Frankreichs Uli Hoeneß?

Die Affäre Cahuzac als Normalfall. Prinzipielles zu Korruption und parlamentarischer Politik. Ein Bericht aus Frankreich

Im April 2013 wurde bekannt, dass Uli Hoeneß, Wurstfabrikant und Präsident des FC Bayern, nach Angaben von spiegel-online jahrelang umgerechnet bis zu 500 Millionen Euro auf einem Konto in der Schweiz vor dem deutschen Fiskus versteckt hat. Steuerhinterziehung im großen Stil ist bei den kapitalistischen Eliten ein angesagter Sport. Das zeigt auch ein Blick nach Frankreich. (GWR-Red.)

 

Jérôme Cahuzac war ein knappes Jahr Finanzminister der Regierung Hollande in Frankreich und in dieser Funktion zuständig für die Verfolgung von Steu­erhinterzieherInnen, die ihr Vermögen im Ausland geparkt hatten, ohne es steuerlich zu deklarieren.

Am 6. Dezember 2012, einige Monate vor den nun auftauchenden Veröffentlichungen der sogenannten „Offshore-Leaks“, warf ihm die investiga­tive Nachrichtenwebsite „Me­diapart“ anhand der Aufnahme eines kompromittierenden Telefonats mit seiner eigenen Stimme vor, selbst Konten im Ausland, nämlich bei der UBS-Bank und bei Reyl & Co. in der Schweiz besessen zu haben, die er dann im Jahre 2009 nach Sin­gapur transferiert habe.

 

Der Ver­folger von Steuerhinterziehungen – selbst ein Steuerhinterzieher

Das konnte die eh schon durch die schlechte Wirtschaftslage angeschlagene Regierung der Sozialistischen Partei (PS; Parti socialiste) unter Hollande nun gar nicht gebrauchen.

Cahuzac stritt monatelang offensiv und in aller Öffentlichkeit alles ab: Nie habe er je ein Konto in einer Steueroase besessen, die Stimme bei der Aufnahme sei gar nicht von ihm.

Er versicherte das auch unter vier Augen seinem Arbeitgeber Hollande und strengte sogar einen Gerichtsprozess gegen Mediapart an.

Die ParlamentarierInnen seiner Partei glaubten ihm und verteidigten seine Aussage in Parla­mentsdebatten und Interviews. Nun, Anfang April 2013 und über eine knapp gehaltene In­ternet-Erklärung, plötzlich die Kehrtwende: Cahuzac gibt das zu, was er lange abgestritten hat. Er habe sich zu diesem Geständnis entschlossen, weil er sich in eine „Spirale von Lügen“ verrannt habe, sei am Boden zerstört und entschuldige sich bei allen FreundInnen, Verwandten und politischen Kolle­gInnen. Die Affäre Cahu­zac hat begonnen, denn der Finanzmi­nister war ein enger persönlicher Vertrauter Hollandes.

 

Verbindungen der Sozialistischen Partei zum Front National

Nachdem Cahuzac sein Vermögen als Mediziner, Klinikchef und Labormediziner für die Pharmaindustrie gemacht hatte – u.a. war er Berater für den Pharmakonzern Pfizer – stieg er Ende der Siebzigerjahre bei der Sozialistischen Partei ein und machte Schritt für Schritt Karriere, in dem er sich als Mitarbeiter ambitionierter Parteikarrie­risten (den sogenannten „Elefanten“ in der Partei) einen Namen machte (wie es in der Politik überhaupt darum geht, sich „einen Namen“ zu machen!).

Ein Scheitern wird auf dem Weg von Parteikarrieristen, wie im Management überhaupt, nur als „Chance“ aufgearbeitet: Bei Lionel Jospin arbeitete er in der katastrophal endenden Wahlkampagne 2002 mit (Jospin wurde vom neonazistischen Le Pen geschlagen). 2011 stieg er beim Wahlkampfteam von Domi­nique Strauss-Kahn ein, dessen Macho-Affären gleich darauf begannen. Und beim Wahl­kampfteam Hollande hatte er dann endlich auf das richtige Pferd gesetzt. Kurios nur, dass er sich bei Steueraffären der rechten Vorläuferregierung, et­wa der Wahlkampffinanzierung Nicolas Sarkozys mittels dessen Finanzministers Eric Woerth und des Kosmetikmul­tis L’Oréal in Form der alternden Firmenerbin Liliane Bettencourt – der reichsten Frau der Welt – auffallend mit Verurteilungen zurückhielt.

