Transnationale Märkte zwischen Überlebensökonomie und neuem Kosmopolitismus

„Ich musste meine Stelle aufgeben, weil mir kein Gehalt mehr gezahlt wurde. Jeder weiß, dass das heute sehr oft und in vielen Unternehmen geschieht. Seit sechs Jahren betreibe ich hier auf dem Markt mein eigenes Geschäft. Und es ist schwer, ein wenig Profit damit zu machen, weil wir eine Menge Steuern zahlen müssen. Das Einkommen hier reicht nur zum Überleben. Aber da ich Selbstunternehmerin bin, habe ich doch ein paar Vorteile: Ich kann freimachen, wann ich möchte, oder eben an bestimmten Tagen nicht arbeiten. Die meisten Waren kommen aus Moskau, Ismailowski und Chernizovskaja sind die billigsten Märkte, um Waren einzukaufen. Ich fahre mit dem Bus dorthin. Wie oft ich fahre, hängt vom Handel ab, manchmal einmal, manchmal zweimal die Woche oder auch nur einmal im Monat. Ich kann es mir nicht leisten, in die Türkei oder nach Polen zu reisen, was die meisten Leute taten, als sie mit ihrem Pendelhandel (shuttle-trade business) Mitte der 1990er Jahre anfingen, zu einem Zeitpunkt, als die Bedingungen dafür günstig waren. Inzwischen können es sich immer weniger Leute leisten, in die Türkei zu fahren. Die, die Anfang der 1990er Jahre damit begannen, haben heute teure Kioske, einige haben sogar Geschäfte eröffnet. Sie können teure Waren verkaufen, ich verkaufe billige.

Während der Sowjetzeit habe ich in einer Fabrik gearbeitet. Ich wusste, dass ich immer mein monatliches Einkommen habe. Und wenn ich mir etwas Größeres leisten wollte, dann habe ich gespart, weil ich wusste, alles ist stabil, auch die Preise. Heute habe ich diese Möglichkeit nicht, weil ich nicht sicher bin, was morgen ist. Das Einkommen kann steigen oder fallen. Deshalb, ja, ich denke, es war besser vorher. Ich würde sogar wieder in einer Schlange anstehen, um Wurst oder Fleisch zu kaufen, weil ich zumindest wüsste, dass ich jeden Zwanzigsten des Monats ein stabiles Einkommen habe. Ich würde es nie vorziehen, hier auf dem Markt zu sitzen, meine Gesundheit zu gefährden und meine ganze Energie darauf zu verschwenden, all die Pakete von Waren hierher zu bringen. Ich mag diese Art Leben nicht, aber ich habe keine Alternative“.1 Die Händlerin ist Mitte vierzig, sie verkauft Kleidungstücke in einem eher provisorischen Verkaufsstand auf dem Kalhozny-Markt in Smolensk. Die Erzählung steht für viele, die wir auf den Märkten in Smolensk getroffen haben, einer 300.000-Einwohner-Stadt unweit der Grenze Russlands zu Weißrussland.

Neben Rentnern, die heute ihre selbstgezüchteten Kartoffeln und Möhren auf Holzkisten anbieten, um sich etwas zur Rente dazuzuverdienen, trifft man auf den Smolensker Märkten auch ehemalige Buchhalter, Sekretäre, Ingenieure  oder Lehrer in zu Drogerien und Boutiquen umgebauten Garagen. Mit viel Improvisationstalent wurden die grauen Betonwürfel in Geschäfte verwandelt, die etwas von der Sehnsucht ihrer Betreiberinnen nach dem Glamour der Warenwelt erzählen. Entweder sie sind selbst die Besitzer dieser Kioske oder sie arbeiten für den Inhaber einer Kioskkette, eine jener Personen, die in den Hochzeiten des Kioskhandels reich geworden sind. Dennoch übersteigt für viele das Einkommen hier das, was sie im Schuldienst oder im staatlichen Unternehmen verdienen würden.

Auch in Smolensk geht die Stadtregierung mittlerweile restriktiv gegen die Kioske vor. Während Anfang der 1990er Jahre der Mangel an Konsumgütern und die Sehnsucht nach westlichen Waren, und seien es nur die Imitationen aus China und der Türkei, die provisorischen Märkte expandieren ließen, unterliegen diese heute mehr und mehr staatlicher Regulation. Die Kioske waren Wegbereiter einer Kapitalisierung der russischen Gesellschaft. Sie sind Orte eines prekären Unternehmertums, das an die Stelle der vormals staatlich garantierten lebenslangen Beschäftigung getreten ist.

Mit dem Wandel in den Konsummustern und der Konsolidierung gespaltener Einkommensverhältnisse möchte man sich nun auch der Provisorien eines „wilden Kapitalismus“ entledigen. Aber während in Moskau und Sankt Petersburg die Märkte mehr und mehr zum Gegenstand der Diskriminierung von Seiten der politischen Eliten wurden, stellen sie in Provinzstädten wie Smolensk immer noch eine wichtige ökonomische Aktivität für diejenigen dar, die mit den Ungewissheiten und Unsicherheiten des postsowjetischen Russland szu kämpfen haben.

