„… eingeklemmt zwischen zwei größeren Häusern.“

Versuch eines psychopolitischen Porträts anlässlich des 100. Geburtstags Erich Honeckers

 

Für Heinz Israel, Berlin-Friedrichshain

 

Proletarische Lebensweise war ihm mitnichten fremd, ganz sicher aber hatte er sich mit der Zeit von ihr entfremdet. Erich Honeckers gebetsmühlenhaft wiederholte, monumentalische Elogen auf das Anfang der 1930er Jahre nahe Kasachstan aus russischem Boden gestampfte Hütten-Kombinat Magnitogorsk W. I. Lenin mag in Sachen Schwerstarbeiterglorifizierung noch manchen Zeitgenossen überzeugt haben. Immerhin sprach daraus nicht nur der für die erste Jahrhunderthälfte typische Machbarkeits- und industrielle Größenwahn, sondern ebenso die nicht minder betäubende, den jungen Saarländer vor allem aber enorm beeindruckende Wucht einer mit Menschen-, Güter- und Landmassen kalkulierenden stalinistischen Fortschrittseuphorie. Der aus späterer Perspektive damals überraschend attraktive und, ja, sogar junge Jugendfunktionär Honecker ist Jahrgang 1912, wird später Staatschef der Deutschen Demokratischen Republik, sein Geburtstag ist hundert Jahre her, sein Tod keine zwanzig.

Es ist unklar, ob man besser über ihn schweigen kann, zumal sich Laudationes auf seine Nachkriegsrollen ohnehin verbieten. Auch an biographischen Sachbüchern mangelt es nicht (Lorenzen 2001; Kunze 2001; Pötzl 2002; Völklein 2003), an diverser Wegbegleiter- und spezieller Veteranenliteratur erst recht nicht.1 Selbst gewichtige Quellenfunde sind nicht mehr zu erwarten. Honecker scheint lang her, gefühlt her, sozusagen. Bereits 1995 schreibt Jochen Staadt (6) zu einer Quellencollage über Honecker: „Obwohl die friedliche Revolution von 1989 erst sechs Jahre zurückliegt, tritt uns in den in diesem Band versammelten Texten schon heute eine unendlich ferne Welt entgegen“.

Die DDR ist heute noch ferner geworden, so fern, dass ein zeitbezeugtes Wissen um sie sicher nicht tabuisiert wird, doch irgendwie aus der Zeit gefallen wirkt. Die DDR und Honecker erscheinen in der derzeitigen erinnerungspolitischen Landschaft wie die sprichwörtlich arme Verwandtschaft. Manche „Zonenkinder“ (Jana Hensel) werden darüber melancholisch, den meisten Menschen aber dürfte das Thema selbst gleichgültig sein. Auch „Ostdeutschland“ gibt es nicht mehr, alles hat sich vermischt und differenziert. Und selbst die mal hölzerne, mal klamaukige, mal eventistische Emotionspolitik der Berliner Republik gegenüber den Ereignissen der „Wende“ scheint Alexander Cammanns These von der „verdrängten Gründungsrevolution“ (2007) zu bestätigen. Doch passt diese angestrengte Freude wiederum zum Anti-Charisma Honeckers, dessen nackte Lebensdaten nun ein eigentümliches Jubiläum erzwingen, da seine historische Gestalt schon beinah so absurd und anormal erscheint, als wäre sie Zeitgenosse des Sonnenkönigs.

Honecker war kein „sozialistischer Sonnenkönig“ (Pötzl 2002: 153). Er war so etwas wie ein Diktator. Anführer einer, wie es heute erscheint, Bananenrepublik ohne Bananen, die auch keine Republik war, sondern Satellitenstaat eines Imperiums; ein isolationistischer Unstaat an der Imperienfront des internationalistischen Antistaats Russland und des universalistischen Überstaats USA. Seine Eigenstaatlichkeit wurde immer bestritten, „SBZ“, „Pankow“, „Zone“, „sogenannte DDR“, „Drüben“… Deshalb war Honecker sicher nicht der schlimmste Deutsche. Es gelang ihm aber, zu einem Symbol zu werden, prägten Eigenheiten Honeckers doch die Struktur seines Duodezprincipats in einer auch psychopolitischen Weise, die mindestens deutsch und spannend, zuweilen deutscher und spannender ist als die psychopathologische Deutung der Person Honeckers allein.2

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Wolfgang Engler hat Honecker einen „proletarischen König“ genannt (1993). Ein treffendes Paradoxon, um sowohl die späte DDR wie auch ihren langjährigen Regierungschef zu charakterisieren. Auch, weil zwischen Proletarismus und Monarchie, legt man die politische Regierungs- und Systemlehre an, Demokratie und Aristokratie beheimatet sind. Will man noch die griechische Antike bemühen, kämen Ochlokratie, die Pöbelherrschaft, und auch Oligarchie hinzu, die Herrschaftsgewalt jener wenigen, die tugendlos sind, ja verdorben wurden. Mehr aber noch trifft die Metapher vom „proletarischen König“, weil zwischen der proletaristischen Totalkultur des Kommunismus und dem sakrosankt selbstherrlichen Absolutismus einer echten Monarchie die Konsumzumutungen der kapitalistischen Warenwelt konkurrieren mit den spaßfrei solidaristischen Askesezumutungen sozialistischer Mangeldiktaturen. Dieser in sich unentschiedene, psychologisch eingeklammerte, ja politisch verklemmte Charakter der DDR besorgt, dass Schwarzweißmuster hier genauso wenig passten wie die Selbstbeschreibungen jener Republik, die sich mit offiziellem Namen gar nicht sozialistisch nannte. Der reale Sozialismus der DDR ist mithin eingereiht in eine Vielfalt politischer Regime, abtragbar geworden auf einer Skala der Unzufriedenheit, wahlweise wegen Über- oder wegen Unterversorgung. Die DDR liegt irgendwo im Mittelfeld. Entfernt von den wirklich großen Verbrechen und Entbehrungen, ist sie kein Extrem. Der hohe Ton des Weltuntergangs, der nach der Wende von Altkommunisten angestimmt wurde, war übertrieben.

Dennoch bedurfte es der Bewältigung. Wolf Biermann schreibt nach der Wende ein „Lob der Lynchjustiz“. Natürlich wäre Selbstmord anständiger, empfiehlt er den Altkadern. Sie sollen Buße tun für ihren „Tierversuch an den Menschen“ – es gehe um Rache statt Rente (1992: 81). Die kleine Tochter des ostdeutschen Theologen und Journalisten Christoph Dieckmann schlägt vor, man könne Honecker „nur ein bisschen bestrafen, er ist doch irgendwie niedlich“ (zit. n. Wolff 2009: 307f.). Honecker habe nicht einmal mehr Strafe verdient, meinen andere (Osang 1993: 70). Die DDR solle einfach nur aufhören, weg sein, schnell. Und Honecker, Krenz & Co. mit ihr. Der offizielle Termin der Wiedervereinigung gerät zum „Vertragsfest“, ein bürokratisch errechneter Nationalfeiertag (F. Dieckmann 2010: 10ff.). Man hat es eilig. Genug „vergeudete Lebenszeit ist hin“ (Reich 1993: 12). Mief und das sogenannte Kleine Glück in der DDR, das haben viele schlicht satt. Dass Honecker im Osten unter dem Kürzel „Honni“ läuft, ist bezeichnend. Dass Udo Lindenberg ihn „Honey“ nennt, dürfte charmant und rätselhaft zugleich geblieben sein. Als Lindenberg „Honey“ eine Lederjacke schenkt, bedankt der sich mit einer Schalmei. Diese Begebenheit, Inbegriff fehlender Coolness berufsjugendlicher Greise, ist schnell zu einer Metapher für die DDR geworden – kein TV-Rückblick ohne „Honeys“ „fetzige“ Schalmei. Man erträgt nach 1989 noch eine Weile die Scorpions, David Hasselhoff und andere Übergangsschnulzen, die Kompromissangebote der bis dahin ersehnten Warenwelt, der Kulturindustrie aus der kapitalistischen Provinz. Nur keine Schalmeien mehr.

Überall im vormaligen Ostblock erlebte nach der Revolution die Folklore einen Aufschwung, überall Trachten, Farben, Lokalmusik. Ein Zelebrieren der Befreiung von der Tyrannei. Junge Menschen nehmen das ernst, entdecken Traditionen wieder. Nur nicht in Ostdeutschland. Hier schunkeln dieselben wie vor der Revolution. Die Vogtländerin Stefanie Hertel jodelte schon als Kleinkind im DDR-Fernsehen. Nach der Wende läuft diese Volkstümlichkeit bloß weiter, werden Schlager, Folklore, Volksmusik eins. Kein Zeichen der Befreiung wie in Osteuropa, eher ein Reservat für Ostalgiker beider Landesteile. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehübertragungen von Volksmusik erhalten in den Neunzigern das Antlitz gesamtdeutscher Heimatvertriebenenfestivals. Es sind asynchron aufeinandergelegte Nachkriegssendungen, sie künden von zwei verwandten Niederlagen, 1945 die erste, 1989 die nächste. Offene Aggressionen spürt man hier nicht mehr, die Trauer zelebriert sich als weinselige Lethargie. Und David Hasselhoff, schon schwer alkoholkrank, beschwert sich später, ihm sei für den Mauerfall nicht gedankt worden – er meint das ernst.3 All die Extreme, die das „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm) besaß, sie galten kaum sichtlich für die DDR Honeckers, das nörgelnde Mischsystem aus Westplagiat und Ostkopie, feudaler Funktionärsmonarchie und notsolidarischer Gemütlichkeitssehnsucht.4

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Zwischen diesen Polen liegt die vielbespottete Kleinbürgerlichkeit Honeckers, jene für die späte DDR staatserhaltende Laubenpieperei, mit Markenkernen wie gegrillter Wurst, gesticktem Platzdeckchen, gestutzter Hecke usw. Und zugleich ist dies eine im Wortsinn „‚berauschte‘ Gesellschaft“, eine, die sich zunehmend mit Alkohol betäubt, ein unlösbares Massenphänomen der späten, „unheilbar krank[en]“ DDR, das vom Arbeitsplatz bis zum Bungalow reicht (Kowalczuk 2009: 178f.; Kochan 2011). Viele Elemente dieser späten DDR erinnern an das, was Götz Aly „Gefälligkeitsdiktatur“ nannte (2010: 49ff.). Sie nehmen aber groteske, manchmal zynische Züge an. Beispielweise seien, so Honecker später, die Politbürolimousinen der skandinavischen Marke Volvo gegen französische Citroëns vertauscht worden. Man wollte den gefährlichen Witzen entkommen, nahe am Volk sein (Andert/Herzberg 1990: 379f.).

