Unheilige Mittel, heiliger Zweck?

Reproduktive Rechte und die Kritik von Bevölkerungspolitik

Der folgende Text ist der Ausgabe 13 des Magazins prager frühling entnommen. Die Ausgabe kann hier bestellt werden.

Anfang der Neunziger Jahre kämpften Frauengesundheitsorganisationen für die Durchsetzung reproduktiver Rechte. Auf Grund von Zwangssterilisationskampagnen, Experimenten mit unsicheren Verhütungsmitteln an armen Frauen und der zunehmenden Verbreitung moderner Reproduktionstechnologien sahen sie es als dringend geboten, selbstbestimmte Fortpflanzung als Menschenrecht international zu verankern.
Im Aktionsprogramm der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung 1994 wurde zum ersten Mal eine international anerkannte Definition reproduktiver Rechte schriftlich fixiert. Sie bezeichnen im Kern das Recht „frei und verantwortlich über die Anzahl, den Geburtenabstand und den Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder zu entscheiden und über die diesbezüglichen Informationen und Mittel zu verfügen, sowie (…) ein Höchstmaß an sexueller und reproduktiver Gesundheit zu erreichen.“ Damit wurden individuelle Selbstbestimmung und Frauenrechte deklariert und in den Vordergrund gerückt. Viele (westliche) Frauennetzwerke gaben daraufhin ihre generelle Kritik an bevölkerungspolitischen Strategien auf und loten seitdem deren feministische Potentiale aus. Sie setzen dabei voraus, dass Bevölkerungspolitik und Selbstbestimmung von Frauen unter Bedingungen, wie Freiwilligkeit, Menschenrechten und der Einbeziehung von Frauenorganisationen, vereinbar seien. Mittlerweile gehört das Eintreten für reproduktive Rechte auch zum Repertoire etablierter Nichtregierungsorganisationen, der UN, IWF, Weltbank und zum Programm deutscher Entwicklungspolitik. Diese Institutionen sind jedoch nicht unbedingt für feministische Politik bekannt. Mittels Propagierung selbstbestimmter Reproduktion wollen sie vielmehr eine von den Individuen kontrollierte Fortpflanzung im Sinne bevölkerungspolitischer Zwecke durchsetzen.
Durch die internationale Anerkennung reproduktiver Rechte fand eine Ächtung von Zwangsmaßnahmen, Sterilisationen und Vergabe unsicherer Verhütungsmittel zur Erreichung demographischer Plansolls statt – zumindest auf dem Papier. In der Realität wurde die chinesische Regierung nicht einmal für ihre aggressive Ein-Kind-Politik sanktioniert. Inwiefern reproduktive Rechte ein Anknüpfungspunkt für eine weltweite Liberalisierung von Abtreibungspolitik sein können, ist unklar. Vorbehalte nationaler Regierungen führten dazu, dass im Kairoer Programm explizit kein Recht auf Schwangerschaftsabbrüche verankert wurde, sondern dieses in den Verantwortungsbereich der nationalen Gesetzgebungen delegiert wurde. Auf EU-Ebene gibt es mittlerweile Beschlüsse, die das Recht auf Schwangerschaftsabbruch als Teil reproduktiver Rechte betrachten. So empfiehlt das Europäische Parlament mit Beschluss vom Juni 2002, dass „Abtreibung zur Gewährleistung der reproduktiven Gesundheit und Rechte der Frau legal, sicher und für alle zugänglich sein sollte“ und fordert „auf jegliche Verfolgung von Frauen, die illegal abgetrieben haben, zu verzichten“.1