Der Kioskhandel wurde vielfach als Phänomen diskutiert, das in den Turbulenzen der gesellschaftlichen Transformation eher ein Übergangsmodell beschreibt, und insofern quasi als Fähre vom Sozialismus zum Kapitalismus westlicher Prägung zu verstehen sei. Aber dessen Persistenz stellt genau diese Perspektive in Frage. Denn sie folgte generell einer Lesart der Umbruchprozesse im östlichen Europa, die in den 1990er Jahren von einer wie es Klaus Müller nennt, „Mythologie eines universalen Übergangs aller Transitionsländer zur Marktwirtschaft und Demokratie“ geprägt gewesen ist (Müller 2004, 66). Die Transformationsforschung hat in den letzten 15 Jahren diese evolutionistische Perspektive, die davon ausging, dass die Implementierung der Schlüsselprinzipien westlicher Gesellschaften – Privatisierung, Liberalisierung und Demokratisierung – rasch zu „blühenden Landschaften“ führen würde, einer scharfen Kritik unterzogen.

Die Kioske sind insofern ein interessantes Forschungsfeld: Zum ersten stellen sie eine besondere ökonomische Aktivität dar, bei der die Logiken der Vergangenheit auf besondere Weise die Gegenwart beeinflussen. Ethnografische Studien in postsozialistischen Kontexten heben in diesem Zusammenhang hervor, dass eine strikte Opposition zwischen dem „Markt“ und der „sozialistischen Marktwirtschaft“ wenig zum Verständnis des postsozialistischen Alltags beitragen kann: “What is often forgotten“ so Caroline Humphrey „is, that this version of the market did not land on unoccupied ground ... We are not dealing simply with the clash of two mutually alien economic systems, the market and the socialist planned economy, but with a more complex encounter of a number of specific culturally embedded and practical organisational forms” (Humphrey / Mandel 2002, 3). Wie diese differenten kulturellen Normen und Praktiken sich überlagern und welches Spannungsfeld widersprüchlicher Interpretationen dies hervorruft, soll am Beispiel des Kioskhandels diskutiert werden. Es wird zu zeigen sein, welche hybriden Formen prekären Unternehmertums aus der Gemengelage widersprüchlicher Dispositionen im Kioskhandel entstanden sind und wie „Markt“ dabei neu erfunden wird.

Zum zweiten ist der „petty trade“ der postsozialistischen Unternehmer, nimmt man die Konditionen des „doppelten Strukturwandels“ ernst, von vornherein in einem transnationalen Raum angesiedelt. Er ist nicht nur Reaktion auf den global induzierten dann aber lokal wirksamen Zusammenbruch vieler auf dem Weltmarkt nicht mehr wettbewerbsfähiger Unternehmen, sondern hat selbst eine ganze Bandbreite von grenzüberschreitenden ökonomischen Aktivitäten zum Hintergrund: Der Verkäufer ist nur der Vorposten eines weit gespannten transnationalen Netzwerkes, bestehend aus Pendlern, die die Waren einkaufen, Busunternehmen, Billigfluglinien, Frachtunternehmen und anderen kleinen Dienstleistern, Sicherheitspersonal, Schutzgeldeintreibern, Warenproduzenten, billigen Hotels, Pensionen und Wohnungsanbietern. Der Kioskhandel  stellt insofern auch hinsichtlich des im Globalisierungsdiskurs zentralen Begriffs der Mobilität ein aufschlussreiches Forschungsfeld dar. Aus dem Unterwegs-Sein, dem Agieren zwischen mehreren Welten, erwachsen schließlich auch neue Lebenschancen und Handlungsoptionen.

Es soll also im folgenden darum gehen, die Besonderheiten des prekären Unternehmertums des Kioskhandels nach zwei Seiten hin auszuleuchten: als hybride Mischform eines unternehmerischen Selbst, das aus unterschiedlichen kulturellen Versatzstücken und tradierten Formen einer Alltags- und Überlebensökonomie seine Anleihen bezieht, und als transnationale Praxis, die von neuen Formen sozialer Mobilität begleitet ist.

Zwischen Vertrauenssache, neuem Händlertum und sozialem Sprungbrett

Am Beispiel von drei der Praxis des Kioskhandels zugrundeliegenden kulturellen Konzepten sollen die Besonderheiten dieses postsozialistischen Unternehmertums analysiert werden. Dabei wird zu zeigen sein, welche Prägekraft tradierte Muster für das gegenwärtige Kioskhandeln haben. Es geht nun erstens, um die Rolle von Vertrauen in den sozialen Beziehungen, zweitens, um den Begriff von Arbeit und Produktion und drittens, um das Verständnis von Eigenem versus Fremdem.

Die Rolle des Vertrauens

Kioske existierten schon vor der Perestroika als mobile Handelseinrichtungen in den sowjetischen Städten. Meist an den Verkehrsknotenpunkten und U-Bahn-Stationen postiert, wurden hier vor allem Zigaretten und Wodka von „Babuschkas“ verkauft – für viele Rentnerinnen überschüssige Güter, die sie aber im staatlichen Distributionssystem zugeteilt bekamen und aus deren Tauschwert sie nun Nutzen ziehen wollten. Kioske waren Ausdruck der Existenz marktwirtschaftlicher Elemente unter planwirtschaftlichen Bedingungen. Viele der Händlerinnen entwickelten aus dieser Praxis ein Standortwissen, das ihnen in postsozialistischen Zeiten zugute kam.