„Bescheidener Wohlstand“ (Kowalczuk 2009: 55) ist die gängige Formulierung für die Verhältnisse, „Konsumkommunismus“ (Wehler 2009: 340) trifft es auch recht gut (wobei Wehler mit dieser doppeldeutigen Alliteration unfreiwillig Tragikomik transportiert).5 Berlin-Grünau und Köpenick, das kommt Honeckers Idealbild zu Ostzeiten schon recht nahe. Die Kriegszerstörungen dort sind gering, die Natur reich, die wenigen Naherholungsziele eines Ostberliner Wochenendes liegen hier: Rübezahl, Müggelturm, die Müggelseen, diverse Kleingartenkolonien mit Grillfesten und Vereinsordnungen. Für Honecker liegt dort der ganze Widerspruch der DDR. Grünau und Köpenick sind für ihn zugleich irdisches Paradies und „Tarnkappe verschiedene[r] Intellektuelle[r]“. Die lebten dort in „Villen, man kann sagen, in Palästen.“ Dem finnischen Staatsgast Kekkonen sagt Honecker dennoch einmal, der dürfe „die Wohnverhältnisse in der DDR nicht nach dieser Gegend messen, denn dort sieht es schon aus wie im Kommunismus“ (Andert/Herzberg 1990: 323). Ein industriefreier Kommunismus also, bestehend aus Lauben, Speiselokalen, Stränden und alter Bürgerpracht im Grünen, bevölkert von gebildeten Dissidenten.

Honeckers exklusivstes Hobby ist die Klein- und die Großwildjagd, mal subsistentiell, mal aristokratisch wirkt das. Extreme Summen staatlichen Geldes werden in diese Leidenschaft investiert (Wolff 2009: 420f.; Völklein 2003: 351). Riesige vierzig Prozent des winzigen DDR-Gebietes sind bis 1986 ohnehin militärisches Sperrgebiet (Kowalczuk 2009: 66); darunter fallen auch über 100.000 Hektar für Honeckers Passion. Der kann zwar keine Flinte halten, sich bei der Jagd aber entspannen. Die Schulter eines Leibwächters dient dem Waffenlauf als Stütze. Der Mann wird bald schwerhörig, soll verrentet werden, erhält mit Hilfe Honeckers aber ein Hörgerät aus dem Westen, arbeitet weiter (Völklein 2003: 351). Honecker selbst, später zu seiner Jagdleidenschaft vernommen, nennt Zahlen, verweist auf die Legalität des Volkssports. Fast eine halbe Million Jagdfreunde, organisiert, in der DDR, er habe die Nähe zu den Massen nie verloren, sich immer an die Jagdgesetze gehalten (Andert/Herzberg 1990: 387ff.).

Eine der letzten Aufnahmen zeigt Honecker in Chile als Privatier, beim Rasensprengen, im Hintergrund ein Häuschen. Die Presse ist neugierig, filmt durchs Gebüsch, will sehen, was die Jahre zuvor nur geahnt werden konnte.6 Vermutlich nährte der Verdacht, so gewöhnlich könne das doch alles vorher nicht gewesen sein, umso phantastischere Gerüchte über das für „Unbefugte“ unzugängliche Wandlitz, die umwaldete Häuschenanlage der Politbürofunktionäre und deren wahrscheinlich unfassbare Privilegien; Privilegien, die sich zur Wende dann, fast schon eine Enttäuschung, als kleinkariert und provinziell ausnahmen – Eingeschweißtes aus dem Westen; insgesamt „Quelle-Versandhaus-Niveau“ (Kunze 2001: 60); kaum der „Standard schwäbischer Landärzte“, spottete die taz (zit. n. ebd.). Es habe in Wandlitz aber „auch Produkte von uns“ gegeben, betont Honecker: „Eberswalder Wurst“, „Exquisitangebote“ (Andert/Herzberg 1990: 384).

„Fickzellen mit Fernwärme“ soll Heiner Müller demgegenüber die Plattenbauten genannt haben,7 die die DDR ihre vornehmlichen Adressaten erst bauen und dann bewohnen ließ – Arbeiter, die werktätige Bevölkerung, die emanzipierten und solidarischen Bewusstseins­träger ihrer Klasse. Für Honecker waren die von diesen Idealvertretern errichteten Bauten eine erfüllende Lebensleistung, waren die in ihnen gezeugten und vom Staat erzogenen Kinder Ausdruck einer lebendig sozialistischen, solidarischen, glücklichen Gemeinschaft. Über drei Millionen Wohnungen. Das sei eine Leistung, eine Leistung die unter seine Regierung fiel. Zwei Maßstäbe legt Honecker hier an, schleudert sie nach der Wende Kritikern entgegen: Die zerbombten deutschen Städte (weil „diese Leute überhaupt keine Ahnung haben, was es bedeutete, nach 1945, bei den Trümmern zum Beispiel hier in Berlin, wieder eine Lebensgrundlage zu schaffen“ (Andert/Herzberg 1990: 217)). Und die Zahl 900.000. Für Honecker ist dieser Wert keine billige Waffe. Er meint die Obdachlosen in der BRD (ebd.: 418).

Für Honecker scheint „der Westen“ ein riesiges Obdachlosenfreigehege zu sein. Er hat Mitgefühl, will helfen. In der DDR gab es keine Obdachlosen, man habe Wohnungen gebaut, Wohnungen für alle. Das ist, so Honecker, die fortwährende Kompetenz seines „werktätigen Volkes“; er findet es zynisch, dieses Vermögen den Armen und Ärmsten im Westen vorzuenthalten, deren Staat sie verkümmern lasse. Doch der schicke seine Arbeiter nun ausgerechnet in den Osten, ganze „Baukolonnen“ seien „im Rahmen von Patenschaften“ gekommen. Gleich, ob Honecker das glaubt, es beschämt ihn: „Da könnten wir auch Patenschaften organisieren, damit die nicht unter Brücken schlafen und in Hausfluren. Auch dort brauchte man ein großes Wohnungsbauprogramm“ (ebd.: 277).

Was politische und soziale Relationen angeht, ist der alte Honecker also entrückt, klammert an seinen Zahlen. 900.000 Obdachlose „drüben“, 3,2, mal auch 3,4, mal sogar 3,7 Millionen (Honecker 1992: 37) neue oder modernisierte Wohnungen in der DDR. Die Zahl ist sein Stolz. Mehr noch als die „99 kg Fleisch pro Kopf, 15,5 kg Butter pro Kopf, über 200 Eier pro Person pro Jahr“ (Andert/Herzberg 1990: 418). Dreikommavier Millionen Wohnungen! Wie ein Mantra wiederholt er im Großinterview von 1990 (dazu Kunze 2001: 125-127) diese Zahl (Andert/Herzberg 1990: 275, 384, 418). Das sei „einzigartig in der Geschichte des Volkes“; wo „auf der Welt gab es das alles?“ (ebd.: 418) – Honeckers Enkel Roberto erzählt später, als Kind habe er immer gedacht, „dass in den Hochhäusern in der Leipziger Straße“, wo die Familie gewohnt haben soll, „irgendwelche Wesen leben“ (R. Honecker 2010: 20).8

Marzahn, Hellersdorf, Hohenschönhausen, zu DDR-Zeiten die Vorzeigetrabantenbezirke Ostberlins, galten nach der Wende schnell als rechtsradikale Unterschichtenghettos. Heute ist der Rückbau in vielen Gebieten Ostdeutschlands zum Vorbild für geordneten Rückzug der Zivilisation aus der Natur geworden (vgl. Richter 2006). In Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, wie zwei der neu gegründeten Gliedstaaten der erweiterten Bundesrepublik Deutschland seit 1990 heißen, siedeln Störche und Biber, sogar Wölfe soll es wieder geben, keine zwanzig Jahre nach Honeckers Tod (Ahbe et al. 2010).

Gründe genug also, sich über diesen eigentümlich unautokratischen Autokraten Gedanken zu machen. Er besetzte ein Nachkriegsvakuum, taugt kaum für ein Revival der Großen Erzählungen, untersagte Briefmarken mit seinem Konterfei (Andert/Herzberg 1990: 360), steht dennoch bis heute für das, was Claus Offe „Tunnel am Ende des Lichts“ nannte (1994), den Mangel unverbrauchter Alternativen für alle. Doch während nach der Vereinigung die Erinnerungspolitik über Shoa, Weltkrieg und Hitler zur gesamtdeutschen Daueraufgabe avancierte und mittlerweile selbst die Götterdämmerung der „Ära Kohl“ und der alten Bundesrepublik eingeleitet wurde,9 scheint Honecker kaum noch Aussagekraft zu entfalten; kein massiger Patriarch mit „Bimbes“, kein essgestörter Größenwahnsinniger mit Künstlerambition – bloß ein Rasen sprengender Staatsverwalter mit Widerstandsvergangenheit, der gerne Hasen erschießt.

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Der 1931 begeistert das Magnitogorsker Kombinat besuchende Honecker erlebt dort seine eigene Variante von „Stahlgewittern“ – ein metallurgisches Erweckungserlebnis, in dem gerade die heldische Arbeitermasse Katechon des postheroischen Zeitalters ist. Fast zeitgleich resümiert Ernst Jünger in seiner Vision Der Arbeiter: „Nicht anders als mit Ergriffenheit kann man den Menschen betrachten, wie er inmitten chaotischer Zonen an der Stählung der Waffen und Herzen beschäftigt ist und wie er auf den Ausweg des Glücks zu verzichten weiß“ (1982 [1932]: 307). Fast magnetisch ziehen auch in der sozialistischen Magnitogorsker Hütte Klischee, Propaganda, Wahn und Tugend einander an. Schwerste Arbeit, mit eisernem Willen verrichtet, ohne Murren, gemeinsam, für die Zukunft. Als „Konzentrationslager“ beschreiben es andere.10 Es ist offensichtlich und nicht zuletzt tragisch, wie sehr diese eigentümliche, magisch brutale Blütezeit des kontakt- und erlebnishungrigen „Genossen Erich“ geradewegs die Antithese wurde zu jenem langjährigen, grauen, auf viele mittelmäßig, verbohrt, linkisch, pedantisch, piefig und scheu wirkenden „Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Staatsratsvorsitzendem der Deutschen Demokratischen Republik und Vorsitzendem des Nationalen Verteidigungsrates, Genossen Erich Honecker“ (z. B. Pötzl 2002: 7). Es liegen einige Jahrzehnte zwischen dem eifrigen jungkommunistischen Arbeiter, über den manch Gutes berichtet wird, und jenem koloriert auf mattes, offenbar rares, jedenfalls zeitungsähnliches Fotopapier gedruckten Funktionärsgesicht der späten DDR, dessen verkniffenes „Mona-Lisa-Lächeln“ (Kempe 2011: 388) in jeder öffentlichen Einrichtung auf die Schlange Stehenden herabblickt.

