Europäischer Bankensozialismus

Die Finanzkrise feiert in diesem Jahr ihr fünfjähriges Jubiläum und scheint kein Ende zu nehmen. Im Gegenteil: Immer mehr Staaten geraten in ihren Sog, ja sogar vom Endspiel um den Euro ist allenthalben die Rede.

Die Politik übt sich in immer hektischeren Gipfeln, auf denen – so könnte man meinen – immer Größeres beschlossen wird. Auch der jüngste Gipfel hat erneut deutlich gemacht: Die Schnellschüsse und Volten der Politik häufen sich in einem derartigen Tempo, dass man zunehmend die Übersicht verliert, wer hier eigentlich was macht und wie viel das wen kosten kann.

Die dort gefallenen Beschlüsse sehen unter anderem eine direkte Rekapitalisierung von Banken durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) vor. Darüber hinaus soll bis zum Ende des Jahres eine neue europäische Bankenaufsicht eingerichtet und zugleich der Zugang der Staaten zu den EU-Rettungsschirmen erleichtert werden.

Die Hoffnung, auf diese Weise den Teufelskreis aus angeschlagenen Banken und maladen Staatsfinanzen zu durchbrechen, könnte sich jedoch als trügerisch erweisen. Denn nicht nur, dass die jüngst beschlossenen Maßnahmen lediglich die Symptome behandeln. Sie bergen obendrein immense Gefahren für den europäischen Staatenverbund und das globale Finanzsystem.

Zocken ohne Limit

Bis heute fehlt eine verlässliche Regulierung des aufgeblähten und außer Kontrolle geratenen Finanzsektors. Statt nach einer solchen nachhaltigen Lösung der Krise zu suchen, geben die EU-Staaten Gipfel für Gipfel Prinzipien auf, die sie kurz zuvor noch wie ein Mantra wiederholten – und tragen zu einer Verschärfung der Situation bei.

Ging es zu Beginn der Krise noch darum, sogenannte systemrelevante Banken zu stabilisieren, damit das Finanzsystem nicht mit einem großen Knall zusammenbricht, hat sich diese Begrenzung nach dem letzten Gipfeltreffen geradezu ins Gegenteil verkehrt: Der neu geschaffene Europäische Stabilitätsmechanismus wird – so die Idee – fortan auf Antrag jede Bank mit ausreichend Kapital versorgen. Besondere Auflagen, die die Finanzgeschäfte der jeweiligen Bank betreffen, soll es nicht geben.

Das Motto „Too big to fail“ ist damit hinfällig und der Finanzsektor von allen Fesseln befreit. In Zukunft müssen die Banken für das Eingehen irrationaler Risiken keinerlei Haftung mehr übernehmen. Stattdessen dürfen sie ab sofort ohne Limit zocken – in einem System, das uns bereits an den Rand des Abgrunds geführt und allein in Europa für Millionen Arbeitslose gesorgt hat. Und zur Belohnung können sich die Banker steuersubventionierte Boni auszahlen, die nicht selten in umgekehrter Proportionalität zur Leistung der Begünstigten stehen.

Gegen dieses grenzenlose Zocken wird auch die geplante europäische Bankenaufsicht wenig ausrichten können, die fortan alle Institute in der EU beaufsichtigen soll. Diese soll allerdings nicht in London bei der erst Anfang letzten Jahres aus der Taufe gehobenen – und mit einem Jahresbudget in Höhe von 20 Mio. Euro ausgestatteten – European Banking Authority angesiedelt sein. Stattdessen hat Angela Merkel durchgesetzt, dass die – ohnehin bereits überlastete – Europäische Zentralbank in Frankfurt a. M. diese neue Funktion übernimmt. Derzeit ist allerdings noch vollkommen offen, wie die EU dort bis zum Jahresende eine effektive Bankenaufsicht etablieren will.