Auf der anderen Seite bleiben bevölkerungspolitische Begründungszusammenhänge relevant — die Zielvorgabe des Kairoer Aktionsprogramms war die Reduktion des Bevölkerungswachstums. In so genannten Entwicklungsländern werden weiter antinatalistische Ziele verfolgt, die aber nicht durch klassische demographische Kontrolle, sondern durch Selbstbestimmungsrechte und liberale Regierungsführung durchgesetzt werden. Eines der Millenniumsziele der UNO ist die Verringerung der Müttersterblichkeit bis 2015 um drei Viertel. Auf den ersten Blick scheint dies eine Zurückdrängung antinatalistischer Rationalitäten zu bedeuten. Jedoch wird neben der Prävention von Komplikationen bei Schwangerschaften auch auf die simple Prävention von Schwangerschaften gesetzt, um ohne eine Verbesserung der medizinischen Versorgung die Verringerung von Müttersterblichkeit zu erreichen. So schreibt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: „Besonders die Be-völkerungszahlen in Afrika und Asien werden in den kommenden Jahrzehnten weiterhin stark anwachsen. Die Zunahme der Weltbevölkerung ist eine enorme Herausforderung für die nachhaltige Entwicklung. Über ihre Bedeutung als Menschenrecht hinaus ist sexuelle und reproduktive Gesundheit darum auch eine wich-tige Voraussetzung für nachhaltige Bevölkerungspolitik.“2 So unterstützt Deutschland in vielen afrikanischen Ländern Familienplanungsmaßnahmen, die auf die Durchsetzung des westlichen Modells der Kleinfamilie setzen und wirbt für die Benutzung von Verhütungsmitteln. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass in Deutschland selbst immer wieder über geburtenfördernde Maßnahmen wie Kindergeld, Elternzeit oder Betreuungsgeld diskutiert wird. Auch diese nationalen Strategien sind durch Selektionstendenzen bevölkerungspolitisch gewünschter und ungewünschter Nachkommen geprägt. So wird vor allem eine Steigerung der Geburtenrate bei Akademikerinnen angestrebt und der Kinderreichtum armer und/oder migrantischer Familien als Problem betrachtet.
Die bevölkerungspolitische Logik lautet, dass „Überbevölkerung“ für Armut und Leid in den Entwicklungsländern verantwortlich ist. Während die weltweite ungleiche ökonomische Verteilung und die Ausbeutung durch Industrieländer als gegeben hingenommen werden, wird die Bevölkerungszahl als Variable betrachtet, die es zu regulieren gilt. Darauf weisen vor allem internationale Frauennetzwerke wie FINRRAGE hin. Sie treten dafür ein, nicht die Armen, sondern die Armut durch eine weltweite Umverteilung des Reichtums zu reduzieren. Sie kritisieren den Bezug auf den fragwürdigen Begriff  von „Selbstbestimmung“, der abgekoppelt von wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten konzipiert wird. Abgesehen davon ist die Prämisse bevölkerungspolitischer Maßnahmen, dass diese lediglich den „ungedeckten Bedarf“ der Menschen in den Entwicklungsländern an Verhütungsmitteln und Familienplanungsmethoden bedienen, in Frage zu stellen. Einerseits gibt es Studien, die die Berechnung dieses ungedeckten Bedarfs  kritisch unter die Lupe nehmen und andererseits steckt dahinter ebenso die Prämisse, dass alle Menschen ihr reproduktives Verhalten nach vermeintlich vernünftigen Entscheidungen kontrollieren wollen. So geht es bei der Ermittlung relevanter Risikofaktoren für Müttersterblichkeit letztendlich darum, Normen für ein „verantwortliches reproduktives Verhalten“ der Einzelnen zu formulieren, die da vor allem wären: nicht „zu früh, zu viel, zu schnell“.
Nimmt man diese bevölkerungspolitischen Paradigmen nicht als Ganzes in den Blick, bleibt eine kritische Perspektive auf eugenische und rassistische Implikationen auf der Strecke. Da Bevölkerungspolitik immer der Planung und Kontrolle der Anzahl von Menschen dient, ist sie somit auch immer auf die Kontrolle des Gebärverhaltens von Frauen gerichtet. Reproduktive Rechte müssen vielmehr gegen Bevölkerungspolitik verteidigt werden.

Fußschweißnoten:
1 Europäisches Parlament (Hg.): Entschließung des Europäischen Parlaments über sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte (2001/2128(INI) , Nr. 12 und 13, S. 9.
2 BMZ: http://tinyurl.com/cosqcdj

Dieser Text ist der Ausgabe 13 des Magazins prager frühling entnommen. Die Ausgabe kann hier bestellt werden.