Die Nazis liegen dazwischen, der kommunistische Widerstand, die Verhaftung, Jahre in tyrannischer Haft während des Krieges. Dass Honecker nach der Wende öffentlich nachgehetzt wird, er habe unter Gestapo-Folter eine Genossin verraten, ihr Tod, selbstverständlich im Gas, wäre seine Schuld, gehört zu den schäbigeren Seiten der Elitenabwicklung. Die Frau meldet sich, sie lebe, in Israel, trage einen neuen Namen, Honecker sei ihr ein loyaler Genosse gewesen, seiner Standhaftigkeit im Verhör verdanke sie, dass die Nazis sie aus Mangel an Beweisen hatten freisprechen müssen, sie bitte um Richtigstellung. Die freie Presse entspricht dem nicht (Lorenzen 2001: 34f.; Wolff 2009: 290f.).

Die Befreiung aus dem Zuchthaus im Frühjahr 1945 wird für Honecker eine mehrfache. Er hat überlebt, was nicht selbstverständlich ist, wie er nur zu genau weiß (Andert/Herzberg 1990: 170). Sein wertvollstes Empfehlungsschreiben für die aufzubauende sozialistische Zukunft ist ungefälscht, stammt von hohen Nazis. In den „Strafzumessungsgründen“, die der nationalsozialistische Volksgerichtshof 1937 dem aus der Illegalität des Widerstandes heraus verhafteten Honecker und seinem Mitangeklagten Bruno Baum vorklagt, heißt es: „Die Angeklagten Baum und Honecker sind, wie Umfang und Intensität ihrer illegalen Arbeit […] und auch ihre Erklärungen in der Hauptverhandlung erweisen, überzeugte und unbelehrbare Anhänger des Kommunismus. Sie haben sich den ihnen gestellten hochverräterischen Aufgaben mit außerordentlicher Einsatzbereitschaft gewidmet.“ Es folgen einige Sätze Nazipropaganda, die für das hohe Strafmaß von je zehn Jahren Zuchthaus als erschwerend erachten, dass die Angeklagten insbesondere für ihre Sache hätten gewinnen wollen, was dem Nationalsozialismus „besonders am Herzen“ läge: die Jugend (SED 1978: 31).

Nach dem Krieg wird Honecker Mitbegründer und Vorsitzender der Freien Deutschen Jugend. Die FDJ, maßgebliche politische Jugendorganisation der späteren DDR, wird unter seiner Riege eine der effektivsten, größten und engmaschigsten totalitären Organisationen des 20. Jahrhunderts und der Weltgeschichte überhaupt. Honecker heiratet, insgesamt dreimal, zweimal hochrangige Mitglieder des SED-Apparates. Die erste Frau stirbt früh, wahrscheinlich 1947,11 die zweite, Edith, Kommunistin der ersten Stunde, wird Mutter der gemeinsamen Tochter Erika, intrigiert bei Ulbricht gegen ihren Mann, weil der schon mit seiner späteren Ehefrau, der dritten und letzten, Margot, geborene Feist, ein Verhältnis hat (vgl. Staadt 1995: 21). Doch Margot Feist ist protegiert: Über sie hält DDR-Präsident „Wilhelm Pieck schützend seine Hände, und Erich [Honecker] hatte die Rückdeckung Walter Ulbrichts“ (Lorenzen 2001: 59). Honeckers Privatleben ist nun Parteisache. Die Scheidung Honeckers von der zweiten Frau wird betrieben. Der dritten Frau und ihm wird 1952 eine Tochter geboren, Sonja. 1953 heiratet Erich Honecker Margot Feist, sie wird Ministerin für Volksbildung, lebt heute in Chile mit dem Enkel, Roberto. Als die Mauer fällt, ist Roberto 14. Er muss mit ins Exil, hastig, es ist ihm eher eine Flucht.

Zwanzig Jahre später gelingt es, Roberto Yánez Betancourt y Honecker, noch immer in Chile, zu interviewen (vgl. R. Honecker 2010). Fotos werden geschossen vor der Skyline Santiagos. Erich Honeckers Enkel ist Künstler, sensibel, leicht untersetzt, raucht wohl viel, kümmert sich nachsichtig um die alte Großmutter. Stur sei sie. An den Großvater erinnert sich Roberto, wie man sich an einen Großvater erinnern kann: privat; politisch, will man das überhaupt so nennen, ist Roberto Honecker zurückhaltend. Stolz ist er wohl ein bisschen, weil es 1989 kein Massaker gab. Der Großvater Honecker wurde nicht, was Gaddafi wurde, sagt der Enkel. Es hätte ja auch wie in Libyen oder China kommen können, wenn… – „Wenn das Wörtchen Wenn nicht wär‘, wär‘ der Vater Millionär“, frotzelt der Großvater, auf das Was wäre wenn… der „chinesischen Lösung“ angesprochen, zwanzig Jahre früher (Andert/Herzberg 1990: 98).

Zur „chinesischen Lösung“ jedenfalls war es in der DDR nicht gekommen, das beruhigt auch den Enkel. Er würde gerne mal wieder Deutschland sehen, zwei Dekaden nachdem er aus seiner behüteten Kindheit in der DDR gerissen wurde. Das Land mit den Wesen in den hohen Häusern der Leipziger Straße, vielleicht die alte Schule anschauen. Ein Flug allerdings ist sehr teuer. Roberto Honecker hat aber auch „immer noch ein bisschen Angst vorm Reisen“ (R. Honecker 2010: 19, 21). Im Interview klingt es, als spürte selbst er Verfolger im Nacken. Der Großvater kannte das; auch die Großmutter – das Knarren der Treppen machte sie schon als Kind nervös, der Vater war im Untergrund gegen die Nazis aktiv (Andert/Herzberg 1990: 177ff.). Als ältere Frau exiliert Margot Honecker dann nach Chile. Absurd, dass das Gefühl, fliehen zu müssen, ein bemerkenswert kontinuierliches Motiv selbst in dieser ostdeutschen Familie ist.

In der Karriere Erich Honeckers folgen nach Klärung der Ehe- und Scheidungsangelegenheiten 1953 rasch weitere Stationen. Er sammelt Funktionen und Kompetenzen, lernt listig zu sein; trainiert das politische Geschäft unter Ulbricht, wird Mitglied des Politbüros, organisiert maßgeblich den Bau der innerdeutschen Mauer, baut sich eine bis 1989 ausreichende Gefolgschaft auf, holt sich Breshnews Zustimmung, um Ulbricht entfernen zu dürfen. „Walter hat Verdienste“, sagt Breshnew, Moskau wolle eine anständige Lösung (Lorenzen 2001: 114). Honecker organisiert eine gemächliche Ablösung Ulbrichts, rutscht geschmeidig in dessen Posten. 1971 wird er Erster Sekretär des SED-Zentralkomitees und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, 1976 Vorsitzender des Staatsrats der DDR, wodurch er, dem Kollektivgremium vorsitzend, de facto Staatschef des ostdeutschen Realsozialismus geworden ist – eine Position, die Partei-, Regierungs- und Staatsvorsitz in einer Person vereint.

Kurz vor dem Mauerfall wird der durch Krankheiten geschwächte und durch den störrisch ignorierten Kurswechsel der Sowjetunion unter Gorbatschow auch politisch angeschlagene Honecker gestürzt. Seine Nachfolger betreiben, solange sie es noch können, öffentlich seine Demontage, den Rest erledigt die Revolution: Honecker wird noch in der späten DDR verhaftet, ironischerweise zunächst wegen Hochverrats gegen den Sozialismus gemäß Strafgesetzbuch der DDR (Wolff 2009: 270ff.). Es folgen Parteiausschluss, schwere Krankheit, Flucht nach Moskau, Auslieferung in das als BRD vereinigte Deutschland, Prozess, eine gegen das Strafverfahren gerichtete Verfassungsbeschwerde durch Honeckers Anwälte, der stattgegeben werden muss, weil der Todkranke das Prozessende voraussichtlich nicht mehr erleben wird. Honeckers Entlassung aus der Untersuchungshaft fällt in den Januar 1993. Der alte Mann fliegt zu seiner Familie ins chilenische Exil, stirbt dort ein Jahr später.

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Was für seinen politischen Stil später offensichtlich war, galt auch schon für Geist und Wesen des jungen Honeckers. Honecker war ein einfacher Mann, erschien recht uneitel, wirkte bescheiden, in vielem schnörkel- und prunklos. Er schien häufig um Konzentration bemüht, höflich, eigentlich jemand, der nicht gerne auffällt – penibel, tüchtig, schüchtern, eher der introvertierte Typ. Er selbst hätte sich wohl als anständig bezeichnet. Seine Anspruchslosigkeit wirkt aufrichtig; seine verhaltenen Emotionen, gerade die nach seinem Sturz und dem der Mauer öffentlich gemachten, erscheinen geradlinig und authentisch – da sind Enttäuschung, Betroffenheit, Bitterkeit, ein Fünkchen Hoffnung hier und da. Zorn weniger, und wenn, dann ist er gut verborgen. Immerhin sich selbst kann Honecker beherrschen. Und Tugenden sind plötzlich da, der Wunsch, Trost und Halt zu spenden; trotz aller Krankheit und greiser Ermattung auch Kraft, viel Verantwortungsgefühl wenigstens für die Verwandten; der alte Fleiß ist auch da, die ganze deutsche Disziplinpalette von Luther über Friedrich bis Bismarck, die doch eigentlich auch als Anti-Honeckers durch und durch erscheinen und womöglich eben darum in der späten DDR ein politisch gefördertes Revival erlebten (vgl. Völklein 2003: 320).

Honecker hingegen prahlt – darin ist er ganz Massenpolitiker – mit seiner Herkunft aus einfachen Verhältnissen (dazu ebd.: 15-66), aus dem echten Arbeitermilieu Wiebelskirchen, Saarland (Osang 1993: 64f.). Die Geschwister sind zahlreich, die Eltern warmherzig. Anders als die Schule prügeln sie ihre Kinder nicht. Selbst von der im damaligen Saargebiet gängigen Kinderarbeit können die Kinder verschont werden. Die Mutter hält das bescheidene, ja „ärmliche“ Häuschen „blitzsauber“, während der anscheinend nicht uncharismatische, eher sozialdemokratisch orientierte Vater mit den Kumpeln alltäglich in den Schacht fährt, berichtet ein Weggefährte aus Erich Honeckers Jugendtagen (SED 1978: 8), und man ahnt, wie viel es den Honeckers bedeutet haben wird, wenigstens ein Häuschen unterhalten zu können. „Trotz der sozialen Unterschiede“ habe es damals in Wiebelskirchen „eine große Übereinstimmung zwischen den Menschen“ gegeben, schwärmte noch der alte Erich Honecker. Mittendrin das kleine Häuschen der Eltern, ein „schöner Kirschbaum“ im Garten habe den Blick auf die nahe katholische Kirche versperrt. Ein „einfaches Bergarbeiterhaus“ ist es, „eingeklemmt zwischen zwei größeren Häusern.“ Umso sauberer sollte es sein, eingezwängt wie es war, unbedingt, niemand sollte etwas beanstanden. Und behaglich sollte es sein, einladend, immer voll, gut besucht, beliebt, geschätzt, der Enge zum Trotz, trotz offensichtlichster Entbehrungen (Andert/Herzberg 1990: 105).