Auch im eigenen Anbau hergestellte Produkte, wie „Pickles“ oder Gemüse wurden in den kioskähnlichen Strukturen angeboten. Insofern haben Traditionen der häuslichen Herstellung/Haushaltproduktion von Nahrungsmitteln auch in der kommunistischen Ära überlebt. In den nahe den Mikroraions gelegenen Datschas setzten sich Gewohnheiten ländlicher Lebensweise und Tradition fort. Deema Kaneff hat am Beispiel bulgarischen Kleinhandels nachgewiesen, dass das ideologische Konzept des „Transforming peasants into workers...meaning petty commodity who traded at the local market into collectivized producers engaged into state production“ seinen eigenen Pfad unter den Bedingungen der Mangelwirtschaft nahm (Kaneff 2002, 37). Staatliche Produktion und Haushaltproduktion existierten nebeneinander und die Individuen waren oft gleichzeitig in beide Formen involviert. Das galt vor allem für jene, die vom Land in die neuen Mikroraions zogen: Datschas ersetzten den Verlust des eigenen Hofes. Diese hauswirtschaftliche Ökonomie gehörte zu den bestimmenden Elementen der familiären Rituale: Man half sich gegenseitig bei der saisonalen Ernte, selbst wenn die Familienmitglieder in unterschiedlichen Städten lebten. Diese Beispiele verdeutlichen, dass Traditionen einer „zweiten, inoffiziellen Ökonomie“ bis in die Gegenwart hinein wirksam sind. Vor dem Hintergrund einer Mangelökonomie hatten sich im gesamten ehemaligen Ostblock Netzwerke der Versorgung mit Ressourcen, Dienstleistungen und Waren gebildet. Diese zweite Ökonomie betraf nicht nur das alltägliche Leben des „kleinen Mannes“, auch die staatliche Ökonomie war hochgradig von informellen Aktivitäten durchsetzt. Informelle Beziehungen existierten innerhalb weitgreifender Familiennetzwerke, aber auch und vor allem zwischen Freunden, Nachbarn, Kollegen. Um ein normales Leben im sozialistischen Alltag zu führen, waren informelle Kanäle nahezu unerlässlich. Das soziale Kapital einer Person konnte insofern bei ihren alltäglichen Interaktionen in eine andere Kapitalsorte transformiert werden. Alena Ledeneva hat die kulturelle Besonderheit des Blat – so das russische Wort für diese spezifischen Austauschbeziehungen – in Abgrenzung von Beziehungen analysiert, wie sie dem Schenken oder dem Warenaustausch zugrunde liegen. Blat findet in einer Gemeinschaft statt, zwischen Menschen, die regelmäßig interagieren. Blat ist insofern repetitiv, und die Partner sind einander bekannt. Die Reziprozität in Blat-Beziehungen basiert auf einem beiderseitigen Verständnis von Fairness und Vertrauen, dem zufolge jede Seite Verantwortung trägt für die Befriedigung der jeweils anderen. Weil es keine formellen Sanktionen und Regeln gibt, muss die wechselseitige Balance in Blat-Beziehungen immer wieder neu hergestellt werden (vgl. Ledeneva 1998, 193). Inwiefern haben sich nun diese Austauschbeziehungen nach 1990 verändert?  Der Wandel des Sprichworts „Du hast nicht 100 Rubel, aber 100 Freunde“ zu „Du hast nicht 100 Freunde, aber 100 Dollar“ beschreibt zweifellos gut die radikale Monetarisierung sozialer Beziehungen. Er zeigt an, dass Geld nun zum realen Medium des Austauschs geworden ist – anstelle persönlicher Beziehungen und Netzwerke. Viele Studien machen jedoch darauf aufmerksam, dass sich zwar die Bedingungen der „economy of favours“ verändert haben und damit auch der Charakter dieser informellen Netzwerke, dass sie aber nicht vollständig verschwunden ist (Arnstberg / Boren 2003, 13ff.). Gerade in den schwierigen Zeiten der Transformation war und ist Blat für diejenigen eine wichtige Ressource, die nicht über große Geldsummen verfügen. Sie sind abhängig vom sozialen Kapital – um einen zweiten Job zu finden, ein Darlehen zu bekommen oder ein postsozialistischer Selbstunternehmer zu werden. Hat Blat vorher den Mangel an Waren ausgeglichen, so kompensiert er nun den Mangel an Geld und hat wahrscheinlich für die Mehrheit ein Überleben in den Turbulenzen der Transformation erst möglich gemacht.