Riskantes Schneeballsystem

Doch selbst wenn die Bankenaufsicht in der Lage wäre, die Geschäfte der Geldhäuser strenger zu überwachen, wären die Risiken längst nicht gebannt. Zwar lautet die wohlfeile Absicht der Brüsseler Beschlüsse, jede Pleite verhindern zu wollen. Allerdings dürften gerade die Gipfelentscheidungen zum genauen Gegenteil führen: zu einem gefährlichen Schneeballsystem, das jederzeit eine Pleitenlawine auslösen kann, die alles unter sich begräbt.

Denn die uneingeschränkte Rekapitalisierung aller Banken ist unter anderem notwendig, weil diese aufgrund des Wertverfalls von EU-Anleihen wachsenden Abschreibungsbedarf haben. Aus diesem Grund benötigen sie mehr Geld – das ebenfalls refinanziert werden muss.

Die Brüsseler Beschlüsse sorgen derzeit allenfalls für einen geringen Zeitgewinn, nicht aber für die Gesundung des Finanzsektors und der Staatshaushalte. Stattdessen droht das Schneeballsystem am Ende sogar zu noch mehr Staats- denn Bankenpleiten zu führen. Denn allein die Summen, die schon jetzt erforderlich wären, um die angeschlagenen Banken zu retten, würden 45 Prozent des ESM-Kapitals aufzehren.[1]

Dabei haben jüngst allein zyprische Banken einen Bedarf an 23 Mrd. Euro angemeldet. Der Haken ist nur: In Zypern sitzen weder sogenannte systemrelevante Banken noch Konzernzentralen der Global Player, die das Weltfinanzsystem destabilisieren könnten. Stattdessen gibt es auf der Mittelmeerinsel vermutlich mehr Briefkastenfirmen und Konten russischer Magnaten als Einwohner. Nicht ohne Grund engagiert sich Russland daher in Zypern bislang in größerem Ausmaß als die EU – auch wenn die russische Regierung Zypern 2008 noch auf eine schwarze Liste der Steuerparadiese gesetzt hat, während die OECD hier alles im grünen Bereich sieht.

Die Rechnung ohne die Pleiten gemacht

Somit wäre zumindest eine stärkere Kontrolle erforderlich, welche Banken überhaupt vom ESM unterstützt werden sollen. Zudem kann derzeit niemand beziffern, welche Summen der europäische Steuerzahler im Ernstfall auf den Tisch legen muss, wenn tatsächlich eine Banken- oder eine Staatspleite eintritt – was historisch betrachtet nichts Außergewöhnliches wäre.[2]

Die Bankenschulden in der EU sind weitaus höher, als die Staatsschulden. Nach Berechnungen des IFO-Instituts betragen sie in den fünf Krisenländern etwa 9,2 Billionen Euro.[3] Diese Summe kommt nach den jüngsten Beschlüssen in Brüssel zu den bisherigen Eventualverbindlichkeiten des ESM im Extremfall noch hinzu. Diesen Bankenschulden stehen allerdings Vermögen von Investoren, Hedge Fonds, Versicherungen und Banken gegenüber – die derzeit staatlich geschützt werden. Anstatt dafür zu sorgen, dass genau diese Vermögen durch die Politik in die Haftung genommen werden, haftet bislang vor allem einer: der Steuerzahler. Die öffentlichen Kassen stützen damit Vermögenswerte, die nicht nur durch zweifelhafte Finanzgeschäfte zustande gekommen sind, sondern deren Inhaber nicht einmal ihren Sitz in der EU haben müssen. Das bedeutet, dass die europäischen Steuerzahler auch für jene bürgen, die ihre Steuern nicht in einem Mitgliedsland der Union entrichten.