Anders als der Vater will der junge Honecker nicht unter Tage. Und auch hier wieder zeigt sich die dem späteren Leben Honeckers häufig eigene Symbolik: Er entscheidet sich für die andere Richtung, lernt Dachdecker – dass er die Lehre tatsächlich aber abbrach, durfte in der DDR aus nachvollziehbaren Gründen kein Thema sein. Über die Berufswahl selbst allerdings hat so manch einer gespottet: Honecker interessiere eher der Überbau, er blicke gern in die Sterne, das schmutzige Geschäft machten andere, Dachschaden usw. Honecker selbst kokettiert dagegen an, von oben habe man eben „einen guten Überblick“, könne immer „‚hoch hinaus‘“ etc. (Osang 1993: 66; Völklein 2003: 58). Manch ein Weggefährte hat nicht ohne Herablassung dieses gestelzte Mittelmaß betont (z.B. Schmidt 1996: 500-506). Andere hat diese Schlichtheit eher beschämt. Alexander Osang beispielsweise erschien symptomatisch, was der junge Honecker nach dem Krieg einmal auf die Frage, was er lese, antwortete – „Bücher weniger“ (Osang 1993: 70). 44 Jahre später, nach schulischen Talenten befragt, antwortet der alte Honecker analog: „Schreiben weniger“ (Andert/Herzberg 1990: 119).

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Dabei war Honecker nicht etwa bildungsfeindlich eingestellt. Es ist nicht überliefert, dass er Wissen, dass er Bildung überhaupt als Gefahr sah oder Hochkultur als bloß bürgerliche Selbstbetäubung entlarvt sehen wollte, wie viele westeuropäische Linke jener Zeit. Die unzähligen Ehrungen, die ihm so mancher Wissenschaftsbonze andiente – Honecker, das Vorbild der Politökonomen, Honecker, der praktisch begabte Friedenstheoretiker usw. – wirken so ungelenk, verkrampft, unecht wie der damit Geehrte angesichts solcher Auszeichnungen selbst, dem das Unverdiente ebenso bewusst wie ziemlich gleichgültig gewesen sein dürfte. Honecker nimmt derlei untertänige Schleimereien eher hin als an (vgl. Beiträge in SED 1982).

Die einzige Ausnahme allerdings ist bezeichnend: eine Ehrenmitgliedschaft in der Nationalen Bauakademie. Auf sie dringt Honecker selbst (Wolff 2009: 420f.), zu gut passt sie zu seinem Wohnungsbaufaible. Andere Zweige interessieren ihn in der Tiefe nicht sonderlich, das ist eher der Bereich seiner Frau, der Ministerin für Volksbildung. Er sah Bildung primär als Ausbildung, als nützlichkeitsorientierte Lebensvorbereitung, was zugleich hieß: Vorbereitung auf eine bis zur Rente in Vollzeit vollzogene Erwerbsarbeitstätigkeit. Unterschiedliche Forschungsergebnisse irritieren ihn, sind nicht hilfreich für den Aufbau des Sozialismus, Widersprüche gibt es schließlich schon genug (Andert/Herzberg 1990: 310). Für das Leben lernen wir heißt ein Pionierlied, es wird in der DDR von der ersten Klasse an gesungen.

Aber für Honecker ist Bildung politische Lebenspraxis, die Lockerung der geistigen Enge passt da nicht ins Konzept. Schon früh steht er für einen „Kahlschlag“ in der Kulturlandschaft. Künstlerische Freiheit jenseits parteilich angeordneter Wahrheiten lässt er nicht zu, kritisiert schon mal persönlich Romane für ihre historisch „falsche Darstellung“ (Pötzl 2002: 82ff.). Ein frühes Lieblingsbuch von ihm selbst habe „Der Spatz“ geheißen. Es handelte von einem „armen Spatzen“. In „der Vogelwelt“, resümiert Honecker, ist eben „der Spatz der Proletarier“ (Andert/Herzberg 1990: 134).

Honecker hat also nicht ‚diese‘ Art Minderwertigkeitskomplex, fühlt sich nicht minderbegabt, steht nicht unter dem Druck des sozialen Aufsteigers. Wozu auch als Führer eines Arbeiter- und Bauernstaates „der Intelligenz“ nach dem Munde plappern, warum um ihre Gunst schmeicheln? Zudem fühlt Honecker sich im Recht: Der Mensch lebe nicht vom Brot allein, sicher. Aber er „lebt auch nicht allein von Literatur und vom Geistigen“ (Andert/Herzberg 1990: 424). Im Westen seien Unmengen Berufsverbote erlassen worden, nur Freiheitsstrafe sei schlimmer für einen Menschen (ebd.: 373). Und die „Künstler“, sollte er später im Prozess sagen, Künstler „werden begreifen, dass die angebliche oder wirkliche DDR-Zensur nicht so kunstfeindlich war wie die Zensur des Marktes“ (zit. n. Wolff 2009: 370-386).

Für Honecker also ist Künstler ein Beruf, keine Berufung; es hat die eine Arbeit zu sein wie jede andere. Nur hier paarte sich in Honeckers Äußerungen sein Unverständnis mit der vielbeklagten, bei ihm ansonsten nicht ausgeprägten „Arroganz der Macht“. Doch diese sozialistische Variante der Zwangsvereinigung von Kreativität und Lohnarbeit geht nicht auf, echte Kunst folgt eigenen Regeln, nicht selten gar keinen, jedenfalls nicht der paternalistischen Versorgungs- und Behaglichkeitsfürsorge, die Honecker allen Werktätigen vom LPG-Bauern bis zum „Kulturschaffenden“ angedeihen lassen will. Viele Künstler huldigen dieser Einengungszumutung nicht. Also müssen sie Schuld am Untergang der DDR sein! Honecker neigt zu solchen Auslegungen. Seine oft befremdlichen Interpretationen von Logik sind innenpolitisch durchweg politsoziologisch, orientieren sich stets am Ideal einer nivellierten sozialen Klassifikation. Wer hier aus der Reihe tanzte, nagte am Klassenideal. „Die Privilegien der Intellektuellen, der Künstler, gegenüber dem einfachen Arbeiter“, betont Honecker deshalb 1990, „diese Unterschiede wurden in der letzten Zeit immer größer. Sie führten zu einem Spalt zwischen Volk und Führung“ (Andert/Herzberg 1990: 58).12 Es sei ihm „seit langem klar geworden, daß die Reisefreiheit für Intellektuelle den einfachen Leuten nicht immer verständlich war. Das führte mit der Zeit zu einer Mißstimmung“ (ebd.).

Einem wie Honecker also ist nicht die Kunst und die Bildung schon an sich gefährlich, sondern erst die Bohème, ihre Gewohnheiten, Schrullen und natürlich deren städtische Hochburgen, die verfallenden Gründerzeitbautennischen für das ideologisch als kapitalistisches Rudiment klassifizierte Bürgertum. „Andersdenkend“ wird auch das im DDR-Jargon genannt (Andert/Herzberg 1990: 304). Das bürgerliche Juste Milieu ist im Herzen kompromisslos, hält sich für besser, schottet sich ab, gibt die Kinder nicht her; es weiß sich zu tarnen, zu lügen, wenn es drauf ankommt. Selbst heutige Forschungen kommen dem DDR-Bürgertum selten nahe, helfen sich mit allerlei Zahlen, die zu den bewährten Bürgerlichkeitsthesen und zu deren vornehmlichster Klischeeinstitution, dem protestantischen Pfarrhaus, kaum passen wollen (z.B. Wehler 2009: 227ff.). Gesamtdeutsche Mythen, Konsense, Traditionen und Wunschbilder haben vieles hier mittlerweile überwölbt, der Status Dresdens, die Frauenkirche, Merkel, Gauck usw.

Es scheint im Nachhinein schwer zu erklären, warum während der Teilung ausgerechnet die Klassiker, Goethe, Schiller etc., im Nirgendwo zwischen Ost und West, Frankfurt und Weimar, Schwaben und Thüringen unverstorben geblieben waren. Carl Schmitt hat einmal die ungeheure Intensität deutscher Bildungsbürgerlichkeit als ein Mysterium beschrieben, als „Religion“ (Hertweck/Kisoudis 2009: 96), die wohl auch in der DDR ein Trost war (die berühmte Formulierung von der ‚inneren Emigration‘ hat etwas zugleich Konfessionsaufhebendes wie Spirituelles). Uwe Tellkamp hat solche regimeunabhängigen deutschen Traditionen in Der Turm literarisiert (2008), schon dem Titel nach ein Blick zurück zu Goethe, zu den „Türmern“ aus den Wahlverwandtschaften. Der Roman scheint insofern wenigstens ähnlich aussagekräftig wie manch Realeres zu sein, bildet er doch ab, dass das von Honecker unverstandene und gefürchtete bildungsreligiöse Milieu nicht einfach gegen ihn ist, sondern über seinen Umwerbungen steht.

Aus diesem Milieu rekrutierten sich erhebliche Teile der Bürgerbewegung. Nach der Wende zeigt sich Honecker überrascht, ja begeistert vom Esprit seiner sprachmächtig gewordenen einstigen Untertanen: „Da muss man sagen, allerhand! Was die für Sachen im Kopf haben!“ (Andert/Herzberg 1990: 333). Er scheint aber auch betroffen, allemal ungläubig, dass diese Energie seiner DDR vorenthalten worden war. Verständnis zeigt er bis zum Schluss nicht, selbst im Prozess „keine Zwischentöne, keine Nachdenklichkeit, kein Bedauern“, stattdessen „bocksbeinige Selbstgerechtigkeit“ (Völklein 2003: 11f.). Dass er selbst einen „Rollenwechsel“ vom Opfer zum Täter durchlaufen haben soll, ist für Honecker undenkbar. Es gelingt ihm nicht, eine „gefühlsmäßige Beziehung zu den Opfern seiner Politik aufzubauen“ (Engler 1993: 95). „Die Rollen der Täter und Opfer waren für ihn klar verteilt. Opfer waren in der deutschen Geschichte seit jeher die Kommunisten, Täter immer nur die anderen“ (Völklein 2003: 11). Diesbezüglich bleibt die DDR auch gefesselt an den Nationalsozialismus und Honecker ihr destruktiver Zauberlehrling, der sich, so Christoph Hein bei der Massendemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989, den übermächtigen Strukturen, die er mitschuf, zunehmend hilf- und fassungslos ausgeliefert sieht. Der bürgerbewegte Pfarrer Rainer Eppelmann bietet Honecker das Gleichnis des Vaters an, der seinen zunehmend flügge werdenden Kindern ein unerwünschtes Haus nach dem nächsten baut, von den Kindern umso weniger geliebt, eher bemitleidet und schließlich vom Hof gejagt wird. „Ich habe den Eindruck, Sie verstehen mich“, antwortet Honecker Eppelmann (Wolff 2009: 2003).