Zum Konzept von Arbeit

Viele  Menschen, die wir auf dem Markt trafen, verloren ihre Beschäftigung in einem staatlichen Unternehmen in Smolensk Mitte der 1990er Jahre. Für den Kiosk-Markt in Kiseljowka trifft das auf besondere Weise zu: Die Mehrheit der Bewohner des Mikroraions Papovka zog erst in den 1960er Jahren vom Land in die Plattenbauten. Sozialistische Neubausiedlungen wie der Mikroraion in Smolensk wurden in einer Zeit gebaut, als mit der Konzentration auf die Schwerindustrie in der Sowjetunion massenweise Bevölkerung vom Land für die Arbeit in der Industrie rekrutiert wurde. Für viele stellte das Wohnen in einem modernen Block mit fließend warmem Wasser und Heizung einen Fortschritt dar. Das ideologische Projekt der Transformation der ländlichen Bevölkerung in sozialistische Arbeiter eines staatlichen Betriebes hinterließ seine Spuren auf der Seite dieser neuen Werktätigen: Die Herauslösung aus ländlichen Traditionen und die Integration in eine wenn auch wenig urbanisierte Umgebung waren zweifellos auch mit Emanzipation verkoppelt. „Bevor ich hier angefangen habe, Obst und Gemüse aus meiner Datscha zu verkaufen”, erzählt uns eine Händlerin, „habe ich die technische Ausrüstung von Düsenjets betreut, die schneller flogen als die Lichtgeschwindigkeit. Ich habe das Institut für Luftfahrttechnik absolviert. Ich habe gut verdient und nun bin ich Rentnerin. Jeder, der hier auf dem Markt arbeitet, hatte vorher einen guten Job und alle mussten ihre Arbeit aufgeben, auf den Markt gehen oder als Shuttler arbeiten. Meine beiden Söhne zum Beispiel haben das Militärinstitut abgeschlossen und was machen sie jetzt: Sie sind beide gezwungen, als Shuttler zu arbeiten, und sie pendeln zwischen Polen und Smolensk. Ich lebe hier im Mikroraion neben dem Markt. Alles was ich verkaufe, habe ich selbst gezüchtet auf meinem eigenen Land in der Datscha. Ich spekuliere nicht, ich verkaufe nicht, was andere Leute produziert haben. Ich verkaufe nur, was ich selbst hergestellt habe. Während der Sowjetzeit kam niemand auf die Idee, irgendetwas zu verkaufen. Aber inzwischen sind die Menschen nicht mehr wohlhabend“.2 Hier sind es zum einen normative Vorstellungen von Arbeit, die nur im Zusammenhang mit Produktion als sozialer Wert verstanden wird, weil sie für die Gemeinschaft tätig sind, währenddessen Händler in dieser Sicht vorrangig für ihre eigene Tasche arbeiten. Es sind Wertvorstellungen von ehrlicher Arbeit, für das Kollektiv und in Respekt vor der arbeitenden Bevölkerung, die das Selbstverständnis und den Werthorizont vieler Bewohner des Mikroraions bis heute prägen (Humphrey 1999, 22ff.). Hinzu kommt im Falle der oben zitierten Händlerin der Stolz, an einem technologischen Fortschritt verheißenden Projekt – der Flugzeugproduktion – mitgewirkt zu haben. Der Handel mit im eigenen Haushalt hergestellten Gütern muss sich demgegenüber wie ein Schritt zurück ins Mittelalter ausmachen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass viele Menschen immer noch mit ihrer inneren Abneigung zu kämpfen haben, sich als Händler oder Händlerin im Straßenraum öffentlich zu exponieren.

Für die zitierte Händlerin stellt die Anforderung, heute, nach langer Anstellung in einem Staatsunternehmen eine prekäre unternehmerische Existenz aufzubauen, nicht nur auf Grund der Risiken und Unsicherheiten ein schwieriges Unterfangen dar: An der Ecke zu stehen und Sachen zu verkaufen, ruft auch deshalb Scham und Unwohlsein hervor, weil in ihrem Wertekosmos diese Tätigkeit nicht mit ihren tradierten Vorstellungen von Arbeit korrespondiert. Es handelt sich um ein spezifisches Verständnis von ehrlicher „Arbeit“ und „Produktion“, das auch die Art und Weise prägt, wie sie ihre gegenwärtige Tätigkeit interpretiert. Kleinhandel auf dem Markt wird vor allem von denjenigen abgewertet, die lange Zeit in staatlichen Betrieben beschäftigt gewesen waren. Schließlich galt der „Markt“ in sozialistischen Zeiten als eine der inneren Logik des Systems grundsätzlich widersprechende Praxis: Er stand für eine individualistische Aktivität in einer wettbewerbsorientierten Umgebung. Demgegenüber galt die Beschäftigung in der staatlichen Produktion als Ausweis der Integration in das sozialistische Kollektiv (Kaneff 2002, 34).

