Yizu - das "Ameisenvolk"

Zur urbanen Informalität und sozialen Mobilität von Hochschulabsolventen in prekären Lebensverhältnissen

in (02.07.2012)

Wer ist das Ameisenvolk (yizu)1? Es besteht aus Hochschulabsolventen, die als soziale Gruppe dicht gedrängt an einem Ort leben. Jeder einzelne ist für sichgesehen schwach, eben wie ein kleines Insekt, aber als Gruppe können sie größere Dinge bewirken. Die Schwierigkeiten, denen das Ameisenvolk im Leben ausgesetzt ist, sind sehr groß, aber die Ameisen lernen und arbeiten fleißig, sie verfolgen unnachgiebig die Erfüllung ihrer Träume und erschaffen sich eine Zukunft2!

 

In der Debatte um Ressourcenzugang, soziale Gerechtigkeit und Klassenformierungsprozesse3 im urbanen Raum Chinas wurde im Ausland die Debatte über die Situation der chinesischen Arbeitsmigranten aus ländlichen Regionen (nongmingong), in den letzten Jahren insbesondere auch der zweiten Generation,4 bereits ausführlich rezipiert. Über das seit 2007 in China rege diskutierte Phänomen der in den 1980er Jahren geborenen Hochschulabsolventen in urbanen prekären Lebensverhältnissen, genannt »Ameisen« (yizu), ist jedoch vergleichsweise nur wenig bekannt (vgl. Pun/Lu u.a. 2011; Chan 2010; Lee 2011; Gransow 2010). In diesem Artikel werden auf der Grundlage von primär chinesischen5 wissenschaftlichen und medialen Beiträgen sowie 15 Interviews mit Yizu aus Guangzhou6 die wichtigsten Aspekte des Diskurses vorgestellt.

Der Beijinger Soziologe Lian Si publizierte 2009 und 2010 die ersten wissenschaftlichen Studien zu dieser gesellschaftlichen Gruppe in Beijing, Shanghai, Guangzhou, Wuhan und Xi’an. Seine beiden Bände wurden in China umgehend zu Verkaufsschlagern und der Begriff Yizu wurde in den öffentlichen (medialen) Diskurs eingeschrieben. Lians Publikationen folgte eine Vielzahl von semi-wissenschaftlichen Studien, Zeitungsartikeln, Internetromanen, Handbüchern, und Sammlungen von Bildern, Gedichten, Tagebucheinträgen, mehrheitlich von jungen Autoren verfasst (vgl. Guo 2010; Huan 2010; Huo 2010). Parallel laufen unzählige Debatten zu den Yizu und der Post-1980er-Generation in chinesischen Internetforen.7 Als weiterer Bestandteil des Diskurses können populäre Fernsehserien wie »The Ant Race´s Struggle« (Yizu de Douzhan) und »Dwelling in Narrowness« (Woju) genannt werden, die aus Platzgründen in diesem Artikel jedoch nicht berücksichtigt werden können.8 Das Phänomen wird auch von den Stadtverwaltungen der Megastädte9 und der chinesischen Zentralregierung10 diskutiert, da die Unzufriedenheit und eingeschränkte soziale Mobilität dieser gut ausgebildeten und medial aktiven Bevölkerungsgruppe ein Gefahrenpotenzial für die soziale Stabilität darstellen könnte.

Die hohe Inflationsrate Chinas, die ein Dauerthema in den chinesischen Medien ist, spiegelt sich nur unzureichend in den Gehältern dieser Gruppe von Hochschulabsolventen wider, die in den chinesischen Megastädten keine Festanstellungen finden, sondern – ohne Sozial- und Krankenversicherung – im Dienstleistungssektor, im Verkauf, der IT- oder Werbebranche arbeiten. Sie sind aufgrund ihres niedrigen Einkommens mehrheitlich gezwungen, in Urban Villages (chengzhongcun)11 in engen und improvisierten Unterkünften zu leben. Das ist weit entfernt vom großen Traum der chinesischen Bevölkerung: einem Leben im urbanen Eigenheim. Ein weiterer entscheidender Faktor für die Informalisierung und Prekarisierung der Lebensverhältnisse dieser sozialen Gruppe ist das komplexe chinesische Hukou- Meldesystem,12 in dessen Folge jeglicher Zugang zu öffentlichen Ressourcen im urbanen Raum an eine dauerhafte städtische Aufenthaltsgenehmigung gebunden ist. Als weitere wichtige Ursachen für den Ausschluss dieser Hochschulabsolventen aus dem ersten Arbeitsmarkt werden in der Debatte die starken sozialen Netzwerke in der chinesischen Gesellschaft und die Fokussierung des chinesischen Bildungssystems auf die Förderung von Eliteinstitutionen genannt.

 

»Yizu« an der Schwelle zur entstehenden urbanen Mittelklasse?

Der Journalist Wei Cheng kommentiert den schleichenden Wechsel in den Begrifflichkeiten des chinesischen politisch-ideologischen Überbaus mit den Worten des Netizens (»Netzbürgers«) »Berggeist« (Shangui): »Gestern waren wir noch eine Xiaokang-Familie13 – heute verlasse ich das Haus – und schwupps, verwandelt sich das Label in meinem Gehirn zu ›Mittelklasse‹« (2007, 8).