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Die im Nachhinein anscheinend so deutlichen Minderwertigkeitskomplexe Honeckers beziehen sich also nicht aufs Intellektuelle. Sie beziehen sich auf Selbstbewusste im Allgemeinen, im Besonderen auf politische Autoritäten. Insbesondere die „im Westen“ bzw. im „kapitalistischen Ausland“. Die sollten die DDR gefälligst offiziell anerkennen. Und als sie das mehrheitlich getan hatten, sollten sie sie respektieren, öffentlich. Der Minderwertigkeitskomplex Honeckers war der des Staatsmannes, sein Komplex war der Komplex der ganzen DDR, der Makel, der dem gesamten Staat der im Westen zeitweilig „sogenannten DDR“ anhaftete: er erschien unnatürlich, galt als Übergangslösung ohne Zukunft. Anders als der ja ebenfalls unsouveränen und verfassungspolitisch nur vorläufig gedachten „Bonner Republik“ gelang es der „Missgeburt“ (Sack 2003) nicht, den Touch des „Provisoriums“ loszuwerden (Wirsching 2006). Sie galt als Exklave des Kalten Kriegs, „Fußnote der Geschichte“,13 als Zone der allgemeinen Sinn- und Menschheitskrise nach dem Zivilisationsbruch. Honecker weiß das, beschwichtigt: „Die DDR war ein natürliches Kind der Nachkriegsentwicklung“ (1992: 47).

Es leuchtet auch heute noch ein, warum Honecker den Sozialismus als überlebenswichtiger für die DDR erachtete als die DDR für den Sozialismus. Sie war für ihn, der in eigenartig alten Kriegskategorien dachte, nicht nur ein Schauplatz von vielen, nicht nur ein Abschnitt der Front. Sie war für ihn Front – die Front. Das häufig traktierte Phantom von der apokalyptischen Panzerschlacht in der Lüneburger Heide war dafür nur die Chiffre. Für die UdSSR – das wusste auch Honecker, denn so realpolitisch war er allemal –, für den „Großen Bruder“ also war die DDR ein diplomatisches Faustpfand. Entsprechend wurde sie privilegiert behandelt, zuweilen verhätschelt, war aber eben auf dem Schachbrett strategisch opferbar, in Honeckers Augen ein Beutestück für die Speerspitze des Imperialismus, die faschistische BRD – für ihn „kein Staat des Rechts, sondern der Rechten“ (Wolff 2009: 371). Früh schon entstand die Angst einer „Ausplünderung der DDR“ (Andert/Herzberg 1990: 316). Umso größer konnte nach der Wende die Depression darüber werden, dass da fast nichts zu holen, der Ausverkauf eher ein Abwracken war. Es „kann doch nicht wahr sein, daß wir vierzig Jahre umsonst gearbeitet haben!“, lautet schon der zweite Satz im Großinterview der Honeckers von 1990 (ebd.: 19).

Der „Eiserne Vorhang“ war für Honecker ein Schutzschild, gerade politisch, aber auch persönlich, bis zuletzt. Für ihn waren die Nazis draußen, außerhalb der Mauern, dort tobte der Krieg weiter. (Als Honecker im März 1945 die Flucht aus der Nazi-Haft gelang, kehrte er trotz Verstoßes gegen die Untergrundparteiräson zurück, freiwillig. Eine spätere Parteistrafe nimmt er in Kauf. Seine erste Frau ist eine seiner Gefängnisaufseherinnen, er heiratet sie 1946.)14 „Lebenslimes“, hat Christoph Dieckmann die Mauer genannt (2005: 149). Und Christian Hoffmann, der Protagonist in Tellkamps Roman Der Turm, fühlt sich – ein Dante-Bild – erst richtig im innersten Kreis DDR „angekommen“, als er in Einzelhaft in einer Militärstrafvollzugsanstalt der DDR einsitzt, umgeben von Wänden im Inneren, dann die Tore, Stacheldrähte und Mauern der Kaserne, schließlich die Mauer um die DDR als äußerster Kreis (Tellkamp 2008: 827).

Auch deshalb ist der Prozess bis zur KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 in Honeckers Selbstwahrnehmung sein größter Triumph, nicht das innenpolitische „Gesellenstück“ des Mauerbaus (Lorenzen 2001: 91). Anerkennung für sein Regiment, die DDR, Anerkennung für deren friedenspolitische Funktion, ja, für ihre fortan endlich unleugbare Relevanz. „Innerhalb weniger Monate wurde sie 1972/73 von über 100 Staaten offiziell anerkannt. Im September 1973 wurde die DDR – wie die Bundesrepublik – Mitglied der UNO“ (Kowalczuk 2009: 57). Der „sogenannten DDR“ wird damit „Eigenstaatlichkeit“ attestiert, die BRD verzichtet per „Grundlagenvertrag“ auf den deutschen „Alleinvertretungsanspruch“. Die innereuropäischen Nachkriegsgrenzen sind nun völkerrechtlich ratifiziert, auch die der DDR. Ihr imperialer Preis hatte sich erhöht, so leicht war sie nun nicht mehr zu verschachern.15 Aber auch Anerkennung für Honecker kommt dabei herum, etwas politischer Sternenstaub funkelt: Honecker, ein Politiker von Gewicht, unterwegs im Auftrag des Friedens, gleichberechtigt im Kreise anderer großer Staatsmänner – die späte DDR-Propaganda lebt geradezu von diesem psychotischen Motiv.

Doch Honecker bleibt bei all dem auch überzeugter Sozialist. Die Theorien von Marx, Engels und insbesondere vom ungleich leichter verständlichen und praktischeren Lenin sind für Honecker Prophetie, ja: sein eigener Religionsersatz, sein Opium. Er fürchtet daher konsequent, dass er und Helsinki nur Appeasement bleiben werden. Der „antifaschistische Schutzwall“ mag mit all seinen Selbstschussanlagen, Wachtürmen, Patrouillen usw. eine höchst gefährliche Sperre für Staatsangehörige der DDR gewesen sein. Für die beiden Imperien dies- und jenseits dieser Demarkationslinie war sie eher die Kategorie Gartenzaun. Als Honecker 1981 auf der Krim Breshnew erinnert, es nähere sich der „20. Jahrestag der Errichtung des antifaschistischen Schutzwalls“, flüstert der mitanwesende Gromyko dem Kreml-Chef zu: „Er meint die Mauer“ (Staadt 1995: 74).

Honecker weiß, wie albern die Rede vom Schutzwall ist. Der Zweck der Mauer ist offensichtlich, zu publik werden ihre zahlreichen Opfer. Sie schützte vor einer unkontrollierten Massenabwanderung, Honecker thematisiert das bald sehr offen, zeigt sich 1990 beinah erstaunt über andere Deutungen (vgl. Andert/Herzberg 1990: 264). Aber der Antifaschismus, mit dem ist es Honecker ernst, der ist für ihn keine hohle Phrase. Honecker ist ein gebranntes Kind. Kaum ist die Mauer gefallen, bricht sein Gestapo-Trauma auf, sieht er in jedem Polizisten den Folterknecht der einstigen braunen Schergen. Er wird ungewohnt ausfallend. Seine Ängste sind echt. Schlimmer noch: Als er zum zweiten Mal in seinem Leben verhaftet wird, gut fünfzig Jahre nachdem ihn die Nazis in Berlin geschnappt hatten, ist Margot Honecker dabei. „[D]iesmal“ also, seufzt er beschämt, „mit meiner Frau“ (ebd.: 40)… Er, alt, erschüttert, aber doch kürzlich noch ein Staatschef von scheinbarem Weltrang… – kann nun nicht einmal seine Frau beschützen. „Siehst du, Erich, genau wie 1935“, klagte die schon bei einer ersten Durchsuchung im Hause Honecker (Lorenzen 2001: 211). Er scheint Todesängste auszustehen. Das alles trifft ihn schwer, es droht ein Schlaganfall, vorsorglich trifft ärztliche Ambulanz ein. Etwas später ist seine Frau selbst in Lebensgefahr, Herzinfarkt. Er ist verzweifelt, „Lebens- und Kampfgefährten“ waren sie doch immer noch. „Ohne sie wäre das Leben für mich sowieso sinnlos“, lässt er wissen, ist tief bewegt, versucht, dem über die Honeckers einbrechenden Weltuntergang Sinn, eine Struktur, etwas Erklärendes abzutrotzen (Andert/Herzberg 1990: 51).

Zu allem Überfluss erklärt man beide, so empfindet Erich Honecker es, „praktisch zu Obdachlosen“. „[W]irklich beispiellos“, meint er, der sich doch als einen Titanen des Wohnungsbaus sieht. Ausgerechnet die Kirche gewährt seiner Frau und ihm Asyl. Beide nehmen es notgedrungen an. Honecker verzweifelt, wird ungläubig, vermisst das Menschliche am neuen, angeblich doch so „menschlichen, demokratischen Sozialismus“. Er bekomme auch nur diese Konterrevolutionäre der „SED-PDS unter Leitung des Herrn Gysi“ (ebd.: 48) zu Gesicht – jetzt werden sie also privat, verhaften ihn, da war selbst die Gestapo anständiger, herrscht er Polizisten an. Die reagieren betroffen, sie führten doch nur Befehle aus. Das haben schon ganz andere behauptet, motzt ausgerechnet Honecker, gerade noch Staatschef der zweiten deutschen Diktatur (ebd.: insb. 48ff.). Honeckers Sprache ist innerlichst empört, er entrüstet sich, poltert, die Formulierungen werden unvermittelt lebensnah, manchmal nachvollziehbar gehässig – und dann wieder erschreckend weltfremd. Dass der neue Generalstaatsanwalt, der ihn verhaften lässt – „Das so etwas möglich war in unserem Polizei- und Justizwesen?!“ –, bald wieder abdankt, kommentiert Honecker süffisant: „… klebt aber heute auch nur noch Briefmarken“ (ebd.: 44).