Das Verständnis von Eigenem versus Fremdem

Kioskhandel ist eine ökonomische Aktivität, die in besonderer Weise mit Mobilität verkoppelt ist. Menschen sind dabei zum einen permanent gezwungen, regionale und nationale Grenzen zu überwinden, um ihren eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Mobilität gehört zum Alltag der Händler, die in unserem Fall zwischen Smolensk, Moskau und Istanbul hin- und herpendelten. Zugleich  bilden sich im Kioskhandel aber auch die mit dem gesellschaftlichen Systembruch verbundenen Flexibilisierungs- und Mobilitätsanforderungen an die Individuen ab. Auf dem Markt trifft man schließlich auch Menschen, die mit dem Kioskhandel auch neue Lebenschancen für sich entdeckt haben: „Ich kann nicht sagen, dass ich unglaublich reich geworden bin“, erzählt uns eine Händlerin, „aber ich behaupte schon, dass das mein Business ist. Das ganze Leben, denke ich, habe ich mich eigentlich in diese Richtung bewegt. Ich mag es, mit den Leuten zu reden, und sie mögen es, sich mit mir zu unterhalten. Ich mag diesen Markt hier. Sicher ist hier vieles mangelhaft, aber ich mag meine Kunden, und sie mögen mich. Ich habe 22 Jahre in einem Ingenieurbetrieb gearbeitet, und natürlich konnte ich dort nicht bleiben. Ich war gezwungen, hierher zu gehen. Aber selbst wenn das alte Unternehmen mir eine Menge Geld anbieten würde, ich käme nicht zurück. Das ist meine Berufung, mein Business“.3 Andere auf dem Markt sind Angestellte von Betreibern mehrerer Kioske. Eine junge Lehrerin, die wegen ihres geringen Einkommens als Staatsangestellte nun lieber als Verkäuferin auf dem Markt arbeitet, zählt uns die Vorteile auf: Sie muss sich nicht mehr herumplagen mit Kindern, die nur noch gegen Geld anderen bei den Hausaufgaben helfen, und sie hat ein sicheres Einkommen als Angestellte, anders als die Kleinunternehmer draußen in den Garagenkiosken. Ein jüngeres Pärchen betreibt zwei Kioske in Smolensk – sie verkaufen Turnschuhe, zumeist aus China. Beide haben Ökonomie studiert und sehen den Kioskhandel als Start für ein eigenes Unternehmen. Der Argwohn, der den erfolgreichen Händlern auf dem Markt entgegenschlägt, hat nicht nur etwas mit den kontrastierenden kulturellen Vorstellungen von ehrlicher Arbeit zu tun, sondern ist auch Ausdruck der Irritation des Einbruchs des Fremden, in Gestalt der mobilen Praktiken der Händler, in den gewohnten Nahbereich. Gerade postsowjetische Städte wie Smolensk waren bisher wenig durch Austausch und Bewegung geprägt. Die Wahrnehmung des prekären und mobilen Unternehmertums der Kioskhändler trifft auf eine Gesellschaft, die durchzogen ist  von den Wertkomplexen und Erfahrungsbeständen einer eher geschlossenen Gesellschaft. Sarah Busse hat darauf aufmerksam gemacht, dass die ehemalige Sowjetunion auf mehreren Ebenen auf besondere Weise sozial-räumlich strukturiert war: Reisebeschränkungen auf nationaler Ebene wurden in der ehemaligen Sowjetunion noch verstärkt durch die Restriktionen des Propiska-Systems zwischen den einzelnen Oblasten, und diese Beschränkungen setzten sich fort in der nahezu nicht vorhandenen sozialen Mobilität: Arbeitsverträge galten sozusagen von der Wiege bis zur Bahre – was zu langfristigen sozialen Beziehungen mit Nachbarn, Kollegen und Freunden führte, aber auch zu sozialer Isolation und wenig Kontakt mit Fremden (Busse 2001). Aus dieser Konstellation resultierten bestimmte Normen und Wertvorstellungen von Sesshaftigkeit und Heimat, die bis heute ihre Prägekraft erhalten haben. Aus der besonderen Konstellation der vormals geschlossenen Gesellschaft resultiere, das behauptet Caroline Humphrey, ein bestimmtes „regime of citizenship“ in Russland. Dabei handelt es sich um Konstruktionen von Gemeinschaft, die von der Brigade, verstanden als Kollektiv, über das Unternehmen, den Distrikt und die Region bis hin zu Russland selbst reichen – und die angesichts der permanenten Unsicherheit im „Territorium“ quasi letzten Halt in riskanten Zeiten versprechen. Händler gelten auch deshalb als bedrohlich, weil ihre Existenz auf dem Austausch von Produkten über Grenzen hinweg beruht und sie diese quasi letzten Gewissheiten in Frage stellen (Humphrey 1999, 22ff.).

Zwischen einem „Wir“ und den „Anderen“ wird säuberlich unterschieden. Ulf Matthiesen hat darauf hingewiesen, dass eine zentrale Figur, die um die raumzeitlichen Verortungen im Transformationskontext kreist, das Verhältnis zwischen Eigenem und Fremdem ist. Gesellschaftliche Umbrüche wie der komplexe Systemwandel im östlichen Europa hätten diese Koordinaten menschlichen Handelns gründlich durcheinandergebracht.

„Unter dem starken Transformations- und Globalisierungsdruck“, so Matthiesen weiter, „werden Naherfahrungen offenkundig strukturell besonders prekär. Umso dringender bedürfen sie der Rekodierung bzw. eines spezifischen re-embedding. Zugleich wird der Einbruch von unberechenbaren Fremdheitserfahrungen zum chronisch erwarteten Erfahrungshintergrund“ (Matthiesen 2002, 340). Die mobilen Praktiken der Händler und der auch damit verbundene Erfolg provozieren bisherige Vorstellungen von Sesshaftigkeit: Auf den Einbruch des Fremden in den gewohnten Alltagshorizont wird mit Abwehr reagiert. Für die Dagebliebenen wird die Normalität des Zuhause quasi zum letzten Refugium, das noch Ordnung und Sicherheit angesichts einer sich ständig verändernden Außenwelt garantiert. Hier wird auf einen Ort der Unveränderlichkeit und Normalität in einem Kontext insistiert, der durch das Aufbrechen von gewohnten Bezugsrahmen und Soziallandschaften, durch neue soziale Differenzierungen und durch mobilisierte Verortungen gekennzeichnet ist. Manuel Castells hat für diese Modi der raum-zeitlichen Verortung den Begriff des „defensive space“ (Manuel Castells) eingeführt: Das sind Räume die von denen errichtet werden, die vom Leben in einer sich beschleunigenden postindustriellen Gesellschaft mehr und mehr ausgeschlossen werden (Castells 1996, 402).

Die Rückkehr des Marktes als kosmopolitisches Unternehmen

Unter den Bedingungen einer globalen Arbeitsteilung sind auch die ökonomischen Aktivitäten des Shuttle Trades in internationale Austauschnetzwerke eingebunden.

