Ökonomischer Analphabetismus

Es gibt unzählige Publikationen, die sich mit der Frage beschäftigen: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Die Antworten reichen von „Bürgergesellschaft“, „Verantwortungsgesellschaft“ und „Konsumgesellschaft“ über „Erlebnisgesellschaft“ und „Risikogesellschaft“ bis hin zu „Wissensgesellschaft“, „Bildungsgesellschaft“ und „Informationsgesellschaft“. Ein Bezug zur Wirtschaft kommt dabei nur am Rande vor, als Unterbegriff oder Nebenaspekt. Und doch ist sie die Hauptsache, denn die Gesellschaft, in der wir heute leben, ist in erster Linie und vor allem eine Wirtschaftsgesellschaft. Was liegt da näher, als Wissen, Bildung und Informationen, die unser Denken ausfüllen, auch ökonomisch zu bestimmen, sie der Wirtschaftssphäre zuzuordnen? Bildung wäre demnach in hohem Maße ökonomische Bildung, Wissen zu einem Gutteil Wirtschaftswissen und die Informationen, die täglich von uns aufgenommen und verarbeitet werden, größtenteils Wirtschaftsdaten, -fakten und -zusammenhänge.
Tatsächlich ist dies auch so. Nehmen wir zum Beispiel die Nachrichten der öffentlich-rechtlichen TV-Sender in der Bundesrepublik Deutschland, so dominiert hier ganz eindeutig der Wirtschaftsblock, noch vor den Sportnachrichten und weit vor den Informationen zur Innen- und Außenpolitik und zur Kultur. Nicht selten machen die Wirtschaftsthemen mehr als dreißig Prozent der Nachrichten aus, mitunter sogar fünfzig. Ein ähnliches Bild bietet sich, wenn man die Zeitungen auf schlägt, zumindest bei den großen, überregionalen Blättern. Darüber hinaus existiert eine große Auswahl an Wirtschaftsjournalen, ökonomischen Fachzeitschriften, Wirtschaftsmagazinen, Finanzspezials, Online-Plattformen, Informationsdiensten und anderes mehr, gibt es Dutzende Wirtschaftsverlage und Massen von Büchern zu ökonomischen Fragen. Das Angebot ist riesig. Eigentlich müsste das Wissen auf wirtschaftlichem Gebiet weit größer sein als auf jedem anderen. Dem ist aber absolut nicht so. Erstaunlicherweise ist eher das Gegenteil der Fall: Auf kaum einem Gebiet ist die allgemeine Bildung derart gering wie auf ökonomischem Gebiet. Nirgendwo gibt es mehr Vorurteile, Fehlannahmen, Einfältigkeit und Nichtwissen wie gerade hier. Nirgends sind Ignoranz und Inkompetenz mehr verbreitet als in Wirtschaftsdingen. Es scheint nicht übertrieben, in Deutschland von einem ökonomischen Analphabetismus zu sprechen.
Zum großen Nachteil der Betroffenen, muss man hinzufügen, denn das Leben besteht überwiegend aus wirtschaftlichen Entscheidungen und Handlungen. Sind diese falsch oder suboptimal, so erwächst den Menschen daraus ein nicht unerheblicher Schaden. Dies betrifft nicht nur falsch ausgefüllte oder unterlassene Steuererklärungen, unvorteilhaft abgeschlossene Versicherungs-, Kredit-, Konto- oder Sparverträge, zu viel gezahlte Gebühren oder falsch berechnete Preise, sondern auch Entscheidungen im Arbeitsleben und im Alltag. Wer nicht rechnen kann, zahlt drauf! Immer und überall. Und wer die ökonomischen Hintergründe und Zusammenhänge nicht kennt oder nicht begreift, läuft Gefahr, bei jeder Handlung, Fehler zu machen und Verluste zu realisieren. Woran liegt es?
Zum einen an der mangelhaften ökonomischen Bildung in den allgemeinbildenden Schulen. Analysen belegen, dass die Vermittlung ökonomischen Wissens hier nur selten der Logik ökonomischer Erkenntnisgewinnung und noch weniger den praktischen Bedürfnisse folgt. Hinzu kommen die mangelnde Kompetenz und ideologische Verblendung vieler Lehrender, welche „Wirtschaft“ mit „Politik“ verwechseln und statt ökonomisches Allgemeinwissen und Handlungskompetenz zu vermitteln, politische Propaganda betreiben. Zudem meist auch noch gegen „die Wirtschaft“, worunter insbesondere Banken, Finanzmärkte, große Industrieunternehmen und Wirtschaftsinstitutionen verstanden werden. Dies jedoch erklärt nichts, sondern schafft nur Voreingenommenheit, wirkt kontraproduktiv statt kompetenzbildend.
Zweitens an dem häufig einseitig an Unternehmensinteressen orientierten und niveaulos dargebotenen Wirtschaftswissen in Gestalt von Werbekampagnen, Produktinformationen, Risikoaufklärung und so weiter. Dies vermittelt ein verzerrtes Bild von der Wirtschaft und verleidet so manchem die Wirtschaftsproblematik von vornherein. Statt Information wird „Infotainment“ geboten, statt Aufklärung „Ablenkung“. Das niveaulose Angebot aber stößt oftmals auf eine Nachfrage, die kein bisschen besser ist. Sonst wäre wahrscheinlich das Angebot besser!