Die Soziologin und Gewerkschaftsaktivistin Pun Ngai sieht im gegenwärtigen Klassendiskurs der chinesischen Regierung eine bewusste Strategie, soziale Privilegien zu verschleiern: »Die Klassensprache wird so weit subsumiert, dass der Weg frei ist für einen neoliberalen Diskurs, der Individualismus, Professionalismus, Chancengleichheit und offene Märkte propagiert. […] Der Begriff Klasse taucht als Teil des hegemonialen Projektes der neuen Führung des Parteistaates auf. Politisches Ziel dieses Parteistaates ist es, der Arbeiterklasse staatlichen und juristischen Schutz zu gewähren, um im Gegenzug, seinem politischen Slogan entsprechend, die ›harmonische Gesellschaft‹ zu verwirklichen« (Pun/Chan 2010, 273).

Von Lian werden die Yizu direkt hinter den Bauern, Arbeitsmigranten aus ländlichen Regionen und den aus den Staatsbetrieben Entlassenen als benachteiligte und schwache gesellschaftliche Gruppe (ruoshi qunti) aufgelistet und als Mitglieder der Graswurzelklasse (caogen jieceng) bezeichnet (2009, 19). Es erscheint jedoch sinnvoll, die gesellschaftliche Position der Yizu auch im Kontext der entstehenden Mittelklasse zu untersuchen, da sie ihre Zukunft auf eine Zugehörigkeit in dieser Gesellschaftsschicht ausrichten. Zhou Xiaohong spricht von einer entstehenden Mittelklasse (zhun zhongchan jieceng), die sich von der »westlichen Mittelklasse« unterscheidet und hinsichtlich des Urbanisierungsprozesses und der damit einhergehenden Entstehung von Klassen Parallelen zur Republikzeit (1911-1949) aufweist (2005, 4).14 Im Westen, so Zhou, wären die erste und zweite Generation der Mittelklasse jeweils das Produkt der Industrialisierung und der postindustriellen Revolution gewesen. Die Mitglieder der gegenwärtigen Mittelklasse in China würden jedoch die erste Generation darstellen, da ihre Elterngeneration nicht der Mittelklasse angehört hätte (8f). Für die Hochschulabsolventen aus ländlichen Regionen trifft diese These mehrheitlich zu. Ferner sei die Zeitspanne zwischen der Entstehung einer »alten Mittelklasse« (Industrie) und einer »neuen Mittelklasse« (Hightech-Branchen und Dienstleistungen) sehr kurz, sie existierten inzwischen sogar parallel. Die gegenwärtige chinesische Mittelklasse setze sich aus »Multiple collars« (za ling) zusammen und lasse sich keinesfalls auf »Blue« und »White collars« beschränken.15

Im Vergleich zu den 1990er Jahren bestehe eine zunehmend geringere Diskrepanz in den Gehältern zwischen diesen beiden Gruppen (7f). Im Interview stellt Z., geboren 1988, aus der Provinz Jiangsu stammend, Absolvent der South China Agricultural University, seine Verortung in der chinesischen Mittelklasse wie folgt dar:

Ich habe eine Hochschulausbildung als Basis [meiner Klassenzugehörigkeit], und wenn man sich das Klassensystem wie eine Pyramide vorstellt, so gibt es über mir die Klasse der Führungspersonen. Dazu würde ich die politische und wirtschaftliche Elite zählen. In der Mitte sitzt die Mittelklasse, an deren unterem Ende solche Leute wie wir uns befinden. Dann gibt es noch die Klasse der Bauern, Tagelöhner, der Arbeitsmigranten (...), Kriminelle, die ich alle zu einer Art untersten Klasse zählen würde. (…) Wie man in der chinesischen Gesellschaft aufsteigen kann? Das hängt wohl davon ab, wie sehr ich selbst darum kämpfe.16

Z.s Aussage stimmt mit denen fast aller Interviewpartner in Guangzhou überein. Inwieweit das Ziel einer gesellschaftlich anerkannten Zugehörigkeit zur Mittelklasse über ein höheres Einkommen im urbanen Raum erreicht werden kann, bleibt für die Yizu letztendlich oftmals jahrelang ungewiss.

 