Schließlich erlaubte die rasche Öffnung zum Weltmarkt, dass Waren und Arbeitskräfte zunächst ungeregelt zu- und abströmten. Die erheblichen Preis- und Wechselkursdifferenzen ließen einen umfangreichen grenzüberschreitenden Handel bzw. Schmuggel entstehen. Menschen mit unterschiedlichsten Berufen, die zunächst meist nur ihr Einkommen mit einem Zuverdienst aufbessern wollten, pendelten zwischen Istanbul-Laleli, Moskau und Smolensk hin und her, um Unmengen von Textilien und Stoffen in Russland weiterzuverkaufen und damit die Nachfrage nach Konsumgütern zu decken. Dutzende von sogenannten Pendelunternehmern, alleine oder mit zwei bis vier Partnern, importierten, was sie zu schleppen in der Lage waren. Dabei benutzten sie gewöhnliche Gepäckstücke (meist riesige Stofftaschen), die sie in einem Zugabteil, im Schiff oder Flugzeug verstauen konnten. Die Geographie des Kioskhandels besteht aus einem weit gespannten Netzwerk von Austauschbeziehungen. Urbane Knotenpunkte dieses transnationalen Kofferhandels stellten Moskau, Budapest, Warschau und Istanbul dar. Seit Anfang der 1990er Jahre ist der Istanbuler Stadtteil Laleli ein Zentrum des transnationalen Textilhandels zwischen Ländern des ehemaligen Ostblocks und der Türkei. Die in der Türkei preiswert produzierten Textilien lockten, als die Grenzen geöffnet wurden, scharenweise Händlerinnen aus Russland nach Istanbul. Die kauften, so viel sie selbst in ihren Koffern tragen konnten, um die Waren dann in Moskau weiterzuverkaufen. Damit bedienten sie nicht nur die Nachfrage nach Konsumgütern in Russland, sondern verhalfen auch der türkischen Wirtschaft zu einem gigantischen Aufschwung. Der Istanbuler Stadtteil auf der historischen Halbinsel ist eingezwängt zwischen dem mehr und mehr auf Hochglanztourismus zusteuernden Sultanahmet und Aksaray, einem Viertel mit transnationalen Nachbarschaften, ein Ort der Zuflucht, ein Transitviertel, das unsichtbare Flüchtlingsströme beherbergt, die hier verzweifelt auf eine Chance warten, nach Westeuropa weiterzureisen.4 Oberhalb von Aksaray beginnen die mit Boutiquen, Hotels, Restaurants ausgestatteten Straßenzüge von Laleli. Was auf den ersten Blick wie eine typisch innerstädtische Anordnung anmutet, täuscht. Denn gesprochen wird hier Russisch, die Werbung ist zweisprachig und gehandelt wird in Dollar. Seit Anfang der 1990er Jahre hat es der Textilhandel zwischen russischen Geschäftsfrauen und Händlern, die zumeist aus den ländlichen Regionen der Türkei kommen, oft mit kurdischem Hintergrund, oder aus Bulgarien, Bosnien und Mazedonien stammen, geschafft, fast ein Drittel des formalen Exports der Türkei zu erwirtschaften. Laleli`s transnationaler Markt war anfangs noch als „Natascha trade“ konnotiert und mit Prostitution verbunden, hat sich jedoch inzwischen professionalisiert. Hotels bieten den russischen Geschäftsfrauen organisierte Shop-Touren an, die jeweils von Sonntag bis Donnerstag dauern – damit die Waren am Samstag auf dem Moskauer Markt verkauft werden können, wenn die Händlerinnen nicht reguläre Geschäfte bedienen. Der Bezirk ist maßgeschneidert für die Bedürfnisse eines Handels zwischen Personen: Obwohl sich die Abwicklung der Geschäfte modifiziert hat, bleiben die Spuren des Kofferhandels, mit dem alles begonnen hatte, im Stadtraum lesbar. Die großen Ballen mit der Aufschrift „Nadja“ oder „Tamara“, die in den Kellern der Hotels, umfunktioniert zu Lagerräumen verschwinden, werden von den billigen und meist illegalen Arbeitskräften aus dem nahen Aksaray auf Handkarren durch die Straßen geschoben. Eine Tätigkeit, die für die meisten Neuankömmlinge in der Hierarchie der Einwanderer so etwas wie den Start ins Business darstellt. Händler und  Geschäftsleute haben über Jahre eine verlässliche persönliche Partnerschaft etabliert, die vor allem auf Vertrauen basiert. Viele betonen, dass gerade die persönliche Ebene des Handelns und das gemeinsame Interesse am „making money“ zum Abbau von Stereotypen und zu gegenseitigem Respekt, ja nahezu freundschaftlichen Beziehungen beigetragen haben. Demgegenüber gelten Politiker, egal welcher Nationalität, als einer Ebene zugehörig, die diese auf Gegenseitigkeit beruhenden sozialen Räume bedroht. Anders als in den üblichen innerstädtischen Boutiquen, finden sich in den Schaufenstern und Shops nicht das eine zur Ikone ausgestellte Kleid in dezenter Beleuchtung, sondern Pullover, Jacken und Shirts liegen stapelweise und in großer Stückzahl quasi zum Abholen bereit. Die Konsummuster, denen Lalelis Kunden folgen, sind nicht vom ausgefeilten Geschmack einer an Distinktion interessierten Mittelklasse bestimmt. Geschäftsfrauen und Händlerinnen betonen, dass während in der Türkei auffallende Kleidung zu tragen eher die Ausnahme ist, in Russland Mode bevorzugt wird, die die Aufmerksamkeit der Leute in Anspruch nimmt. Dass die billigen Imitate von Glamour und Exklusivität aber auch eine Chance für viele Frauen darstellen, dem eher grauen postsozialistischen Alltag in Russland zu entkommen, das bestätigen viele der in Laleli arbeitenden Russinnen.

