Theater als Mittel der Sensibilisierung

Interview mit Ana Ara, Leonila Argüello und Fanny Vado von der Theatergruppe „Nuestra Cara“ vom Frauenkollektiv Matagalpa (Colectivo de Mujeres de Matagalpa/CDMM)

in (20.12.2012)

Könnt ihr das Frauenkollektiv Matagalpa vorstellen und ein wenig von der Arbeit berichten, die ihr macht? Seit wann gibt es die Organisation?

Das Kollektiv ist 1985 aus verschiedenen Fraueninitiativen entstanden, die an der Revolution1 beteiligt waren und teilweise bewaffnet gegen die Diktatur gekämpft haben. Nun mussten die Frauen feststellen, dass in der Partei2 nach wie vor patriarchalische Strukturen herrschten und dass die Rechte der Frau immer noch nicht anerkannt wurden. Daraus entstand der Wunsch, eine alternative Gesellschaft außerhalb des patriarchalen Herrschaftssystems zu erschaffen. Und so haben verschiedene Initiativen zusammengefunden – eine Theatergruppe, eine Radiogruppe und eine Gruppe von Medizinerinnen, die sich mit dem Thema Feminismus auseinandersetzten. Aus diesen Gruppen ist das Frauenkollektiv entstanden.
In diesem Kreis haben wir – also die Frauen, die das Kollektiv gegründet haben – mit dem angefangen, was wir schon konnten: Diejenigen, die im Gesundheitswesen beschäftigt waren, arbeiteten mit traditionellen Geburtshelferinnen und mit dem Personal des Gesundheitsdienstes zusammen. Wir haben uns mit „sexuellen und reproduktiven Rechten“3  beschäftigt - die damals allerdings noch nicht so genannt wurden.
Wir setzten uns von Anfang an für das Selbstbestimmungsrecht ein – in diesem Fall für das Recht der Frauen, über ihren eigenen Körper zu bestimmen und über ihr eigenes Leben  was Gesundheit und Bildung angeht – in diesen beiden Bereichen kennen wir uns aus. Was den kreativen Teil angeht, kommen andere Frauen ins Spiel, Netzwerke aus der Frauenbewegung oder gemeinsame Projekte mit anderen Gruppen. Im Moment leistet das Kollektiv durch seine  partizi-pativen Lehrmethoden einen großen Beitrag im Bildungsbereich, außerdem im Bereich sexuelle und reproduktive Gesundheit und im Bereich der Bürger- und Menschenrechte.
Heute sind wir 24 Personen in der Gruppe, zwanzig Frauen und vier Männer. Wir arbeiten z. B. mit Frauen, die im Gefängnis sind und haben ein Radio-Projekt. Also kurz gesagt, wir machen nicht nur Theater, sondern haben noch viele andere Projekte.


Und wie habt ihr angefangen, euch mit Theater zu beschäftigen?


