen verzeichneten die Kandidaten links der So-
zialisten, die von 31 Prozent 1981 auf heute 15 Prozent fielen. Seit ihrem ers-
ten Wahlantritt 1988 hat die FN bei den Arbeitern von 18 Prozent auf heute
35 Prozent zugelegt. Parallel dazu hat sich die Zahl der Nichtwähler unter Ar-
beitern enorm erhöht. Lag sie in den 1980er und 1990er Jahren etwa im
Durchschnitt aller Wähler, so hat sie heute 37 Prozent (Durchschnitt 20 Pro-
zent) erreicht. 9
Während bei den Angestellten die Verluste auf der Linken nicht ganz so stark
sind (von 54 Prozent 1981 auf heute 46 Prozent) ist der Zuwachs bei den
Wählern Le Pens von 13 auf 25 Prozent beachtlich. Bewerkenswert ist aber
auch, dass in der Stichwahl ein Teil des „vote populaire“ von Le Pen wieder
nach links gewandert ist. Hollande konnte 21 Prozent der Stimmen Le Pens ge-
winnen. Bei Arbeitern holte er 56 Prozent und 52 Prozent bei Angestellten.10
Mit sinkenden Einkommen steigt der Stimmenanteil sowohl bei Mélenchon
als auch bei Le Pen – bei Mélenchon von 7 Prozent bei über 3500 Euro mo-
natlichem Haushaltseinkommen auf 17 Prozent bei unter 1000 Euro und bei
Le Pen von 12 auf 24 Prozent.
Eine deutliche Unterscheidung ergibt sich beim Bildungsniveau. Während der
Stimmenanteil Mélenchons in allen Gruppen etwa beim Durchschnitt liegt,
sinkt er bei Le Pen von 29 Prozent bei Abschlüssen unterhalb des Abiturs auf
7 Prozent bei Akademikern.
Der deutlichste Unterschied zwischen den Wählern der FG und der FN liegt in
der Motivation der Wahlentscheidung. Während die Wähler Mélenchons (wie
die Hollandes) die Kaufkraft (Einkommensentwicklung), die Soziale Un-
gleichheit und die Arbeitslosigkeit als Begründung für ihre Entscheidung,
links zu wählen, anführen, kommt bei den Wählern Le Pens die Einwande-
rung mit Abstand auf Platz 1, gefolgt von der Kaufkraft und der inneren Si-
cherheit.11
Regionale Verteilung: In einer Untersuchung von Ifop wird deutlich, dass die
FN-Stimmen in einer Entfernung von 30-50 km von den großen Zentren um fast
3 Prozent über dem Durchschnitt liegen, während sie in den Städten mit über
200.000 Einwohnern 4 Prozent darunter liegen.12 Es sind oft Menschen, die
sich die Mieten in den Großstädten nicht leisten können und in den Dörfern und
Kleinstädten jenseits der „banlieue“ geblieben oder dort hingezogen sind. Die
rechtsextremen Stimmergebnisse verhalten sich außerdem umgekehrt proportional
zum Ausländeranteil, ein auch in Deutschland zu beobachtendes Phänomen.
Die regionale Ergebnisverteilung der FG ähnelt der der alten Hochburgen der
PCF. Aber es ist auffällig, dass der Unterschied zwischen den hohen Ergeb-
nissen und den niedrigen erheblich abgenommen hat. Nicht nur die Stamm-
wähler der PCF haben Mélenchon gewählt. Starken Zuwachs hat es in sozia-
listischen und grünen Hochburgen gegeben.13 Der Gewinn eines Großteils der
Stimmen der extremen Linken, die erheblich gleichmäßiger über das Land
verteilt sind, hat dazu beigetragen, dass auch die bisherigen „Täler“ in der
kommunistischen Stimmenverteilung etwas aufgefüllt wurden. Das niedrigste
Ergebnis eines Departement lag bei 7,3 Prozent, das höchste bei 17 Prozent.