Die Kleidung, die hier angeboten wird, entsteht in den vielen kleinen Unternehmen in Istanbul. Zumeist sitzen schlechtbezahlte ArbeiterInnen der letzten Zuwandererwelle an den Nähmaschinen. Insofern ist Lalelis Alltag eingebunden in eine komplexe Geografie, die sich aus persönlichen Geschäftsbeziehungen, transnationalen Migrantenströmen und Geldflüssen zusammensetzt und dabei nationalstaatliche Grenzen unterläuft.

Angesichts dieser Entwicklung vertritt die türkische Soziologin Deniz Yükseker die These, dass die Restrukturierung der Weltökonomie in den letzten Jahren zu einer Wiederbelebung des Marktmodells geführt habe, das Fernand Braudel in seiner Analyse des ökonomischen Lebens herausgearbeitet hat: Der Markt als Zone des kleinen Profits und eines stark ausgeprägten Wettbewerbs mit hohen persönlichen Risiken und Unsicherheiten steht dem Kapitalismus als Zone des besonderen Profits, der großen Kapitalkonzentration und Monopolisierung gegenüber. Transnationale Konzerne agieren heute ebenso über nationalstaatliche Grenzen hinweg wie der sich mehr und mehr entfaltende Pendlerhandel (shuttle trade). Zwei Prozesse sind es, die Deniz Yükseker für die Renaissance des Braudel’schen Marktmodells verantwortlich macht: zum einen die mit Migration, Flucht und Tourismus verbundene Ausbreitung von transnationalen sozialen Räumen, wo über Grenzen hinweg Menschen, Images, Waren und kulturelle Symbole einander kreuzen; zum anderen erodiere, parallel zur Globalisierung der Ökonomie, die Regulationsfähigkeit nationaler Ökonomien. Der Nationalstaat wird immer unfähiger, Finanzströme auf seinem Territorium zu kontrollieren und gibt bewusst die Kontrolle in bestimmten ökonomischen Bereichen auf. Gerade die Länder der ehemaligen Sowjetunion und Südosteuropas sind Fallbeispiele für diese Rückkehr des Marktes (Yükseker 2006).

Auch die russische Verkäuferin im Ledergeschäft in Laleli/Istanbul bewegt sich in  diesem transnational operierenden Netzwerk. Soziale Mobilität bedeutet für sie, zwischen Moskau und Istanbul hin- und herzupendeln. Trotz Familie, sie ist verheiratet und hat zwei Kinder, hat sich die ausgebildete Krankenschwester auf den Weg gemacht, um Geld zu verdienen – die Löhne in Russland sind zu niedrig. Sie teilt sich mit drei anderen Russinnen ein Apartment ganz in der Nähe von Laleli. Schließlich seien sie hergekommen um Geld zu verdienen und können sich es nicht leisten, auch noch viel Geld für die Übernachtung auszugeben. Dennoch sei es wichtig, mit vertrauten Menschen zusammenzuwohnen. Wie sie dazu gekommen ist? Freunde, die zuerst da waren, haben ihr vor drei Jahren erzählt, wie das geht, und sie ist dem gefolgt. Sie hätte mit dem Handel schon Anfang der 1990er Jahre beginnen sollen, als es in Russland noch zu wenig Angebot gab. Jetzt sind die Märkte überfüllt. Ob es eine Schule des Kapitalismus ist? Nein, wohl eher eine fürs Leben. Sie hat hier gelernt, sich auf die andere Kultur einzustellen, ihr Leben zwischen zwei Welten einzurichten. Sicher bringt dieses dauernde Unterwegssein Probleme für die Familie mit sich. Sie hat ihre Entscheidung, nach Istanbul zu gehen, quasi über Nacht getroffen und dafür Mann und Kinder zurückgelassen. Sie sah keinen anderen Weg, da es zu Hause keine Chance mehr gab, Geld zu verdienen.5 Sie erzählt, dass viele Familien daran zerbrochen sind, wenn sich die Frauen auf den Weg gemacht haben, um das Familieneinkommen zu sichern, während die Männer zu Hause bei den Kindern bleiben. Manche blieben für acht, neun Jahre in der Türkei, und auch wenn sie zwischendurch ab und an nach Russland kämen, könnten sie nicht mehr das Familienleben führen, das sie verlassen haben – meist sei dieses dann nur noch bloße Verpflichtung. Dennoch entsteht bei den Gesprächen mit den Händlerinnen der Eindruck, aus der prekären Existenz des Unterwegsseins und Pendelns,  einen Emanzipationsgewinn gezogen zu haben; die meisten sprechen inzwischen Türkisch und  haben es geschafft, sich in gleichwohl für sie völlig fremden Kontexten durchzusetzen.