Nicht zuletzt die enge Verzahnung der Banken mit dem Schattenbankensystem, dessen Größenordnung die des sichtbaren Bankensystems um ein Vielfaches übersteigt, macht das Spiel mit den Schulden und Hilfen wesentlich gefährlicher, als alle der Öffentlichkeit bislang bekannten Zahlen uns weis machen.[4] Möglichen Ausfallrisiken begegnen die europäischen Politiker jedoch meist mit der Beschwichtigung, dass die ESM-Bürgschaften keine direkten Zahlungen, sondern vor allem Garantien und sogenannte Eventualverbindlichkeiten seien. Allerdings sind die möglichen Summen schwindelerregend: Allein die Staatsschulden der fünf derzeitigen Krisenkandidaten Italien, Irland, Spanien, Griechenland und Portugal belaufen sich auf rund 3,3 Billionen Euro.

In einem Eventualfall kämen auf die Gläubiger somit immense Summen zu – die anteilig noch zunähmen, wenn nicht nur ein, sondern gleich mehrere Staaten und mit ihnen eine Reihe von Banken Pleite gingen. Spätestens dann würden einige Faktoren hinzukommen, die bislang nicht auf der Rechnung stehen. Denn in den ESM zahlen die EU-Staaten selbst ein. Fallen einige von ihnen aus, müssen die verbleibenden Kandidaten die Beiträge dieser Länder übernehmen und die zusätzlichen Kosten unter sich aufteilen. Mit einem solchen Ausfall wären jedoch alle bis dahin vorgelegten Kalkulationen auf einen Schlag Makulatur.

Kurzum, der ESM funktioniert nur so lange, wie keiner der Beteiligten die Segel streicht. Und genau das ist ein Merkmal von Schneeballsystemen: Es geht so lange gut, bis zu viele Partien ihren Anteil sehen wollen. In einem solchen Fall bricht das System schlagartig zusammen.

Der Zusammenbruch ist weiterhin möglich

Tatsächlich wäre ein solches Szenario der echte Stresstest für den ESM – den die EU derzeit offenbar allerdings nicht einmal zu simulieren wagt. Die entscheidende Frage lautet daher: Was müsste getan werden, um einen solchen Zusammenbruch zu verhindern?

Wie das Beispiel Griechenland gezeigt hat, konnten die EU-Staaten eine echte Mithaftung der Gläubigerbanken bisher nicht durchsetzen. Stattdessen haben sie nur erreicht, dass Banken Positionen, die sie bereits abgeschrieben haben – und für die sie jahrelang hohe Zinsen erhalten haben – verrechnen konnten. Einen weiteren Beitrag müssen sie bislang nicht leisten; sie wurden damit faktisch aus jeder Haftung entlassen. Stattdessen haben sie, wenn überhaupt, auf künftige Gewinne verzichtet – Verluste, die die Banken intern bereits im Vorfeld „eingepreist“ haben dürften.

Die derzeitigen Pläne der EU sehen nun Ähnliches für alle Banken im europäischen Raum vor. Mehr noch: Die EZB gibt den Banken mit der sogenannten Dicken Berta Kredite im Volumen von einer Billion Euro zu einem Zinssatz von einem Prozent. Die Banken können diese Kredite unter anderem an Staaten geben und hierfür ein Vielfaches an Zinsen erhalten. Vor diesem Hintergrund wäre die direkte Staatsfinanzierung durch die EZB tatsächlich die vernünftigere Alternative – was allerdings nicht im Einklang mit dem Mandat der EZB steht.

An nachhaltigen Reformen des Finanzsektors ist die EU hingegen derzeit nicht ernsthaft interessiert. Zwar haben sich die Mitgliedstaaten darauf geeinigt, dass die Banken hier und da höhere Eigenkapitalquoten vorweisen müssen. Zugleich haben sie den Banken für deren Einführung aber Fristen bis zum Sankt Nimmerleinstag eingeräumt. Auch eine Trennung der gefährlichen Teile des Finanzsystems, wie dem Eigenhandel von Investmentbanken und deren Verbindungen zu Schattenbanken, von den ungefährlichen Teilen haben sie nicht erwogen.

Selbst die Diskussion darüber, wie groß eine Bank für eine Volkswirtschaft überhaupt sein darf, haben die Gipfelteilnehmer gemieden. Bislang ist daher immer noch ungeklärt, wie eine große Bank pleitegehen kann, ohne das gesamte System zu destabilisieren und in den Abgrund zu reißen – und wie sich in einem solchen Fall die Einlagen der Kunden retten ließen.