Und doch, so liest und hört man quer durch die Publikationslandschaften hier wie da, geht es Honecker nicht vorrangig um sich. Er sei kein Egoist, ist es wohl nie gewesen. Die Empörung über die ihm unwürdig erscheinende Behandlung seiner Frau und seiner eigenen Person ist der innere Aufruhr eines verunsicherten und kranken Greises. Als ihm Korruption, Veruntreuung, Dekadenz vorgeworfen werden, wehrt er sich, zählt auf, was er immer gefrühstückt habe. Ein oder auch mal zwei Brötchen, mit Butter oder Honig. Zu Mittag Kantinenmakkaroni, Kartoffelbrei, je nachdem (ebd.: 377). Man stelle sich solche Sätze von Bismarck vor.

Kaum zu ermessen sind Wucht und Dynamik, mit denen Honecker seine Lebenskämpfe verloren gehen sieht, einen nach dem anderen, es muss geradewegs wie geplant ausschauen: Abdankung, Mauerfall, Putsch in Moskau, Ende der Sowjetunion, Sieg des Kapitalismus, neue Kriege. Er selbst, zeitweise obdachlos, dann verhaftet, muss im Gefängnis um die Fotos seiner Enkel „kämpfen“ – „Zwei Fotos […] hat man mir abgenommen.“16 Krank, auf die Atteste sogar westlicher Mediziner angewiesen, als Heilungsbedürftiger nur „kommerzielles Objekt für das Marketing von Ärzten“, die nicht an Genesung und Würde, sondern am Einkommen interessiert sind, erläutert er 1992 in einer überraschend hellen und vollendeten Verteidigungsrede vor dem Kriminalgericht Moabit (Wolff 2009: 383). Es ist auch programmatisch eine starke Rede – die Verzweiflung der Defensive, die Ohnmacht gegenüber dem in einer vormals heilen Welt nun allmächtigen, krakenhaften Kapital. Hier stimmt Honeckers Weltbild wieder. Die Trostlosigkeit erzeugt Klarheit. Honecker warnt, vor allen, warnt vor jedem, der Macht hat.

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In Honeckers Weltsicht hat er selbst kaum jemals Macht besessen. Sein politisches Denken ist dualistisch, schwarzweiß bzw. ‚rotbraun‘. Es gibt nur zwei Parteien, gut und böse, kommunistisch und faschistisch, menschlich-demokratisch einerseits, tyrannisch-massenmörderisch andererseits. „In der Politik“, sagt er schmittianisch anmutend, müsse man „beide Seiten“ betrachten. Schließlich besage die schöne Formel „Wir sind das Volk“ gar nichts, wo „frei nach Shakespeare“ gelte: „‚Sein oder Nichtsein‘!“ (Andert/Herzberg 1990: 222, 419ff.).17 Die neue Selbstaufklärung der DDR sei in Wahrheit Fremdverführung, die Bürgerbewegten liefen nun „Rattenfängern“ hinterher, kaum dass sie der „klare[n] Führung durch eine marxistische Partei“ entbunden seien. „Das Volk als Masse“ sei eben „leicht manipulierbar“ (ebd.: 419ff.).

Bemerkenswert für sein Politikverständnis ist aber auch, was Honecker ausblendet. Es ist leicht und plausibel, ihm allgemeine Angstklimatisierung, massenhafte Denunziantenproduktion, hunderte Mauertote, hunderttausende Staatssicherheitsmitarbeiter und millionenfachen Wahlbetrug vorzuwerfen. Selbst, wenn es strafrechtlich ein schwieriges Terrain ist (vgl. Wolff 2009; Lüderssen 1992). Sebastian Haffner hat in den Anmerkungen zu Hitler deutsche Selbstbetrugsbereitschaft in die Formel „Wenn das der Führer wüsste“ gebracht (1978: 47). Bei Honecker kehrt sich das um: Vieles, was er wohl weiß, will er nicht wissen.

Dass der gigantische Hauptkomplex seiner sogenannten Staatssicherheit liegt, wo Honecker selbst einst im Nazikerker saß, befremdet ihn beispielsweise nicht. Auch der Vorwurf des Wahlbetrugs irritiert ihn, das wäre doch „Selbstbetrug“, belehrt er, er stehe da „vor einem Rätsel“ (Andert/Herzberg 1990: 83). Zudem ahnt er früh, wie sehr der finstere Sicherheitschef Erich Mielke doch ein sadistischer Kleinkrimineller jener Sorte ist, die nur in diktatorischen Machtapparaten politisch werden. Honecker deutet jedenfalls 1990 an, diese in Moskau „hochgeschätzte Persönlichkeit“ habe über enge Seilschaften aus der Zeit stalinistischer Säuberungen verfügt. Nicht einmal das DDR-Politbüro habe um die Hintergründe der oft unbekannten Orden gewusst, mit denen Mielke regelmäßig aus der UdSSR heimkehrte. Und so habe Honecker sich vorsichtshalber nicht für die Machenschaften und die Stärke des von Mielke bis zuletzt angeführten MfS interessiert (ebd.: 368ff.).

Umso überraschter gibt sich Honecker über das Ausmaß der innerostdeutschen Spionage- und Repressionsmaschine, darüber, dass die Staatssicherheit seiner DDR mit zuletzt 280.000 Offiziellen und Inoffiziellen der größte Geheimdienstapparat der Weltgeschichte gewesen sein soll.18 Er selbst habe die vollen Mitarbeiter immer auf etwa 35.000 geschätzt (vgl. Andert/Herzberg 1990: 369f.).
(Das wäre übrigens, um Honeckers Unschuldsmiene hier einmal zu relativieren, immerhin noch das drei- bis fünffache Volumen jener reichsweiten Gestapo, die Honecker durchweg als für ihn konkretestes und abschreckendstes Beispiel für den nationalsozialistischen Terrorapparat anführte.) Eine Personalstärke von 35.000 Personen entspricht allerdings, legt man nur die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter zugrunde, etwa dem Stand der Jahre 1967/68 (Giesike 2000: 553-557). Zieht man die Zahl der inoffiziellen Mitarbeiter hinzu – „Ehrenamtliche“ nennt sie Honecker! –, landet man, was Zufall sein mag, etwa beim Personalgesamtbestand der Jahre 1953-55. Jahre, ab denen sich Honecker gemäß eigener Angabe vorsichtshalber nicht mehr für die wahre Stärke der Mitarbeiter interessierte, die das MfS unter Vertrag hatte.19 Die immens steigenden Personalkosten seien aus Geheimhaltungsgründen auch gegenüber dem Politbüro in der Gesamtsumme eines allgemeinen Etats für Innere Sicherheit versteckt gewesen (Andert/Herzberg 1990: 371).

Wie dem auch sei, was Honecker wusste oder nicht gewusst haben will, er hat sich verschanzt. Verschanzt in seiner DDR, die er sich als eine Insel umfassenden Friedens erträumt. Zur gruseligsten Passage des Großinterviews von 1990 wird dahingehend Honeckers Aussage zum eigenen Umgang mit den Informationen der Stasi. Für Honecker, der sich die Dossiers zunehmend widerwillig angesehen habe, hätten die Geheimdienstberichte aus dem Innern der DDR geklungen wie die Lügen der Feindpresse (ebd.: 312). Es ist unaussprechlich. Man stelle sich vor: Der größte Spitzelapparat der Welt, angesetzt auf eine Bevölkerung von gut sechzehn Millionen Menschen, eingesperrt in einer Duodezdiktatur, sammelt Tonnen von Tonbändern, Akten, Geruchsproben… – und es entsteht eine Art ostdeutsches „Echolot-Projekt“ (Kempowski), das selbst Egon Krenz für die „genauesten Berichte über die Situation in der DDR“ hielt (zit. n. Pötzl 2002: 149), das für den Staatschef Honecker aber identisch mit dem war, was man in der BRD an jedem Kiosk kaufen konnte und was deshalb gelogen sein muss.

Es muss im Rückblick in den 1980er Jahre immer undurchsichtiger geworden sein, was am realen Sozialismus Trugbild war, was Wirklichkeit. Honecker schien das zu ahnen – „Weltfrieden“ lautete seine Formel für dieses Kartenhaus. Der Weltfrieden war ihm teuer, nach 1990 sieht er ihn mehr als nur wieder bedroht. Die DDR war ein wichtiger Dominostein, um die Starre, die Schockfrostung der Nachkriegslage zu erhalten, zu bewahren. In dieser Starre war der Sozialismus Sieger. Die Mauer war vielleicht sogar der Preis, der diesem Weltfrieden zu entrichten war. Dieser Gedanke mag für Honecker zu konsequent erscheinen. Doch manches spricht dafür, er könnte es so empfunden haben.

Man lese etwa die Eingangspassagen aus dem „Kreuzverhör“ von 1990. Honecker scheint paranoid geworden. Er suggeriert, der Untergang der DDR sei Konsequenz seines von langer Hand geplanten Sturzes, „Ergebnis eines großangelegten Manövers, deren [sic!] Drahtzieher sich noch im Hintergrund halten. Diejenigen, die sich heute mit dieser Tat brüsten, sind dagegen kleine Lichter. Hier handelt es sich um große Vorgänge, die nicht von heute auf morgen eintraten, sondern um langfristig angestrebte Veränderungen auf der Weltbühne. Die heutigen Gelegenheiten bezeugen dies. Wir erhielten 1987 Signale aus Washington“ (Andert/Herzberg 1990: 20f.). Was er genau meint, bleibt unklar. Für Verschwörungssuggestionen sind Klarheiten gefährlich, und die Interviewer lassen den alten Mann diktieren, was dieser schon als Vermächtnis inszeniert. Die Richtung der Spekulation wird dennoch deutlich: „Der Fahrplan“ sei ein „deutsches Europa […] Die Nabelschau, die gegenwärtig von den Architekten des Vierten Reiches betrieben wird, ist dafür von untergeordneter Bedeutung“ (ebd.: 20). An anderer Stelle betont Honecker eine „internationale[…] Regie d[er] Konterrevolution“, das „Interesse reaktionärer imperialistischer Kreise“ in den USA. „Alle marxistischen Parteien dieser [sozialistischen – SH] Länder wurden nach dem gleichen Drehbuch zerschlagen“ (Honecker 1992: 11, 26).