Die Organisationen der trotzkistischen Linken erzielten mit Philippe Poutou
(Neue Antikapitalistische Partei, NPA) und Nathalie Arthaud (Arbeiterkampf,
LO) 1,15 bzw. 0,56 Prozent der Stimmen. Addiert ist das weniger als in allen
Wahlen seit 1969. 2002 hatten sie zusammen noch über 10 Prozent erzielt, 2007
noch fast 6 Prozent. Da in einer Präsidentschaftswahl nicht nur die politische
Richtung, sondern auch die Ausstrahlung des Kandidaten und seine Chance, auf
das Resultat Einfluss zu nehmen, eine Rolle spielen, waren für beide Organisa-
tionen die Ausgangsbedingungen denkbar schlecht. Sie mussten auf ihre be-
kanntesten Vertreter verzichten, die mit Sympathiewerten von über 55 Prozent
in den letzten Jahren oftmals in den Umfragen zu den zehn beliebtesten Politi-
kern zählten. Der Postbote Olivier Besancenot, der 2002 und 2007 für die LCR
jeweils über 4 Prozent geholt hatte, trat für die NPA nicht mehr an, die 2009 aus
der LCR, kleinen Gruppen und Einzelpersonen entstanden war. LO musste aus
Altersgründen auf Arlette Laguillier verzichten, die erstmals 1973 angetreten
war und zwischen 2 (1988) und 5,7 Prozent (2002) geholt hatte. Beim Rück-
gang des trotzkistischen Linken haben weitere Faktoren eine Rolle gespielt:
die Kampagne der FG, die in ihrer Abgrenzung zur PS, ihre klaren sozia-
len Forderungen und der resoluten Gegnerschaft zur FN nach links attrak-
tiv war;
- ein „vote utile“ zugunsten Mélenchons wegen der Aussicht, die FN zu
schlagen oder Mélenchon in den zweiten Wahlgang zu bringen.
- der Verdruss über die Uneinigkeit der Linken.
Letzteren hat u.a. die NPA zu spüren bekommen, die als Voraussetzung für
ein Zusammengehen mit der FG jegliche Kooperation mit der PS ausge-
schlossen hatte. Zwei Fraktionen hatten sich von ihr abgespalten und der FG
angeschlossen. Eine große Minderheit hatte die Kandidatur Poutous in Frage
gestellt und drei ihrer bekanntesten Vertreter sogar zur Wahl Mélenchons auf-
gerufen. Die NPA ist von ursprünglich etwa 9.000 Mitgliedern inzwischen
wieder bei der Stärke der LCR von 3.000 Mitgliedern angelangt.

Perspektiven: Die Parlamentswahlen im Juni
Geht man davon aus, dass sich der Stimmenanteil der FG bei den Parlaments-
wahlen im Juni im Bereich des Präsidentschaftswahlergebnisses bewegen wird,
kann die FG mit einer Parlamentsfraktion rechnen. Stimmen, die aus Angst vor
der FN an Hollande gegangen sind, könnten zurück gewonnen werden. Der FG,
der sich vor der Präsidentschaftswahl bereits einige Kleingruppen angeschlos-
sen haben, kann angesichts der Streitigkeiten in der NPA eventuell mit weite-
rem Zuwachs rechnen oder zumindest Wahlabsprachen treffen.
Die gleichmäßigere Verteilung ihrer Stimmen auf das ganze Land kann aber
auch negativen Einfluss auf ihre Wahlergebnisse haben. Da die PS durch ge-
meinsame Kandidaturen mit den Grünen im Durchschnitt ungleich stärker ist
als die FG, dürften ihre Kandidaten in den meisten Wahlkreisen vor der FG
liegen. Wie seit den 60er Jahren zwischen Sozialisten und Kommunisten üb-
lich, ziehen dann die schlechter platzierten ihre Beteiligung im zweiten Wahl-
gang zurück. Zu einer Aufteilung der Wahlkreise vor dem ersten Wahlgang
wird es nicht kommen, da die FG ihre Unabhängigkeit von der PS bewahren
will. Auf Vorschlag der FG soll es aber dort Ausnahmen geben, wo die Er-
gebnisse beider linker Lager so niedrig sein könnten, dass es niemand in den
zweiten Wahlgang schafft. Indem nur ein linker Kandidat antritt, soll das ver-
mieden werden.
Dass es bei den Parlamentswahlen zu einer linken Mehrheit kommt, ist nicht si-
cher. Erste Umfragen zeigen, dass die linken Parteien über keine Stimmen-
mehrheit verfügen. Ob es dennoch eine Mehrheit der Sitze für die Linke geben
wird, wird auch davon abhängen, ob die Konservativen und die FN sich in den
Wahlkreisen in der Stichwahl weiterhin gegenseitig die Stimme wegnehmen.
Nach einer erfolgreichen Parlamentswahl für die Linke dürfte es in der FG ei-
ne Diskussion um eine Regierungsbeteiligung geben. Mélenchon, der schon
erklärt hat, keiner Regierung angehören zu wollen, scheint da zurückhaltender
zu sein als die PCF. Sie schließt eine Regierungsbeteiligung nicht aus, falls es
Biver: Frankreich – die Renaissance der radikalen Linken
gelingen sollte, so ihr Vorsitzender Pierre Laurent, „die Situation ausreichend
zu verändern, um einen wirklichen Wechsel möglich zu machen. Mitregieren
kommt nicht in Frage, wenn kein Bruch mit der Austeritätspolitik ansteht.“14
Die Diskussion in der FG um eine Regierungsbeteiligung wird auch davon
abhängen, ob die PS und ihre Verbündeten allein eine Mehrheit erzielen.