Regulierung statt Bankensozialismus

All diesen Fragen sind die europäischen Regierungen in den vergangenen Jahren beharrlich aus dem Weg gegangen. Stattdessen verschleißen sie sich im „Klein-Klein“ und verteilen Beruhigungspillen – wie etwa die Einführung einer Finanztransaktionssteuer. Gerade dieses Instrument jedoch trägt – so sehr es gesellschaftlich geboten sein mag – nur wenig dazu bei, dass der heutige Finanzsektor wesentlich sicherer wird. Zum einen werden sich die Banken wegen der vergleichsweise geringen zusätzlichen Kosten kaum von ihren riskanten Geschäften abbringen lassen. Zum anderen darf das Volumen der Finanztransaktionen nicht in großem Umfang abnehmen, wenn die Erlöse einer Finanztransaktionssteuer möglichst hoch ausfallen sollen.

Stattdessen ist eine Einhegung der spekulativen Geschäfte wie auch eine grundlegende Strukturreform des Finanzsektors dringend geboten. Vor allem der gegenwärtige Bankensozialismus muss so rasch wie möglich beendet werden. Denn das Problem des ESM besteht darin, dass ihm – bei einem Ausfall eines oder mehrerer Schuldnerstaaten – selbst das Wasser bis zum Halse steht. Als sogenannter lender of last resort kann ihm kein weiterer Gläubiger beispringen.

Von sinnvollen und nachhaltigen Lösungsansätzen sind wir allerdings derzeit weit entfernt. So werden die Abwicklungspläne, die die amerikanischen Aufsichtsbehörden vor wenigen Wochen von systemrelevanten Banken einholten, nicht verhindern, dass diese – in der Gewissheit, dass sie im Notfall mit Hilfe von Steuergeldern gerettet werden – auch in Zukunft hohe Risiken eingehen.[5]

Auch hierzulande ist man offenbar nicht gewillt, die richtigen Lehren aus dem Crash der US-Investmentbank Lehman Brothers zu ziehen: Das 2010 verabschiedete Restrukturierungsgesetz überträgt den Geldhäusern zwar einen Teil der Kosten künftiger Bankenkrisen. Zugleich sieht es aber auch weiterhin eine erhebliche Haftung der Steuerzahler vor. Entscheidend aber ist, dass bisher kein Gesetz verhindert, dass Banken „too big too fail“ sein können – und somit die schiere Größe der Geldhäuser eine Gefahr für das globale Finanz- und Wirtschaftssystem bleibt.

Es gibt somit nur einen Ausweg aus der Misere: Um die anhaltende Finanzkrise zu lösen, müssen Banken – statt mit öffentlichen Mitteln gestützt zu werden – Pleite gehen (dürfen), wenn sie sich verzocken. Anders wird auch der Teufelskreis der Verschuldung, der die Europäische Union derzeit in Atem hält, nicht zu durchbrechen sein. Und nur so können wir am Ende auch noch das Endspiel um den Euro gewinnen. Andernfalls lautet die Devise: Rette sich wer kann!

 


[1] Vgl. Oliver Grimm, Bankenunion: ESM wird nun auch Bankenhilfsfonds, http://diepresse.com, 2.7.2012.

[2] Vgl. Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart, This Time is Different: A Panoramic View of Eight Centuries of Financial Crises, www.nber.org/papers/w13882.

[3] Vgl. das Interview mit Hans Werner Sinn am 2. Juli 2012 im Deutschlandfunk, www.dradio.de.

[4] Vgl. Nicola Liebert, Rainald Ötsch und Axel Troost, Der graue Markt der Schattenbanken, in: „Blätter“, 6/2012, S. 83-90.

[5] Vgl. Großbanken machen in den USA ihr Testament, in: „Handelsblatt“, 3.7.2012.