Die Gruppe hat von Anfang an ihren Ausdruck im Theaterspiel gefunden, und das, obwohl das Theater traditionell als Männerdomäne gilt: Regisseure, Autoren, Schauspieler – das sind alles Berufe, die eher mit Männern in Verbindung gebracht werden als mit Frauen. Deshalb wollten wir einen Beitrag zum Theater vom Blickwinkel der Frauen aus liefern. Wir begreifen das Theater als Mittel der Sensibilisierung und (politischen) Bildung auf der Grundlage des Feminismus.
Wir haben im Frauenkollektiv Matagalpa verschiedene künstlerische Projekte. Eines davon ist das „Teatro Nuestra Cara“ („Theater Unser Gesicht“). Wir arbeiten schon seit 16 Jahren zusammen. Wir schreiben und spielen soziale, feministische Theaterstücke und bilden auch Schauspielerinnen aus.
Dann gibt es noch die Improvisationstheater-Gruppe. Spontanes Theater ist eine Mischung aus Kunst, Kreativität und Tanztheater. Auch die Emotionen, die die Leute mit ihrer jeweiligen Geschichte verbinden, spielen mit hinein. Das Ziel ist das einer Gruppentherapie: Ich erzähle eine Geschichte, die sich in denen widerspiegelt, die sie spielen. Auch bei den Zuschauer_innen  tritt ein Wiedererkennungseffekt auf, viele denken sich: Genau so geht es mir auch. Da kommen viele Emotionen hoch, und das Ziel ist es, sich kollektiv damit auseinanderzusetzen. Die dritte Gruppe ist ein Chor, der sich „Voz es Voces“ („Eine Stimme ist viele Stimmen“) nennt. Wir sind keine professionellen Sängerinnen, aber wir glauben, dass die Musik wichtig ist für die Menschen. Also nehmen wir Lieder der Frauenbewegung wieder auf, gesellschaftskritische Lieder, Protestlieder, Lieder, die Kritik an irgendeiner Herrscherfamilie oder repressiven Regierung üben. Die vierte Gruppe schließlich wird von vierzehn  jungen Leuten aus ländlichen Gegenden gebildet, eine Theatergruppe mit dem Namen „Alcanzando las Estrellas“ („Nach den Sternen greifen“). Diese  jungen Leute leiten gleichzeitig zu ihren Theaterprojekten die Bibliotheken in den ländlichen Regionen, die vom CDMM aufgebaut wurden.


Wo führt ihr eure Stücke auf?


Generell sind wir im Kollektiv „Nuestra Cara“ der Ansicht, dass die Straßen viel zu sehr von der Männerwelt beherrscht werden, sie bieten nur den Männern Raum für Unterhaltung und Zeitvertreib. Das sehen wir als politischen Aufhänger, den öffentlichen Raum für uns Frauen zu erobern, die Plätze, die Straßen. Deshalb machen wir u. a. Straßentheater. Da gab es zum Beispiel Kampagnen wie die zum 25. November, dem „Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen“, und im Mai Solidaritätsveranstaltungen für Menschen, die mit HIV/Aids leben. Wir führen unsere Stücke an verschiedensten Orten vor, aber eigentlich sind sie dafür konzipiert, auch unsere sonstige Arbeit als CDMM unterstützend zu begleiten. Also suchen wir die neunzehn Geburtshelferinnen in den verschiedenen Regionen auf, mit denen das Kollektiv zusammenarbeitet und die insgesamt über 3.000 Personen betreuen. Dort führen wir unsere Stücke zu verschiedenen Themen auf. Wir wollen Raum für Diskussion, Reflexion und Lösungsansätze bieten.
Auf nationaler Ebene treten wir in Universitäten und Märkten auf, auch in Parks oder Theatersälen. Im öffentlichen Theater allerdings eher selten, die sind tendenziell nicht so aufgeschlossen gegenüber alternativen Theatergruppen. Wir sind ja auch eine kritische Gruppe, die zum Handeln auffordert, z. B. in unseren Kampagnen auf nationaler Ebene gegen sexuellen Missbrauch. Dann gibt es auch noch Räume, in denen wir uns mit anderen Frauengruppen koordinieren. Zum Beispiel gibt es die „Kampagne 28. September“4 für das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper. Da spielt das Theater eine wichtige Rolle. Letztes Jahr sind wir mit dieser Kampagne mehrmals durch verschiedene Städte und Gemeinden Nicaraguas getourt.
Seit November vergangenen Jahres läuft eine Kampagne der Bewegung gegen sexuellen Missbrauch (Movimiento contra el abuso sexual/MCAS). Daran sind 36 Organisationen aus ganz Nicaragua beteiligt. Wir beteiligen uns mit einem Theaterstück zum Thema an der Kampagne. Es soll zu Diskussionen und zum Nachdenken anregen, aber auch zum Handeln auffordern: Was können wir alle gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern tun?
Vor allem muss immer wieder angesprochen werden, dass sexueller Missbrauch von Mädchen und Jungen innerhalb der Familien geschieht, zumeist durch ein nahestehendes Familienmitglied. Wie gesagt haben wir im November 2011 mit der Kampagne angefangen und werden dieses ganze Jahr noch damit beschäftigt sein. Wir haben das Stück bereits über 50-mal aufgeführt.
Wenn wir jetzt nach Nicaragua zurückkehren, machen wir damit weiter, denn geplant sind 90 Vorführungen im Jahr – allein für diese Kampagne! Und dann gibt es noch weitere Kampagnen und Projekte in Zusammenarbeit mit anderen Gruppen in Nicaragua und international.
Zum Beispiel haben wir in El Salvador eine Kampagne der feministischen Organisation Concertación Feminista Prudencia Ayala unterstützt, die sich für sexuelle und reproduktive Rechte, vor allem für Schwangerschaftsprävention bei Jugendlichen, einsetzt. Es gab neun Vorstellungen an Schulen zum Thema Teenager-Schwangerschaften. Wir als Theatergruppe wurden engagiert, da wir die Kampagne durch eine völlig andere Herangehensweise bereichern, was gerade bei Jugendlichen, denen es häufig schwerfällt, über dieses Thema zu sprechen, das Eis bricht. Das war auch sehr interessant.
Die Situation ist in allen Ländern, die wir besucht haben, ähnlich, vor allem Mädchen aus armen Familien werden sehr früh schwanger.