Die Post-1980er-Generation

Zhou Zhihuang hat seinen Essay-Band17 zur Post-1980er-Generation u.a. in folgende Unterkapitel eingeteilt, die ziemlich treffend die Diskussionsthemen dieser Generation auch in den chinesischen Internetforen und Blogs widerspiegeln: »Wo ist unser Zuhause?«, »Wer hindert uns am Heiraten?«, »Zu den Eltern zurückkehren?« oder »Dreißig Jahre alt und nun?« (2010). Laut Lian gehören 95 Prozent der Yizu zur Post-1980er-Generation (2009, 12). Diese Generation, die nach dem Beginn der Wirtschaftsreformen geboren wurde, wuchs mit einer gleichermaßen durch die Eltern und die chinesische Regierung vermittelten Hoffnung auf, durch Bildung soziale Mobilität zu erlangen und eine glänzende Zukunft vor sich zu haben. Bis zum Jahr 2008, in dem diese Generation für ihr ehrenamtliches Engagement nach dem Erdbeben in Wenchuan und bei Olympia von den chinesischen Medien gelobt wurde, galt sie als verwöhnt und eher verantwortungslos (26). Inzwischen wird ihr Verantwortungsbewusstsein, Zielstrebigkeit, Durchhaltevermögen und Interesse an sozialer Gerechtigkeit und politischem Geschehen zugeschrieben.18 Ähnliche Charakteristiken, einhergehend mit dem Wunsch nach einem »guten« Leben, das mehr ist als »pures finanzielles Überleben«, werden – insbesondere nach den Selbstmorden in der Fabrik von Foxconn in Shenzhen und dem erfolgreichen Streik bei Honda im Sommer 201019 – der gleichen Generation von Arbeitsmigranten aus ländlichen Regionen mit niedrigerer Ausbildung zugeschrieben. Dass diese in den Fabrikjobs inzwischen ebenso wie die Yizu als Berufsanfänger zwischen 1200-2500 Yuan verdienen können, obwohl sie vergleichsweise wenig Bildung vorzuweisen haben, hat zu einer Annäherung der ökonomischen Situation der Post-1980er-Generation aus ländlichen Regionen im urbanen Raum geführt. Ein weiteres viel diskutiertes Phänomen ist die Vetternwirtschaft bei der Vergabe von Arbeitsplätzen, die es Absolventen dieser Generation ohne einflussreiche Eltern unmöglich macht, bestimmte Arbeitsplätze trotz ausreichender Qualifikation zu bekommen. In diesem Zusammenhang werden die Kinder von Staatsbeamten, Militärs und Reichen aufgezählt (guan’er, jun’er, fu’er), die zu den deutlichen Gewinnern der Gesellschaft gehören. Insbesondere innerhalb dieser einen Generation, deren Mitglieder als Kinder mit den gleichen Erfolgsaussichten aufgewachsen sind, hat inzwischen eine extreme Stratifikation stattgefunden (vgl. u.a. Lian 2010, 31ff).

 

Elitenförderung und Elitennetzwerke

Chan Wing-Kit20 weist in seiner Untersuchung der Ursachen für die eingeschränkte soziale Mobilität von Hochschulabsolventen aus ärmeren Familienverhältnissen und ländlichen Regionen darauf hin, dass die offizielle Arbeitslosenquote von Hochschulabsolventen zwischen 2003 und 2010 von 560 000 auf 1,75 Mio angestiegen ist. 2011 strömten 7,58 Mio neue Hochschulabsolventen auf den chinesischen Arbeitsmarkt und die Anzahl der Studierenden an den chinesischen Hochschulen wächst weiter (2011, 1). Das langjährige Verbleiben von Hochschulabsolventen in informellen Arbeitsverhältnissen wird demnach zukünftig eine zunehmend größere Bevölkerungsgruppe in China betreffen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Familien ihre gesamten Ersparnisse in die Ausbildung eines Kindes stecken21 und oftmals auf eine Rückzahlung ihrer Investitionen als Altersversorgung angewiesen sind. Chan hält daher die Gewährleistung eines fairen Zugangs zu guter Ausbildung im Hochschulbereich, aber auch von der Grundbildung ausgehend, für die wichtigste Aufgabe der zukünftigen chinesischen Bildungspolitik, um die Einschränkung der sozialen Mobilität von Hochschulabsolventen aus ländlichen Regionen aufzuheben. Seit dem Ende der 1980er Jahre wurde jedoch im Gegenteil vom chinesischen Bildungsministerium eine gezielte Elitenförderung betrieben. Gegenwärtig laufen beispielsweise die staatlichen Förderprogramme »985« und »211« (2).22 Chan sieht einen nach wie vor starken Einfluss des konfuzianischen Bildungssystems auf das Denken der chinesischen Bevölkerung. Die Zugangsprüfung zur Universität werde ähnlich wie die traditionelle kaiserliche Beamtenprüfung23 eingeordnet und es bestehe weiterhin der Glaube, dass nach erfolgreich abgelegter Prüfung soziale Mobilität unabhängig von der ökonomischen Situation der Herkunftsfamilie gegeben sei. Er gehe jedoch davon aus, dass der Großteil der Hochschulabsolventen aus ärmeren Familien von regulären Hochschulen ohne Eliteförderung in informellen bzw. schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen verhaftet bleiben und auch mit längerer Berufserfahrung nicht das erhoffte Maß an sozialer Mobilität erreichen wird.24 Chan Wing-Kit weist in seiner Analyse der Anstellungsprobleme von Hochschulabsolventen darauf hin, dass eben nicht alle von ihnen die gleiche Qualität an Ausbildung erhalten haben und eine Vielzahl nicht alle notwendigen Voraussetzungen wie fließendes Englisch im harten Konkurrenzkampf auf dem chinesischen Arbeitsmarkt mitbringen. Somit bleibt ihnen beispielsweise eine Stelle in transnational agierenden Unternehmen verwehrt – und auch die Chance, das nötige Kapital für den Kauf einer Eigentumswohnung in der Großstadt erwirtschaften zu können (2011, 9).