Wenn nicht, dann wird der Druck auf die FG wachsen, sich zu beteiligen, es
sei denn, die PS und die Grünen können sich in der Mitte Verstärkung holen.
Diskussionen wird es auch über die organisatorische Zukunft der FG gegeben.
Sie ist gegenwärtig ein Bündnis aus Organisationen, das selbst keine Mitglie-
der aufnehmen kann. Mit ihren 130.000 Mitgliedern verfügt die PCF über ein-
erhebliches Übergewicht gegen über ihren Partnern, von denen der größte, die
PG Mélenchons, gerade mal 11.000 Mitglieder zählt. Eine Auflösung des
Bündnisses in eine neue Partei kommt für die PCF nicht infrage, weil man die
organisatorischen Pfunde, über die man noch verfügt – darunter etwa 10.000
kommunale Mandatsträger – nicht riskieren will und weil viele Mitglieder an
ihrem Parteimodell festhalten wollen.
Die Öffnung der Linksfront für Einzelmitglieder wäre aber zu überlegen, denn
die Anzahl der Eintritte in die PCF und die PG macht nicht den Eindruck, als
könnte so das Gros der neuen Sympathisanten organisiert werden. Sowohl die
PCF als auch die PG haben in den letzten vier bis fünf Monataten etwa 3.000
neue Mitglieder gewonnen. Aber bei der PCF dürfte das nicht ausreichen,
Mitgliederverluste auszugleichen.
Andere Linksbündnisse in Europa zeigen, dass ein Vielfaches an Mitgliedern
organisiert werden kann, wenn die Bündnisse auch Einzelmitglieder aufneh-
men. Beispiele hierfür sind die dänische Einheitsliste, Die Linken (Déi Lenk)
in Luxemburg, der Linksblock (BE) in Portugal und die Vereinigte Linke (IU)
in Spanien. Die dänische Einheitsliste, die die gegenwärtige Linksregierung in
Dänemark von außen stützt, war 1989 von der KP, Linkssozialisten und
Trotzkisten gegründet worden. Sie hat allein in den letzten beiden Jahren ihre
Mitgliedszahl auf fast 8.000 verdoppelt. Die spanische IU ist ähnlich organi-
siert, auch wenn die KP eine erheblich größere Rolle spielt. In Luxemburg
und Portugal haben sich die Gründungsorganisationen des Bündnisses inzwi-
schen aufgelöst.
Die Stabilität solcher Bündnisse dürfte durch Einzelmitglieder erhöht werden,
sie beruht aber hauptsächlich auf den inhaltlichen Übereinstimmungen der
Bündnispartner.


1 Étude Ifop-Fiducial pour Europe 1 - Paris Match - Public Sénat, Sondage Jour de Vote, 22 Av-
ril 2012.
2 Le tableau de bord politique Paris Match – Ifop: Les personnalités Avril 2012.
Biver: Frankreich – die Renaissance der radikalen Linken
3 http://opinionlab.opinion-way.com/opinionlab_start_22.html.
4 CSA pour l’Humanité, Sondage Jour du vote au premier tour de l’élection présidentielle, le 22
avril 2012.
5 Eric, Dupin: Die rote Marine Le Pen. Die Präsidentschaftskandidatin des Front National zitiert
linke Klassiker, in: Le Monde diplomatique Nr. 9776 vom 13.4.2012.
6 L’image du Front National, 26–27 avril 2012, Sondage de TNS Sofres pour Canal+ / La Mati-
nale.
7 Sondage OpinionWay – Fiducial pour Radio Classique et Les Echos, 24.4.2012.
8 Alle folgenden Angaben nach: Sondage OpinionWay–Fiducial pour Le Figaro; Sondage jour
du vote au premier tour Présidentielle 2012, 22 avril 2012, Sociologie du Vote.
9 http://www.lelab2012.com/historique-elections-presidentielles-structure-electorat.php.
10 Les clés du second tour de l’election présidentielle, Étude Ifop-Fiducial pour Eurpe 1 – Paris
Match – Public Sénat, Sondage jour du vote, 6 mai 2012.
11 Election Présidentielle 2012, Sondage jour du vote premier tour; Sondage CSA pour Direct
Matin, 24 Avril 2012.
12 Ifop pour le Figaro: Analyse des votes à la présidentielle selon la distance aux villes: l’enjeu
du grand péri-urbain.
13 Le vote Front de gauche à la loupe, Humanité, 30.4.2012.
14 Rapport de Pierre Laurent au Conseil national du 25 avril 2012, www.pcf.fr/23102.