Ihr habt mehrere Kampagnen für das Selbstbestimmungsrecht erwähnt. Vielleicht könntet ihr ein wenig mehr darüber berichten? Über die Lage in Nicaragua zum Beispiel?


Das Kollektiv hat sich von Anfang an mit sexuellen und reproduktiven Rechten beschäftigt und ist für das Recht eingetreten, frei entscheiden zu können, mit wem man seine Gefühle und seine Sexualität teilt. Zu jener Zeit war die medizinisch indizierte Abtreibung verfassungsrechtlich zulässig, ein Komitee entschied je nach Einzellfall; aber immerhin bestand noch die Möglichkeit zu einer positiven Entscheidung.
Andererseits war damals Homosexualität gesetzlich verboten. Wer Homosexualität „gut hieß“, unterstützte, verheimlichte oder praktizierte, hatte mit einer Gefängnisstrafe zu rechnen. Also alle, ganz Nicaragua, hätte aus dem ein oder anderen Grund ins Gefängnis gemusst.
Das war während der ganzen Zeit des Aufschwungs der feministischen Bewegung und der Frauenbewegung so und es gab zwei Positionen: Die eine, zu der wir uns zählen, vertritt die Meinung, dass Selbstbestimmung über den eigenen Körper ein Recht ist und dass der Staat verpflichtet ist, dieses Recht zu gewähren, ohne unser Leben zu gefährden. Die andere Position konzentriert sich eher auf das Thema (medizinisch indizierte) Abtreibung an sich, weniger auf das Selbstbestimmungsrecht der Frau, was ja eigentlich jenseits aller Gesetze stehen sollte, da es zu den Menschenrechten gehört, deren Einhaltung von der Verfassung garantiert wird. Bei der UN-Weltbevölkerungskonferenz in Kairo 1994 haben wir als Frauenbewegung diese zwei verschiedenen Positionen vertreten: die einen wollten bei den Regierungen die komplette Entkriminalisierung der Abtreibung erreichen, die anderen eine Legalisierung unter Auflagen. Damals war die FSLN nicht an der Regierung5. Wir haben lange gehofft, dass sie eines Tages wieder in die Regierung kommen und Abtreibung entkriminalisieren – das heißt, das Selbstbestimmungsrecht anerkennen – würde.
Aber zu unserer Überraschung geschah etwas ganz anderes. Die Regierung paktierte mit der erzkonservativen katholischen Organisation OPUS DEI und verbot Abtreibung – ohne Ausnahmen. Aus der Sicht des Gesundheitswesens ist das nicht tragbar, nicht einmal aus der Sicht der konservativeren Ärzt_innen. Das ist, als ob man den Frauen die Todesstrafe auferlegen wollte.
Momentan sieht es nicht so aus, als ob sich dieses Gesetz wieder ändern würde, eher im Gegenteil, die Kirche mischt sich immer mehr in die Politik ein. Jetzt üben sie Druck auf die Regierungen aus, die „Pille danach” zu verbieten. Und sogar Verhütungsmittel sind verpönt, die Diözese von Matagalpa hat Apotheken angehalten, keine rezeptfreien Verhütungsmittel mehr zu verkaufen.