Was die Bedeutung familiärer Netzwerke betrifft, kommt Diao Pengfei nach vergleichenden Studien in der Mittelschicht in Beijing und Hongkong zu dem Ergebnis, dass mit nur geringen Abweichungen in beiden Städten circa 70 % der relevanten sozialen Kontakte aus Verwandtschaft bestehen und nur circa 30 % aus nicht-familiären Kontakten (2010, 87f). Da erscheint es logisch, dass soziale Netzwerke der Familie beim Zugang zu Arbeitsstellen oftmals entscheidend sein könnten. Die Yizu in Beijing gaben jedoch ein umgekehrtes Verhältnis von Familie (24,7 %) und engen Freunden (70,3 %) in ihrem unmittelbaren sozialen Netzwerk an (Lian 2009, 100). Hinsichtlich der Frage, welche Kanäle die wichtigste Rolle bei der Arbeitssuche in den Megastädten spielten, wurden in Beijing von Yizu folgende Antworten gegeben: man müsse selbst suchen 78,2 %; über Arbeitsvermittlungsagenturen 3,1 %; über Freunde und ehemalige Hochschullehrer 13,3 %; selbst ein Unternehmen gründen 1,9 %; sonstige 1,2 %. Der ›Kanal‹ Familie wurde nur mit 2,7 % angegeben. Bei der Zweitwahl wurden Freunde und Lehrer mit 35,8 % und Familie mit nur 11,4 % genannt (74).

 

Der Traum vom Wohneigentum als Eintrittskarte zur urbanen Mittelklasse

Der Immobilienboom in Chinas Megastädten ist eines der meist diskutierten Themen in den chinesischen Medien. Nachdem im Vorfeld der Olympischen Spiele, der Expo und der Asienspiele die Preise unaufhörlich nach oben gestiegen waren, musste die Zentralregierung Maßnahmen ergreifen, um den Immobilienmarkt ›abzukühlen‹. Im April 2006 startete der Netizen Zou Tao in Shenzhen das »No property buying project« (Bu mai fang yundong) und bekam 20 000 zustimmende Kommentare aus 32 Städten der Volksrepublik. Im Juli des gleichen Jahres wurde eine neue Regelung von der chinesischen Zentralregierung verabschiedet, die ausländische Direktinvestitionen in den Immobilienmarkt begrenzt.25

Vor dem Hintergrund der Gentrifizierung der Innenstädte ist der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum in China zunehmend erschwert. Li Zhang macht mit Blick auf die neue Mittelklasse (xin zhongchan jieceng) in Anlehnung an Pierre Bourdieus Habitus-Konzept auf die Entstehung eines »Klassenmilieus« (jieceng wenhua) aufmerksam. Sie spricht von einem Regime aus Wohneigentum, kultureller Orientierung, Konsum und Lebensstil (2008, 25). In einer Miets- oder Eigentumswohnung der neuen »Gated Communities« zu wohnen, vermittelt symbolisch die Zugehörigkeit zur Mitteklasse.26 Ferner kann nach dem Erwerb einer Eigentumswohnung eine unbegrenzte städtische Aufenthaltsgenehmigung für den Wohnungseigentümer und seine Familienangehörigen beantragt werden. Auch für eine Familiengründung wird inzwischen vom Ehemann erwartet, eine Eigentumswohnung mit in die Ehe einzubringen. In den 15 Interviews mit Yizu in Guangzhou sagten die Befragten übereinstimmend, dass sie nicht an eine Familiengründung denken könnten, bevor sie keine finanziell lukrative Arbeitsstelle und eine Wohnung hätten. 92,9 % der Yizu sind aus diesem Grund ledig (Lian 2009, 64). Bei einem Einstiegsgehalt von 1500- 2500 Yuan im Monat geben sie durchschnittlich 411 Yuan für Miete aus (vgl. Lian 2010, 261). Für die Anmietung einer sehr kleinen 2-Zimmer-Wohnung in den chinesischen Großstädten außerhalb der Urban Villages muss das monatliche Einkommen allerdings mindestens 4000-5000 Yuan betragen, um den Mietpreis von ca. 2000 Yuan und alle Lebenshaltungskosten knapp abdecken zu können. In Guangzhou gibt es gegenwärtig über einhundert Urban Villages, in denen ein ca. 10-20 qm großes Zimmer ohne Nebenkosten 250-800 Yuan kostet. Die Yizu leben mehrheitlich in solchen Wohnsiedlungen nahe der Universitäten und bestimmter Branchen (z.B. IT).

Shipai27, das größte Urban Village in Guangzhou, liegt mitten in der Stadt. Es herrscht ein reges Alltagsleben, da in den unteren Etagen der Wohnhäuser Geschäfte, Restaurants, Frisöre, improvisierte Kliniken, Call-Shops und Internetcafés untergebracht sind, die sowohl von den Einwohnern selbst als auch von Laufpublikum besucht werden. Im Vergleich zu den »Gated Communities« der oberen Mittelklasse, die sich bewusst in den privaten Raum unter ihresgleichen zurückzieht, ist der unmittelbare Lebensraum der Yizu sozial stark durchmischt. In den Urban Villages leben auch Arbeitsmigranten, Tagelöhner, Sexworker und Kleinhändler, von denen sich die Interviewten jedoch stark distanzierten.

Auch wenn die Yizu gegenwärtig kein Wohneigentum und keinen Lebensstil im Sinne der Definition von Lis »Mittelklassenmilieu« vorweisen können, so richten sie ihr Leben doch gezielt auf den Erwerb einer Wohnung und die Zugehörigkeit zu diesem Klassenmilieu aus und sind durch ihren Bildungsgrad Teil der Informations- und Mediengesellschaft, die eine Definition des Mittelklassen-Habitus in das Bewusstsein der urbanen Gesellschaft einschreibt.