Märkte mit ihren überbordenden Angeboten sind auf besondere Weise Phantasieräume. Gerade der transnationale Handel mit Kleidung und Mode ist immer begleitet von Bildern und Narrativen von Schönheit, Überfluss, einem besseren Leben. Die großstädtische Boutiquen imitierenden Garagen in Smolensk oder die schrillen Auslagen in Laleli transportieren dieses Versprechen als Teil einer globalen Konsumkultur. Der amerikanische Kulturanthropologe Arjun Appadurai hat in seinem Buch „Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization” die neue Verschränkung zwischen globaler Konsumkultur, Medien und Migration als einen entscheidenden Faktor der Hervorbringung einer veränderten Subjektivität in der Gegenwart herausgestellt. Das Besondere dieses Prozesses bestünde darin, dass die Integration des Globalen in die alltägliche Praxis dabei wesentlich über die Imagination vermittelt wird. Die „Kraft der Imagination“ bestünde darin, dass die über  Konsumkultur und Medien international verbreiteten Bilder und Narrative auch Ressourcen darstellen, die zur Ausbildung von Entwürfen eines möglichen anderen Lebens führen und sie setzt Menschen auf der Suche nach diesem anderen Leben in Bewegung. Dass sich die Frauen aus Smolensk und Moskau auf den Weg gemacht haben, hat schließlich diese „imagination“ als kollektive Selbstermächtigung zum Hintergrund. Und umgekehrt stellen die zu Boutiquen umgebauten Garagen in Smolensk wiederum Imaginationen von Schönheit und Luxus vor, Phantasiewelten, die es den Subjekten ermöglichen „to live in such imagined worlds and thus are able to contest and sometimes even to subvert the imagined worlds of the official mind and the entrepreneurial mentality that surround them“ (Appadurai 1996, 31). In dieser Lesart sind physische und imaginäre Räume auf neue Weise verschränkt; neue kulturelle Ordnungen und Bedeutungen werden aus der Melange aus Bildern, Räumen und  Kulturen immer wieder neu produziert.

Die Ethnologin Regina Römhild sieht in dieser Praxis der Migration inzwischen ein kosmopolitisches Projekt am Werk, das aus der Fähigkeit zu mehrfachen Bindungen an unterschiedliche geografische, soziale und kulturelle Orte erwachsen ist. Im Unterschied zum elitären Kosmopolitismus bürgerlich westlicher Provenienz, der von dem Privileg der intellektuellen und ökonomischen Freisetzung aus materiellen Zwängen profitieren kann, entstehe dieser „Kosmopolitismus von unten … unmittelbar aus dem Pragmatismus des Alltags und der hier anknüpfenden sozialen Imagination“ (Römhild 2005, 216). Folgt man den Erzählungen der russischen Händlerinnen in Laleli, so bildet sich in ihren Mobilitätsprojekten diese Mischung aus Pragmatismus und Imagination ab: was sie befähigt, zwischen mehreren Orten, sozialen Räumen und Beziehungen zu navigieren. Römhild weist darauf hin, dass daraus keine utopischen Entwürfe „postnationaler Zustände“ entstehen, vielmehr ließe sich von „prekären Heterotopien“, die den „Traum vom besseren Leben im Rahmen des Machbaren“ anvisieren, sprechen. So ist der transnationale Handel, den sie erfolgreich treiben, selbst Ausdruck ihrer taktischen Fähigkeiten, sich die den Anforderungen des flexibilisierten Kapitalismus an seine Dienstleister irgendwie anzupassen (ebd., 222). Aber ob aus der fragmentierten Praxis des transnationalen Handels zwischen Istanbul, Moskau und Smolensk auch eine Wahrnehmung gemeinsamer Problemlagen oder neue Formen transnationaler Solidarität entstehen kann, dafür gibt es kaum Anzeichen. Schließlich ist diese vitale Geografie transnationaler Netzwerke zutiefst ambivalent, indem sie zum einen Ausdruck der Fähigkeit der Akteurinnen ist, sich mit der Prekarität der ökonomischen und politischen Verhältnisse eines globalisierten Kapitalismus zu arrangieren, und zum anderen ihr Vermögen beschreibt, diese mobile Praxis trotz der offensichtlichen Zumutungen als Möglichkeit der Selbstermächtigung zu begreifen.6

 

Anmerkungen

1   Interview mit einer Kioskhändlerin in Smolensk, geführt von Joanne Richardson und Oleg Kireev, März 2004.

2   Interview mit einer Kioskbetreiberin in Smolensk, geführt von Joanne Richardson und Oleg Kireev, März 2004.

3   Interview mit einer Kioskbetreiberin in Smolensk, geführt von Joanne Richardson und Oleg Kireev, März 2004.

4   Siehe Pelin Tann im Gespräch mit Behzad Yaghamanian. In: Esen / Lanz (2005, 205).

5   Interview mit einer russischen Geschäftsfrau in Istanbul, geführt von Ekaterina Vikulina, Januar 2005.

6   Der Beitrag basiert auf Feldforschungen in Smolensk, Moskau und Istanbul im Rahmen der Programme „Transiträume“ und „Transnational Spaces“ im Bauhaus Kolleg/Stiftung Bauhaus Dessau.

 

Literatur

Appadurai, Arjun, 1996: Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis.

Arnstberg, Karl Olov / Boren, Thomas, 2003: Everyday Economy in Russia, Poland and Latvia. Introduction. In: Dies. (Hg.): Everyday Economy in Russia, Poland and Latvia. Oslo.

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Aus: Berliner Debatte INITIAL 23 (2012) 1, S. 10-19