Drittens liegt es am mangelnden Interesse, insbesondere der jüngeren Generation. So dokumentiert eine aktuelle „Jugendstudie“, dass sich nur rund 22 Prozent der Vierzehn- bis Zweiundzwanzigjährigen wirklich für Wirtschaft interessieren, darunter ganze fünf Prozent „sehr stark“. Das Resultat ist ein entsprechendes Nichtwissen: 73 Prozent wissen nicht, wer oder was die „Europäische Zentralbank“ ist, 52 Prozent können mit dem Begriff „Inflationsrate“ nichts anfangen, 70 Prozent wissen nicht, was eine „Rendite“ ist. Nichtwissen und Bildungsverweigerung aber führen zu Fehlwahrnehmungen und Fehlverhalten. Es ist eine Spirale aus Inkompetenz, Indolenz und Infantilität, die sich hier dreht. Und die wenigen, die an Wirtschaftsfragen interessiert sind, verfolgen damit nicht selten ein eher fragwürdiges Ziel: Schnelles Geld ohne viel Einsatz!
Bemühungen, hier Abhilfe zu schaffen und die ökonomische Bildung zu verbessern, kommen von vielen Seiten, vom Staat, von der Wirtschaft, von der Politik. Das Defizit aber ist derart groß, dass bisher kaum Erfolge erkennbar sind. Nach wie vor verwechseln viele Kredite mit Subventionen und wissen eine Geldkarte nicht von einer Kreditkarte zu unterscheiden. Daraus erwachsen ihnen Nachteile und Verluste im täglichen Leben; dies bremst aber auch den ökonomischen Fortschritt, ebenso wie fehlendes technisches Verständnis den technischen Fortschritt bremst. Während es hier aber keine unüberwindbaren Barrieren zu geben scheint, auch kaum altersbedingte Eigendiskriminierung, siehe PC, Handy, MP3-Player, iPod, iPhone und so weiter, ist dies in Wirtschaftsfragen anders. Hier sind Ignoranz und Nichtwissen bei Älteren wie bei Jugendlichen weit verbreitet, was bedenkliche Konsequenzen für die Betroffenen wie für die Gesellschaft hat. Während unternehmensnahe, wirtschaftsliberale und politisch konservative Milieus den Wirtschaftsbegriff gern betriebswirtschaftlich auslegen und volkswirtschaftliche Aspekte ausblenden, neigen „linke“ Kreise dazu, Wirtschaft überhaupt abzulehnen und zu verteufeln. Beide Positionen aber, die betriebswirtschaftliche Verengung von Wirtschaft ebenso wie das antikapitalismuskritische Ressentiment dagegen, sind irrelevant, wenn es darum geht, die Welt, wie sie ist, besser zu verstehen und in ihr zurechtzukommen. Für wen die Vorgänge in der Weltwirtschaft „ein Buch mit sieben Siegeln“ sind und die Ökonomie eine Art Geheimwissenschaft, der ist heutzutage vielen Gefahren ausgesetzt. Zahnärzte und andere Besserverdienende verlieren dadurch mitunter, zum Beispiel durch Falschberatung oder Anlagebetrug, viel Geld. Die meisten von ihnen können das verkraften. Für andere dagegen wird aus der geistigen Armut schnell reale Verarmung. Sie geraten durch übereilt abgeschlossene Verträge und selbst verschuldete Fehler in eine „Schuldenfalle“, aus der sie nur schwer wieder herausfinden. Schuldnerberater können ein Lied davon singen, wie mangelnde ökonomische Bildung und Naivität, was in Wirtschaftsfragen so viel wie Dummheit bedeutet, in eine ausweglose Situation führen können. Dagegen hilft nur, sich schlau zu machen, lernen, was Wirtschaft ist und wie sie funktioniert, auf volkswirtschaftlicher Ebene und im Alltag. Dass es damit heute noch nicht allzu weit her ist, zeigt unter anderem die Euphorie für die Idee eines „bedingungslosen Grundeinkommens“, die gegenwärtig überall zu beobachten ist. Während namhafte Ökonomen dieses Konzept für einen „Irrweg“ halten, für ein abstruses Projekt, und ökonomisch gebildete Menschen ihm skeptisch bis ablehnend begegnen, findet es bei ökonomisch wenig Gebildeten großen Zulauf. Dies weist auf ein ungelöstes Verteilungsproblem im gegenwärtigen Finanzkapitalismus hin, aber auch auf ein Defizit an ökonomischer Bildung, was es einigen offenbar schwer macht, zwischen einem seriösen Lösungsvorschlag und einer „Schnapsidee“ zu unterscheiden.
In einer Wirtschaftsgesellschaft wie der unsrigen sind ökonomisch gebildete Menschen gefragt. Aber sie sind auch im Vorteil: Sie verstehen mehr von der Welt, durchschauen ökonomische Zusammenhänge leichter und können ihre Entscheidungen und Handlungen besser abwägen. Es gelingt ihnen besser als anderen, mit Geld umzugehen und die Chancen und Risiken einer wirtschaftlichen Selbständigkeit zu überschauen und abzuschätzen. Das allein garantiert noch keinen Erfolg im Leben, macht ihn aber wahrscheinlicher.