 

Cyberspace als sozialer Raum der »Yizu« in den Megastädten?

Neben den Grunddaten über die Wohn- und Arbeitssituation der Yizu forschte Lian Si auch zu deren Identität, persönlichen Netzwerken, gesellschaftlichen Integration und kulturellen Verortung. 54 % der Yizu in Beijing kommen demnach aus ländlichen Regionen, 20,7 % aus Kreisstädten, 17,6 % aus Städten auf Provinzebene, 5,2 % aus Provinzhauptstädten und nur 1,8 % aus Großstädten (2009, 59). P., ein Masterstudent der Sun-Yatsen-Universität, der für seine Feldforschung ein Zimmer für einen Monat in Shipai angemietet hat,28 berichtete von Schlafstörungen (Lärm von den Restaurants und Kleinhändlern im Erdgeschoss des Hauses), Ausschlag (vermutlich durch mangelnde Hygiene, Ungeziefer, schlechtes Wasser) und vor allem von einem Gefühl der tiefen Niedergeschlagenheit, das er auf den Mangel an frischer Luft, Licht und sozialem Austausch nach dem Arbeitsalltag zurückführte. In diversen Sammlungen von tagebuchähnlichen Texten (u.a. Sun 2011, Zhon 2010) von Yizu in Beijing, Shanghai, Wuhan und Guangzhou wird Ähnliches berichtet. Jeder Tag mit langen Arbeitszeiten und langen Anfahrtswegen in überfüllten Bussen endet mit einigen Stunden am Rechner im Internet, da der Wohnraum zu klein und zu ungemütlich ist, um sich mit Freunden zu treffen, und jeder öffentliche Raum im Umfeld der Urban Villages zumeist mit Konsumpflicht verbunden ist, für den keine finanziellen Mittel vorhanden sind. Der öffentliche Raum, in dem sich die Yizu während der Woche außerhalb der Arbeit bewegen, ist primär der virtuelle. Oft kennen sich die Nachbarn in den Urban Villages untereinander nicht, die Fluktuation der Bewohner, das Misstrauen gegenüber Fremden und die Angst vor Betrügern und Kriminalität ist sehr groß. Der virtuelle Raum wird somit zum sozialen Raum: nicht nur aufgrund der ökonomischen Einschränkungen, sondern auch wegen des Mangels an physischen öffentlichen Orten, an denen sich Menschen versammeln und ohne Konsum kommunizieren können.29 Shangguan Muzi von der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften sieht daher in der Online-Interaktion die wichtige soziale Funktion »Mental Health Care« enthalten: die Schaffung von Gruppenzugehörigkeit und sozialem Ausgleich, die dabei hilft, Stress abzubauen (Shangguan 2010, 278). Eindrucksvoll nachzulesen sind Details über diese Lebensweise bei dem bekannten Blogger Philonis, einem ehemaligen Yizu, der seit 2006 Tagebuch über seine Erlebnisse in der IT-Branche in Beijing schreibt.30

Bemerkenswert ist, dass sich die Yizu trotz ihrer schwierigen Situation nicht als ›Verlierer‹ verstehen. Sie führen ihre Lage auf mangelnde Arbeits- und Lebenserfahrung zurück und meinen, dass sie trotz einer als ungerecht empfundenen Ausgangslage den Verlauf ihres Schicksals in den eigenen Händen hielten (Lian 2009, 14-16; Interviews in Guangzhou).

 

Flucht aus den Metropolen?

Die chinesische Zentralregierung sieht als Lösung für das Yizu-Problem deren Umzug in kleinere Städte, in denen Fachkräftemangel herrscht und die Immobilienpreise niedriger sind. Sie führt offensive öffentliche Kampagnen mit dieser Botschaft. Zugleich wird in zahlreichen Publikationen unter dem Slogan »Escape the Metropolis« scharfe Kritik an sozialer Stratifikation, Inflation, Diskriminierung von Arbeitsmigranten aus ländlichen Regionen und hohen Miet- und Immobilienpreisen geübt (vgl. Su/Dong 2010).

Lian zufolge wollen nur 23,1 % der Yizu auf jeden Fall in einer der Megastädte bleiben, 63,2 % nicht unbedingt, 13,4 % auf keinen Fall, 0,3 % haben einen Mangel an Entschlusskraft (2010, 259). Diejenigen, die sich entschieden haben, in den Megastädten zu bleiben, gaben folgende Gründe an: 48 % nannten Selbstverwirklichung und Umsetzung ihrer Träume, 34,9 % die guten Bedingungen einer Großstadt, 8,5 % das Glück der Familie, 7,7 % sonstige Gründen und 0,4 % Gesichtswahrung (257). Aus den Interviews in Guangzhou lässt sich ergänzend folgende Schlussfolgerung ziehen: Wenn die Yizu mit 23 bis 25 Jahren ihr Studium abschließen, leben sie im Durchschnitt zwischen drei und fünf Jahren in prekären Lebensverhältnissen. Wenn sie um die Dreißig sind und keine feste Anstellung in Aussicht ist, die Voraussetzung für eine Familiengründung wäre, würde die Mehrheit in eine kleinere Stadt ziehen. Das ist für die Absolventen in Guangzhou z.B. die Satellitenstadt Foshan mit Nähe zur Großstadt und niedrigeren Immobilienpreisen.