Auf welche Verhütungsmittel bezieht sich das?


 Auf alle Verhütungsmittel. Auch Kondome!
Die Regierung ist da auch widersprüchlich in ihrer Politik, denn in der Frauengesundheitspolitik ist die Ausgabe von Verhütungsmitteln vorgesehen. Und es gibt ein Regierungsprogramm für HIV-Positive, im Rahmen dessen Kondome ausgegeben werden, um die Ansteckungsgefahr beim Geschlechtsverkehr zu vermindern. Wir haben den Eindruck, dass sich nicht nur Nicaragua, sondern in Mittelamerika allgemein, ja in ganz Lateinamerika ein solcher ideologischer Rückschritt beobachten lässt. Aber auch in Europa sind konservative Ideologien im Aufschwung. Und wie immer – da wir in einem patriarchalischen System leben – hat dieser Rückschritt die krassesten Auswirkungen auf das Frauenbild. Die Frau soll wieder die traditionelle Hausfrauenrolle einnehmen, gehorsam sein und so viele Kinder haben, wie Gott ihr schenkt. Das heißt im Klartext, alle Rechte, die wir Frauen uns erkämpft haben, wieder aufzuheben und dabei nicht einmal auf Widerstand zu stoßen, denn selbst linksgerichtete politische Parteien oder Bewegungen sind patriarchalisch strukturiert. Das Frauenthema ist der schwächste Punkt der Regierung, bei dem immer als erstes zurückgefahren wird.


Ihr habt das Verbot von Homosexualität erwähnt. Wurde das inzwischen aufgehoben?


Ja, das war sozusagen ein Tauschgeschäft: Abtreibung verbieten und Homosexualität entkriminalisieren. Die Regierung hat plötzlich einen auf modern gemacht und das „Verbot homosexueller Praktiken“ (ley de sodomía) aus der Strafprozessordnung gestrichen, aber gleichzeitig auch das Recht auf (medizinisch indizierte) Abtreibung abgeschafft.


Zum gleichen Zeitpunkt?


Ja, das war der Deal. Das hat uns, also die Bevölkerung allgemein und vor allem uns Frauen, auch ziemlich überrascht, weil man ja denken sollte, dass zu dem Recht, selbstbestimmt und vorurteilsfrei über seine sexuelle Orientierung und seine Geschlechtsidentität zu entscheiden, auch die freie Entscheidung darüber gehört, mit wem man zusammen sein möchte. Und die Entscheidung darüber, ob man ein Kind gebären will oder nicht. Wir als Frauenbewegung haben in Nicaragua immer für das Grundsätzliche dieser Frage gekämpft.


Vielen Dank für das Gespräch.


Interview: Eva Bahl      Übersetzung: Julia Eggers

1 Als Revolution wird ein Abschnitt der nicaraguanischen Geschichte bezeichnet, in dem die Diktatur des Somoza-Clans überwunden wurde. Die Kampfhandlungen fanden in den Jahren 1978 und 1979 statt. Oft wird mit der Revolution jedoch der darauf folgende Zeitraum der gesellschaftlichen Umwälzung bezeichnet.

2 Die Partei FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional) ist aus der gleichnamigen Guerillaorganisation hervorgegangen., die am 19. Juli 1979 die seit 43 Jahren bestehende Diktatur des Präsidenten Anastasio Somoza stürzte und daraufhin Nicaragua bis 1990 regierte. Mit Daniel Ortega stellt sie seit Januar 2007 wieder den Staatspräsidenten Nicaraguas.

3 Als „sexuelle und reproduktive Rechte“ werden die Rechte bezeichnet, die mit der Selbstbestimmung über den eigenen Körper, die eigene Sexualität und der Familienplanung zu tun haben.

4 28. September = Tag für die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbruch

5 Die FSLN stellte von 1979 - 1990 und jetzt seit 2006 die Regierung in Nicaragua.