Unwillkürlich denkt man unserer Tage an Gaddafi, an Hussein, an Arafat; sie alle haben zum Ende so gesprochen, haben den großen Feind noch einmal auftreten lassen, ihre Obsession, die Juden im Hintergrund oder die Kapitalisten, CIA, Israel, egal. Doch Honecker ist kein Antisemit. Mag in der DDR der verordnete Antifaschismus eine Auseinandersetzung mit deutscher Schuld systematisch verhindert, eine allgemeine Ausländerfeindlichkeit und nach 1990 einen eigenen Antisemitismus gestärkt haben (Wehler 2009: 347-350; Kowalczuk 2009: 168-175), ist zumindest Honecker hier unbedarft –  so denkt er nicht. Im Gegenteil, er wünsche sich, sagt er 1988, die DDR möge „jüdischen Bürgern […] wahre Heimstatt“ sein (Staadt 1995: 128). Ein Harmonist ist er. Mit Doppelstandards. Er ist nun auch Internationalist, und als solcher proarabischer Antizionist. Er hetzt nicht gegen Israel, aber er unterstützt Arafat, trennt Zionismus und „Faschismus“, ist außenpolitisch gegen beide, rüstet Syrien unter Assad mit hochmodernem Kriegsgerät gegen Israel aus (Deutz-Schroeder/Staadt 1994: 145f.), lässt die Rückerstattung geraubten Besitzes an Israelis boykottieren und verschleppt „Wiedergutmachungsleistungen“, lässt innenpolitisch die Große Synagoge in der Oranienburger Straße Berlins wiederherrichten, verhindert die stadtautobahnbaulich geplante Zerstörung des altwürdigen jüdischen Friedhofs Weißensee im Vorfeld des fünfzigsten Jahrestages der Reichspogromnacht (ebd.: 141-144; Pötzl 2002: 227-237).

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Überhaupt ist Honecker in seinen doppelten Rollen, in seiner ganzen politischen und persönlichen Art doch auch ein Gegenentwurf zu jemandem wie Bismarck, oder zu Ulbricht, dem politischen Ziehvater, zu den Kaisern, zu Hitler ohnehin. Sicher, auch Honecker ist fahrig. Aber er macht daraus keine Show, will nicht durch Getue imponieren – hätte es wohl auch nicht überzeugend vermocht. Er hält sich nicht für etwas Besonderes; dass er kein Genie ist, macht ihm nichts, Hauptsache, die Aggressionen bleiben aus. Beherrschung, Selbstbeherrschung bleibt ein gutes Stichwort für Honeckers Wesen. „Manchmal“, berichtet seine Frau, seien schon „die Sicherungen bei ihm durchgebrannt“ – man kann sich aber kaum vorstellen, wie das aussah. Flüche wie „Verflixt nochmal“, hier oder da ein beherztes „Sowas aber auch!“, mehr ist schwer zu erahnen. Überwiegend blieb er denn auch, so Margot Honecker weiter, „sehr verschlossen, wenn ihn innerlich etwas bewegte“ (Andert/Herzberg 1990: 33).

Auch setzte Honecker seine Mimik immer recht sparsam, seine zackige Gestik zwar gezielt, aber eher tollpatschig ein. Mit der Aussprache hat er es nie so gehabt. Die stets falsche Betonung von Silben, seine hohe, fistelnde Stimme, der von Ulbricht abgeschaute Singsang der Worte. Spott gab es reichlich, es gab auch reichlich Grund für ihn. Überhaupt – diese Sprache. Beobachter, Weggefährten, Zeitzeugen, selbst politisch anderswo Beheimatete berichten, wie zugänglich, gesprächig, zugewandt Honecker im persönlichen Umgang sein konnte. Herzlich sogar, in echt. Seine Ansprachen würden täuschen.

Die überlieferten späten Interviews zeichnen ein anderes Bild. In ihnen wechselt die Sprache, je nach Thema, wahrscheinlich auch nach Tageszeit und -form, das lässt sich nicht immer rekonstruieren. Es fällt aber auf, dass der alte Honecker – die Nachwendedokumente sind hier eine analytische Goldgrube – seine Sätze kaum kontinuierlich setzt, gezielt abwägt. Mal plätschern, mal sprudeln vertraute Phrasen aus ihm, mal wirkt er locker, entspannt, flapsig sogar, dann wieder verwirrt. Manchmal verwendet er schon westdeutsche Begrifflichkeiten wie „Öffentlichkeit herstellen“, „mehr Demokratie“ usw. (ebd.: 291, 79); gelegentlich fällt er zurück in eine überkorrekte, vielfach verhasste und verlachte Funktionärssprache, die nur mit einem genossenschaftlichen ‚Du‘ ihren abstoßenden Charme stilvollendet versprüht („liehestest“, „dachtestest“ etc.). Manches wirkt so lebensfremd grotesk wie 1961 Ulbrichts berüchtigte Reformulierung zur Frage des Mauerbaus oder, drei Jahrzehnte später, Schabowskis Pressekonferenz, in der die Öffnung dieser Mauer verklausuliert, verdruckst, auch und erst auf Nachfrage hin so vage deutlich wurde, dass DDR-Bürger und mit dem Sprech vertraute internationale Journalisten wagten, zwischen den Zeilen zu interpretieren. Dergestalt einmal konkret von Franz Josef Strauß befragt, der eine Aussage Honeckers nicht diplomatisch eindeutig zu fassen bekam, habe jener, so rekapituliert er selbst, Strauß geantwortet: „Ich habe bestätigt, daß unser Wille darin besteht, die Reisemöglichkeiten zu erweitern, und zwar für alle Bürger der DDR einen Reisepaß auszufertigen, der ihnen die Möglichkeit gibt, in alle Himmelsrichtungen zu reisen“ (ebd.: 59).

Die Sprache war also auch nicht so sein Gebiet. Aber auch das kompensiert er auf seine Weise. Einmal reckt er bei einer Veranstaltung spontan die Arbeiterfaust, fragt später: „‚War doch gut so? Oder?‘ Ja, gut, Erich“ (Osang 1993: 67). Was sollte man auch sagen? Der alte Honecker wirkte zunehmend nervös, schon in der späten DDR angespannt, auf ihm lastete das Wissen um die Verantwortung für die Welt, die Partei, für den Frieden. Oder den Krieg, so sah er das. Den Weltkrieg wenigstens diesmal mit allen Mitteln verhindern, Frieden bewahren um jeden Preis, für Honecker waren das – ganz gleich wie man seinen Realitätssinn bewertet – keine Lippenbekenntnisse und auch keine naiven Träumereien eines Unpolitischen. Hier wirkt er ehrlich, pathetisch, denkt auffallend, ja: betont patriotisch; er weiß um all die Toten der Vergangenheit und Zukunft, er spürt und trägt Verantwortung für das Leben der Menschen, nicht einzelner, versteht sich, aller Menschen. Die unzähligen toten Arbeitssklaven von Magnitogorsk erwähnt er so wenig wie andere Opfer des Sozialismus (Lorenzen 2001: 20).

Honecker kennt den Preis dessen, was er friedlichen Fortschritt nennt, und er ist bereit, ihn zu zahlen, zahlen zu lassen. In der DDR stehen unzählige metallurgische Großbetriebe, auch dort sterben Arbeiter, weniger als in Magnitogorsk, langsamer auch, aber sie sterben. Die Umweltzerstörung in der DDR ist maßlos, die regionalen Krebsraten variieren entsetzlich, erst nach der Wende werden Aus- und Unmaß Stück für Stück bekannt und bewusst (Kowalczuk 2009: 238f.). Das ist Honeckers Tribut (vgl. Andert/Herzberg 1990: 287-292), um auf seine Weise Pazifist zu bleiben. Solch ein Frieden verlangt Opfer – auch wer sich an die Mauer wagt, wisse schließlich, was er tut. Honecker hatte nach dem Krieg nicht viele Vertraute unter den Überlebenden finden können. In seinem Atomschutzbunker lag permanent ein sauber verpackter Schlafanzug bereit.20 Honecker fürchtet den „Ätherkrieg“, ein deutsches Niemandsland ist ihm eine realistische Zukunftsvision (ebd.: 264). Auch daher die Paranoia nach seiner Absetzung, „Signale aus Washington“ erhalten usw.; Hitler, die Banken, das kaukasische Öl, nun Kuweit, die USA, der Ausverkauf der DDR… Den Kampf um den Weltfrieden hält Honecker für verloren (Andert/Herzberg 1990: 340).

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Angesichts dieses Wesens erscheint die Entfremdung Honeckers unvermeidlich gewesen zu sein. Kontinuierlich heilig blieb ihm nur seine allererste Parteifunktion, seine Uraufgabe: die Zukunftsperspektive der Jugend. Er bleibt hier sicher gefesselt an die alte Zeit, an seine eigenen Jugendjahre. Doch nur bei diesem Thema wirkt er nie wie der gealterte und unnahbare Jugendfunktionär, der sich an unaufhörliche Titel, zähe Phrasen und stoischen Bürokratismus klammert wie eine Brecht‘sche Figur an ein Fünkchen Freude. Hier ist er, was die Propaganda nur hölzern und zum Fremdschämen peinlich über Honeckers Wirkung auf „die Jugend“ schreibt: Zwar ein „Parteifunktionär, ein Staatsmann, aber ein Mensch, wie ich selbst einer bin, ein Mensch, der sicher mehr Erfahrung besitzt, viel gelernt hat und mehr weiß. Aber er ist ein Mensch wie ich“ (SED 1978: 177).

Doch selbst wenn Honecker es ganz ernst meint, spürt er zunehmend das Misstrauen, das solchen Propagandaschrott reflexhaft hervorruft. Freut er sich doch einmal oder amüsiert sich gar, wie bei den später legendären Weltjugendfestspielen 1973 in Ostberlin, scheint es ihm peinlich, fast unbegreiflich, noch „herzlich […] in das bunte Treiben einbezogen“ zu werden. Er ist es nicht mehr gewohnt, dass sich um ihn „eine dichte Traube junger Menschen“ bildet; er glaubt das nicht ganz, weiß vielleicht, ahnt zumindest, dass hier etwas nicht stimmt. „Scherzworte wurden gewechselt“, beschreibt er seine unglaubliche Freude dann verschämt (SED 1982: 106).  Scherzworte! Da immer alle wie bestellt lachten, „muss [Honecker] sich für einen richtigen Spaßvogel gehalten haben. […] Der Generalsekretär hatte einen Scherz gemacht“, erzürnt sich Alexander Osang nach der Wende (1993: 66f.).