 

Informalität, soziale Gerechtigkeit und Interessenvertretung

Soziale Mobilität und Sozialversicherung sind freilich nicht nur für die Yizu sondern für große Teile der chinesischen Bevölkerung zu einer drängenden Frage geworden. 2006 befanden sich offiziellen Statistiken zufolge 40 % der Arbeitskräfte in informellen Arbeitsverhältnissen und erwirtschafteten dort 35 % des BIP (Ishii 2011, 77). Die Migranten der Post80er- und Post90er-Generation – meint Tomoaki Ishii – seien nun aber diejenige gesellschaftliche Gruppe, die ihre Lage deutlicher als andere reflektieren könne, ein Bewusstsein für ihre Rechte habe und über das Potenzial verfüge, die Forderung nach einer wirklichen Vertretung der Arbeitnehmerinteressen über die Arbeit der offiziellen Gewerkschaftsinstitutionen hinaus durchsetzen zu können (86). Für ein Zusammenwirken der zweiten Generation von Arbeitsmigranten aus ländlichen Regionen und den Yizu lassen sich jedoch gegenwärtig keine konkreten Prognosen formulieren. Laut Lian fi nden 0,8 % der Yizu die chinesische Gesellschaft sehr gerecht, 18,1 % relativ gerecht, 40,2 % durchschnittlich, 30,8 % ungerecht und 10,1 % sehr ungerecht (2010, 296). Lian sieht in diesen jungen gebildeten Menschen Chinas großes kreatives Potenzial, das jedoch auch zu negativer Wirkung kommen könnte, wenn ihnen kein Raum zur konstruktiven Selbstverwirklichung geboten würde (2009, 28). Als Möglichkeiten, ihre Rechte und Interessen in der chinesischen Gesellschaft zu schützen, wurden von den Yizu folgende Möglichkeiten genannt: an erster Stelle die Medien im Internet, an zweiter Stelle Printmedien, im Anschluss Petitionen, öffentliche Versammlungen, der gemeinsame Widerstand mit Verwandten und Freunden, sich beschweren, Aushalten, Streik und Demonstrationen (2010, 306). Ein Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeit und aktuelle Debatten bedeutet jedoch bei den Yizu noch nicht, dass sie Interesse an einem Zusammenschluss zu einer sozialen Bewegung haben. Am Ende jedes Interviews wurden die Absolventen in Guangzhou zum Thema soziale Mobilität und sozialer Gerechtigkeit befragt. L., geboren 1983, aus der Provinz Guangxi, Absolvent des Beijing Institute of Graphic Communication, antwortete wie folgt:

[Das Leben als »Ameise«] ist ein Prozess, der durch den gesellschaftlichen Druck entsteht. Unsere Generation, die mit solchen gesellschaftlichen Bedingungen konfrontiert
ist, hat keine andere Wahl als ein solches Leben zu führen. Die junge Generation während
der Kulturrevolution musste aufgrund des gesellschaftlichen Drucks auch einiges
durchmachen. Das Leben jeden Individuums ist unweigerlich von den gesellschaftlichen
Bedingungen einer Nation beeinflusst. (…) Es gibt keinen anderen Weg, den wir einschlagen
Könnten.31

Diese Antwort ist nicht überraschend für jemanden, der mit vollem Einsatz und allein um sein ökonomisches Überleben kämpft, sich in einem ewigen Konkurrenzkampf mit Millionen von anderen Hochschulabsolventen konfrontiert sieht, dabei Hoffnung auf eine bessere Zukunft seit seiner Kindheit in sich trägt und sich der politischen Grenzen des Systems sehr wohl bewusst ist.

 

Schlussfolgerung

Das Problem prekärer Arbeitsverhältnisse von Hochschulabsolventen beschränkt sich natürlich nicht nur auf China. Im Fall der Yizu besteht es jedoch nicht nur in einer Krise des Finanz- und Arbeitsmarktsystems wie in Europa, sondern in der historisch bedingten Aufteilung der Gesellschaft in ›urban‹ und ›ländlich‹, die bis in die Gegenwart in hohem Maße die soziale Mobilität eines durchschnittlichen chinesischen Bürgers von Geburt an vorbestimmt. Ein vollständig gleichberechtigter Zugang zu Bildung – und damit verbunden zu bestimmten Arbeitsplätzen und ökonomischem und kulturellem Kapital, einem permanenten Wohnsitz und abgesichertem Leben in einer der Megastädte – bleibt, so lange dieses binäre System existiert, der Mehrheit der chinesischen Bevölkerung aus ländlichen Gebieten verwehrt. Es gibt bisher noch keine Forschung, die den Umzug von Yizu in Kleinstädte nach den durchschnittlich drei bis fünf Jahren prekären Lebens in den Megastädten dokumentiert hat. Selbst ›Kleinstädte‹ haben in China immer noch mehrere Millionen Einwohner, und wenn es dort gelingt, eine feste Arbeitsstelle zu finden, eine Wohnung zu kaufen und eine Familie zu gründen, mögen für den einen oder anderen Yizu die Prophezeiungen der Regierungskampagnen doch noch aufgehen, auch außerhalb der Megastädte ein »Mittelklassen-Leben« verwirklichen zu können. Andere finden eventuell individuelle Lösungen, um in der Megastadt zu bleiben, wie die Heirat mit einer Person mit städtischem Hukou oder das Pendeln zwischen einer kleineren Satellitenstadt (Arbeit und Wohnsitz) und Megastadt (Freizeit). Bei der Mehrheit der Yizu ist auszuschließen, dass sie die Idee vom Stadtleben ganz aufgibt und in den ländlichen Geburtsort zurückkehrt, auch wenn die Lebensbedingungen schwierig sind. Die einmal erworbene gesellschaftliche Verortung als potenzielles Mitglied der urbanen Mittelklasse, basierend auf dem kulturellen Kapital des Studiums, und die während des Studiums gemachten Kontakte (auch wenn weder kapitalkräftig noch einflussreich) sind ausschlaggebend für die weitere Lebensplanung.

 

Literatur

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1 Der Begriff setzt sich aus »mayi« (Ameise) und »zu« zusammen, wobei letzteres Zeichen je nach Kombination mit weiteren Zeichen Clan-Mitglied (zuren), Nationalität (minzu) oder ethnische Gruppe (zuqun/minzu) bedeutet. Seit einigen Jahren wird »zu« im medialen Sprachgebrauch darüber hinaus für eine Gruppe mit gemeinsamen Charakteristiken oder Interessen in einer Vielzahl von Kontexten verwendet, beispielsweise auch für Gruppen von Teenagern mit gemeinsamen Hobbies.

2 Überschrift der Website »Yizu China«, http://www.china-yizu.com/, 2.11.2011.

3 Am 1.7.2001 hielt der damalige KPCh-Generalsekretär Jiang Zemin eine für die chinesische Klassendebatte revolutionäre Rede, mit der privaten Unternehmern offiziell die Möglichkeit zur Parteimitgliedschaft gegeben wurde (vgl. Zhou, 2005). Ferner wird in der informellen Gewerkschaftsbewegung gegenwärtig eine Debatte über die Arbeitsmigranten im Fabrikregime des Perlflussdeltas als »neue Arbeitersubjekte« geführt (vgl. Pun/Chan 2010, 258-76).

4 Gemeint sind die in den 1980ern und 90ern geborenen Arbeitsmigranten, die sich bereits über das urbane Leben definieren und die chinesischen Großstädte als ihren permanenten Lebensraum betrachten.

5 Es handelt sich bei den Zitaten aus und Zusammenfassungen von chinesischen Texten um meine eigenen Übersetzungen.

6 Die 15 Interviews sind im Rahmen des DFG-Projekts »Patterns of migrant community formation in China’s mega-urban Pearl River Delta – linking informal dynamics, governability and global change« (Leitung Bettina Gransow und Frauke Kraas) in Guangzhou, Provinz Guangdong, entstanden. Die Leitfragen konzentrierten sich auf die Themen Ausbildung, Wohn- und Arbeitssituation, Gesundheit, Gründe für das Ausharren in Guangzhou, Identität und politische, ethische und kulturelle Verortung und Zukunftspläne.

7 U.a. in den Foren tianya, sina.com, sohu.com, 163.com, 189.com, douban und qq.

8 Vgl. http://tv.sohu.com/s2011/woju/, 2.11.2011.

9 Z.B. wird in dem offi ziellen Jahresbericht zur gesellschaftlichen Entwicklung (Lanpishu) der Stadt Guangzhou das Selbstbewusstsein und politische Widerstandpotenzial der Post-1980er- und Post-1990er-Generation im Kapitel zu informellen Arbeitsverhältnissen erwähnt (vgl. Yi 2011, 265-69).

10 Beispielsweise in dem Konjunkturpaket nach dem Beginn der Weltfi nanzkrise 2008/2009: http://german.china.org.cn/fokus/2008-12/11/content_16935118.htm, 10.10.2011. Lians Studien wurden von Regierungschef Wen Jiabao gelesen, die Regierbarkeit dieser gesellschaftlichen Gruppe wird demnach auf höchster Ebene diskutiert (vgl. Lian 2009, 21).

11 Urban Villages wurden oftmals auf ehemaligem Ackerland errichtet, das durch Urbanisierung zum Stadtgebiet hinzugefügt wurde. Darauf wurden zumeist dicht nebeneinander billige 6-stöckige Wohnblocks gebaut, in denen einzelne Zimmer informell und temporär zu günstigen Preisen vermietet werden. Reinigung, Wasser- und Stromversorgung entsprechen oftmals nicht den regulären Standards. Es gibt jedoch auch Dörfer mit alten traditionellen Gebäuden, die Teil der Stadt geworden sind. Für einen historischen und aktuellen Überblick inklusive Fallstudien zu Yizu in Urban Villages siehe Chen 2011, 39-58 und allgemein zu Urban Villages in China in deutscher Sprache siehe Gransow 2007, 343-77.

12 Jeder Absolvent erhält nach seinem Abschluss eine einjährige Aufenthaltsgenehmigung für die jeweilige Stadt für die Arbeitssuche. Bei einer offiziellen Anstellung stellt das jeweilige Unternehmen oder die jeweilige Arbeitseinheit (danwei) eine temporäre städtische Aufenthaltsgenehmigung für die Dauer des Arbeitsvertrags aus, einen Kollektiv-Hukou (jiti hukou). Findet der Absolvent keine Festanstellung innerhalb der Frist, müsste er offiziell die Stadt verlassen und an den Ort zurückkehren, an dem er vor Studiumsbeginn gemeldet war. Das ist in der Regel der Wohnsitz der Eltern. Eine Vielzahl kauft sich daher nach Ablauf der Frist über eine Scheinanstellung in einer »Briefkastenfirma« (pibao gongsi) eine Aufenthaltsgenehmigung für 1-2 Jahre.