Einmal zieht Fidel Castro Honecker klammheimlich auf, weil er spürt, wie Honecker flunkert, Zahlen übertreibt, von Castro Anerkennung für die Leistungsfähigkeit und Solidarität der DDR-Bevölkerung erheischen will. Castro macht unauffällige Witze, stellt Fangfragen. Honecker merkt’s nicht, antwortet anscheinend gewissenhaft. Ja, wirklich, Fidel, 700.000 FDJler, allein in Berlin … Wo die denn unterkommen, fragt Castro, der Berlin kennt. Die Situation wirkt kafkaesk. „Also viel mehr Zuschauer als Katholiken und Protestanten“, stellt „Fidel“ später fest; es klingt seriös, macht aber kaum Sinn. „Das sind auch treue Bürger der DDR“, antwortet „Erich“ (Staadt 1995: 59ff.). Internationalismus hin oder her, hier prallten nicht einfach Kulturen aufeinander. Sondern Honeckers Potemkinsche Dörfer waren selbst dem phantasiebegabten Empirismus von Granitsozialisten wie Castro zu viel geworden. Dennoch sei auch das Verhältnis zu ihm selbstverständlich so gewesen wie zu allen Staatschefs: herzlich.

Und so ist die Häufigkeit jener in der späten DDR propagandistisch überbetonten „Herzlichkeit“ symptomatisch, mit der Honecker die vielen Staatsgäste der DDR persönlich empfängt, willkommen heißt und anwitzelt. Auch hier hilft ihm, dass er ein zunehmend abgeschotteter Meister der Selbsttäuschung geworden ist, der Realität und Inszenierung nicht mehr zu trennen versteht. Mit Ekel erinnert sich der ehemalige Regierungssprecher der sozialliberalen Koalition, Klaus Bölling, an den Besuch einer BRD-Delegation in der DDR, bei dem bestellte Jubelmarionetten korrekt jubeln, während hinter den Fenstern verhuschte Gesichter lugen. Als wäre nichts, als sei das tatsächlich, was es wohl auch war: reale Normalität – Bölling: „Es war alles so klobig, so beleidigend dilletantisch und primitiv“ (zit. n. Lorenzen 2001: 152; dazu Brunner 2011). Umso mehr werden die Worte „Honecker“ und „herzlich“ in der späten DDR-Propaganda fast schon synonym verwendet (vgl. SED 1978, 1982). Es ist die typische Reklame der Mangelwirt­schaft; man erkennt am Slogan, woran es fehlt. „Herzlich“ ist so eine schiefe Hülse; sie soll den Eindruck eines knarzigen Apparatschiks vermeiden,  betont ihn umso mehr.

Herzlich ist Honecker mit Kindern, ihnen vertraut er. Die Bilder aus den Kindheitstagen des Enkels Roberto, um die Honecker später wird „kämpfen“ müssen (wie Anm. 16), sind schön: Opa Erich schaut entspannt, Oma Margot zärtlich, Roberto mit Budjonny-Mützchen – die typische Kopfbedeckung „eines bolschewistischen Reitergenerals im russischen Bürgerkrieg“ (Pötzl 2002: 326), ein Geschenk des Großvaters –, Roberto schaut ungestellt in die Gegend, weist die Großeltern auf irgendetwas hin. Wie aus dem echten Leben, idyllisch auch, der Weltpolitiker und die Familie, ganz privat, bei sich (abgedruckt bei R. Honecker 2010: 17). Der damals bald folgende Tod seiner Enkelin, Robertos Schwester, trifft Erich Honecker unsagbar schwer. Regelmäßig lässt er sich zum Friedhof fahren, trauert, hält Andacht, allein. Doch selbst das will geplant sein, ohne ihn. Denn am Kindergrab platziert Honecker eine Kristallvase. Die Protokollabteilung ist nervös; tatsächlich wird die Vase bald entwendet und Ersatz besorgt. Die informierte Friedhofsverwaltung stellt fortan immer die Kopie auf, kurz bevor Honecker auftaucht. Für den bleiben die Vasen sich gleich (Grimm 2004: 105). Vielleicht ist er gerührt, die Bürger der DDR sind ehrlich, stehlen nicht, nicht einmal eine so teure und so schöne Friedhofsvase aus Kristall, es mangelt ihnen eben an nichts. Gehören sie nicht, wie er, zu den Guten?

 

Anmerkungen

1   Dazu zählen Älteres (wie SED 1978), diverse Selbstbekundungen oder Abseitiges wie die Notizenmappe Huhns (2009). Zur Wegbegleiterliteratur zählen Politikerbiographien diverser Staaten und Regierungen, aber auch Hochspannendes wie Wolff 2009.

2   So legte Hinrichs 1993 ein Psychogramm seines „Patienten“ vor, dem in vielfacher Hinsicht zugestimmt werden kann, etwa was Honeckers Leidens- und Mitleidsunfähigkeit betrifft, sein anti-individualistisches Kollektivierungsdenken, seinen latenten Sadismus gegenüber Tieren, seinen eigentümlichen Umgang mit Aggressionen, seine rhetorischen Anti-Ismen, aufdringlichen Geborgenheitsofferten u.a.m. Interessant soll davon im Folgenden allerdings nur werden, was sich auch für die Übertragung auf politische Strukturen plausibilisieren lässt, weshalb das Vorliegende ein „psychopolitischer“ Versuch ohne psychoanalytische Ambitionen bleibt.

3   „David Hasselhoff stößt auf Mauer der Ablehnung“ In: Der Tagesspiegel vom 10.10.2009. URL: http://www.tagesspiegel.de/berlin/stadtleben/feier-zur-grenzoeffnung-david-hasselhoff-stoesst-auf-mauer-der-ablehnung/1613248.html [Stand: 31.05.2012].

4   Zum Nörgeln als funktionalem Motiv Port 2010; zur Mangelwahrnehmung angesichts der BRD als Vergleichsstaat Kowalczuk 2009: 108-140. Beeindruckende Dokumente auch in  Deutz-Schroeder/Staadt 1994: insb. 72-74. Auch die Tragikomödie Goodbye, Lenin! (Regie: Wolfgang Becker, 2003, D) spielt zentral mit der entlastenden und stabilisierenden Funktion der „Eingabe“, die sich spielfilmisch in den Kapitalismus verlängert: als Reklamation von mangelhaften Versandhausprodukten. Zum restpreußischen DDR-Petitionssystem vgl. auch Pötzl 2002: 150. 

5   Konsum (sprich: Konnsumm) war die alltagssprachliche Kurzbezeichnung für „konsumgenossenschaftliche“ Lebensmittelläden in der DDR.

6   Online ist eine Reihe von Nachwendedokumentationen bzw. Mit- und Neuverschnitten verstreut verfügbar, deren genaue Produktionsherkunft und Produzenten nicht immer ersichtlich sind; ich beziehe mich hier auf http://www.youtube.com/watch?v=Mjoj9xsKtGQ [Stand: 31.05.2012].

7   Zu dieser (dort anders formulierten) Zuschreibung indes Kowalczuk 2009: 124.

8   Wie viel Zahlen ihm bedeuten, zeigt auch der von Honecker genannte Butterwert von gut 15 kg. In einem Telefonat mit Bundeskanzler Helmut Schmidt gibt er 1978 damit an, den mit 14 kg „in der Welt“ höchsten Butterverbrauch pro Kopf weise die DDR auf. Schmidt antwortet lakonisch, „die sollen lieber Margarine essen, da werden die nicht so fett von“ (Deutz-Schroeder/Staadt 1994: 65).

9   Die Demontage der Familie Kohl setzte zwar schon nach dem Selbstmord Hannelore Kohls und mit dem Parteispendenskandal ein, erreichte aber erst im Zuge der Debatte um die Autobiographie Walter Kohls eine gesellschaftspolitische Dimension, vgl. u.a. Der FREITAG vom 12. Juni 2011 (Nr. 28); ferner Franke 2012. Vgl. zum Umgang mit der DDR aus bundesrepublikanischer Sicht auch Meier 2010, sowie dazu im hier verhandelten Kontext Huhnholz 2011.

10  So etwa Margarete Buber-Neumann, deren Mann Opfer stalinistischer Säuberungen wurde (zit. n. Völklein 2003: 82).

11  Zum letzten Stand der in der Literatur widersprüchlich verhandelten Privatverhältnisse in dieser Zeit Völklein 2003: 157-162.

12  Es irritiert, dass Honecker hier eine Losung Heiner Müllers wiederholt, die der, kaum minder irritierend, einem am 4. November 1989 auf der Ostberliner Massendemonstration verlesenen Redebeitrag voranstellte.

13  So beurteilt Wolfgang Templin (2010) den fünften und letzten Band von Hans-Ulrich Wehlers Deutscher Gesellschaftsgeschichte, der die DDR in der Tat beiläufig und stets auf engem Raum eindeutig metaphernfixiert, also nicht als neben der BRD bestehenden Staat sui generis, behandelt: mal als „Abwanderungsland“ (ebd.: 43ff.), mal als „pathologisches“ Ideologiekonstrukt (ebd.: 354ff.), mal als „Sultanismus“ (354). Die Bemerkung über die DDR als „Fußnote der Geschichte“ war im Übrigen ursprünglich eine Prognose – von Stefan Heym.

14  Lorena Jaume-Palasí hat in Reaktion auf einen Vortrag, in den ich diese Anekdote verflochten hatte, mit guten Gründen vermutet, es handle sich um eine Art „politisches Stockholm-Syndrom“.

15  Zum Eindruck des Geschachers zwischen den Großmächten Honecker 1992: 28.

16  Lt. Vorabdruck des „Honecker-Tagebuchs“ im Ost-Berliner Boulevardblatt Berliner Kurier vom 07.02.2012. URL: http://www.berliner-kurier.de/panorama/honecker-tagebuch--erich--rot-front---mielke-stumm,7169224,11587254.html [Stand: 31.05.2012].

17  Angesichts der Ankündigung dieser Formel mag es sich um einen Druckfehler handeln. Frei nach Shakespeare dürfte Honecker auch inhaltlich treffender „Sein oder Nichts sein“ gesagt haben.

18  „Krake“ nennt Kowalczuk (2009: 36) diese Omnipräsenz treffend, dort auch die genannten Zahlen, zu denen Kowalczuk noch die teils identischen 2,3 Millionen SED-Mitglieder ergänzt. Diesem Unterdrückungs- und Machtapparat stehen in der gesamten Zahl gerade 590 Rechtsanwälte gegenüber, nicht wenige erweisen sich bekanntlich nach der Wende als IM (vgl. ebd.: 52).

19  Vgl. Giesike 2000: 553-557 und Müller-Engbergs 2008: 36 (eigene Berechnungen auf Basis der ebd. genannten Zahlen); ferner Andert/Herzberg 1990: 369ff.

20  Vgl. u.a. Deutsche Bunkerwelten. Von einem Ausweichsitz zum anderen: Honeckers staatsgeheimes Endzeitdomizil. URL: http://ausweichsitz.de/content/view/106/39/ [Stand: 31.05.2012].

 

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Erschienen in: BerlinerDebatte INITIAL 23 (2012) 2, S. 5-22