13 Xiaokang, ein Begriff mit konfuzianischen Wurzeln, bezeichnet im Kontext der Interpretation durch die KPCh einen Bürger, der relativ wohlhabend ist, ohne sich durch zu großen Reichtum von der Mehrheit der Bevölkerung abzuheben, und der immer auch das Wohl der Allgemeinheit mit im Auge behält.

14 Nachdem sich ausländische Geschäftsleute im Anschluss an den Opiumkrieg (1840) Zugang zum chinesischen Markt erzwungen hatten, warben Firmen mit ausländischem Kapital insbesondere im Shanghai der Republikzeit (1911-49) junge Chinesen mit ausländischen Sprachkenntnissen an – die erste Generation von »chinesischen White Collar Angestellten in ausländischen Firmen« (Zhou 2005, 3f).

15 Zhous Schema (für die Zeit seit 1978): (1) Privatunternehmer und Manager der Township-Enterprises; (2) Kleinunternehmer, selbstständige Chefs, Freiberufl er; (3) Parteikader, Intellektuelle und Führungskräfte der Staatsbetriebe; (4) White-Collar-Mitarbeiter von Firmen mit ausländischen Investoren, mittleres Verwaltungspersonal und Führungspersonal; (5) Verwaltungspersonal in Konzernen und sozialen Institutionen, darunter viele Universitätsabsolventen mit MBA und Anwälte; (6) Fachpersonal aus den Hochtechnologieindustrien und anderen neuen Industrien, oftmals mit ausländischem Universitätsabschluss, bspw. Firmengründer, Architekten, Anwälte, Buchhalter, Immobilienmakler, Aktienhändler und Vertriebspersonal (2005, 5f).

16 Interview No.09/ZT/04.09.11/GZ v. 4.9.2011 in Guangzhou.

17 Der Band erschien in Kooperation mit dem Internetportal Cloudary (Chengda wenxue) (http://www.sd-wx.com.cn). Aufgrund der Zensur und der großen Internetaffi nität in China werden viele Texte zunächst im Internet veröffentlicht.

18 Vgl. Diskussionen zu den Unterschieden der 1980er- und 90er-Generation unter http://www.douban.com/group/topic/2514261/, http://baike.baidu.com/view/816346.html oder http://www.hudong.com/wiki/90 %E5 %90 %8E, 10.10.2011.

19 Vgl. Artikel zu den Ereignissen im Sommer 2010: http://japanfocus.org/-Jenny-Chan/3408, 10.10.2011.

20 Chan gehört zu denjenigen chinesischen Wissenschaftlern, die ihre Beteiligung am öffentlichen Diskurs auch über Internetforen betreiben. Er hat bspw. bei Weibo ein Profi l mit über 1231 Fans: http://www.weibo.com/jackwkchan, 11.11.2011.

21 Wegen der Ein-Kind-Politik haben viele Familien nur ein Kind bzw. kann oftmals in ärmeren Familien mit mehreren Kindern nur das begabteste Kind einer Familie mit Stipendium eine Universität besuchen.

22 40 Hochschulen erhalten im Rahmen des Förderprogramms »985« (im Mai 1998 zum 100-jährigen Jubiläum der Beijing-Universität begonnen) hohe Summen vom chinesischen Bildungsministerium und sollen im transnationalen Wettbewerb zu den Elite-Universitäten ausgebaut werden. Das Programm »211« fördert 100 Ausbildungs- und Forschungsinstitutionen im 21. Jh., http://www.chinaeducenter.com/en/cedu/ceduproject211.php, 2.11.2011.

23 Sie wurde 1906 im Kontext der »Modernisierung« des chinesischen Bildungssystems abgeschafft.

24 Chan in einem öffentlichen Vortrag am 6.1.2012 in der Soziologie-Fakultät der Sun-Yatsen-Universität Guangzhou.

25 Siehe Details der Regelung: http://www.chinadaily.com.cn/business/2008-09/01/content_6986841.htm, 15.10.2011; zur Aktion von Zou Tao siehe auf Englisch: http://www.zonaeuropa.com/20060530_2.htm, 15.10.2011.

26 Siehe Photos einer neuen Wohnung einer ehemaligen Yizu: http://blog.sina.com.cn/s/blog_4a6849b50102e3rn.html, 11.11.2011.

27 Die detaillierte Geschichte von Shipai findet sich inzwischen im chinesischen und englischen Wikipedia.

28 Interview v. 28.9.2011.

29 Es entstehen temporär soziale Räume in den Großstädten, u.a. in Galerien, Buchläden und Cafés. Sie werden jedoch häufig im Rahmen von Großereignissen wie den Asian Games wieder geschlossen.

30 Philonis hatte am 10.10.2011 990 Fans bei Weibo (chinesisches Twitter), http://hi.baidu.com/Philonis.

31 Interview v. 7.8.2011 in Guangzhou. 

 

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