Überhaupt hatte Cahuzac viele Freunde bei der rechten Regierungspartei Sarkozys (UMP) und bei der PS galt er sowieso seit langem als am rechten Rand stehend – quasi ein „Kanalar­beiter“, wie man sie bei der SPD nennt. Und nicht nur das.

Eine reine „Familienangelegen­heit“ nennt Cahuzac seine Verbindungen zum neonazisti­schen Lager des Front National: Sein Cousin ist Jean-Pierre Emyié, ein Ex-Mitglied der Groupe Union Défense (Gruppe für vereinigte Verteidigung; GUD), einem neonazistischen Haufen, der mit Vorliebe provokative Kampagnen gegen die französische Linke lancierte.

Z.B. hielt die Gruppe Frauen aus linksradikalen Gruppen kurzzeitig gefangen, um ihnen ein Tat­too mit Hakenkreuz auf die Brust zu brennen. Emyié unterhält heute eine gemeinsame An­waltskanzlei mit Philippe Pénin­que, ebenfalls Ex-GUD-Mitglied.

Komischerweise ist nun diese Anwaltskanzlei darin spezialisiert, Firmenkonsortien in Steu­eroasen aufzubauen. Und als solcher Spezialist hat Herr Pé­ninque 1992 ein Schweizer Konto auf den Namen Jérôme Ca­huzac eröffnet, „ohne Honorar zu erhalten“, wie Péninque erklärte – ein Freundschaftsdienst also. Mediapart hatte dann veröffentlicht, dass Pénin­que schon in eine alte Steueraffäre um den französischen Öl-Multi Elf verwickelt war und dort dem Verwalter von „schwarzen Kassen“, Alfred Sirven, einen gefälschten Pass für dessen Flucht verschafft hatte.

Interessant in dem Zusammenhang ist, dass Cahuzac 2009 seine Schweizer Guthaben von Reyl & Co. nach Asien (Sin­gapur natürlich, eine weitere Steueroase) transferierte, dafür aber ein offizielles Zertifikat vor­legen musste, wonach das Guthaben in Frankreich versteuert sei. Dieses Zertifikat, das Cahu­zac vorlegte und den Transfer erst ermöglichte, ist nach Recherchen der Schweizer Zeitung Tagesanzeiger eine Fälschung gewesen.

Doch es gibt noch eine weitere, „schöne“ Familiengeschich­te: Marine Le Pen, die heutige Chefin des Front National, war nämlich eine Jugendfreundin der Anwälte Eymié & Péninque und hält zu ihnen bis heute sehr persönliche Kontakte aufrecht. Sie, die seit Monaten publizistisch ins Horn des „tout pourri“ (etwa: alle etablierten Parteien sind beschmutzt – nur der Front National nicht) blies, musste nun kleinlaut erklären, dass zu­nächst einmal die Eröffnung eines Bankkontos im Ausland als solches noch kein Verbrechen sei... (1)

 

ParlamentarierInnen, die vor Panik im Dreieck rasen

Als sei das alles noch nicht ge­nug für die Regierung Hollan­de, warf Le Monde bei seiner ersten Veröffentlichung zu den Steueroasen aus dem Material von „Offshore-Leaks“ gleich ein weiteres ungünstiges Licht auf den Schatzmeister von Hollandes Präsidentschaftswahlkampagne, Jean-Jacques Au­gier, der 2005 und 2009 von einem Firmenkonsortium in China (!) aus zwei Offshore-Konten auf den Caiman-Inseln eröffnet hat – ohne Hollande natürlich bei dessen Präsident­schaftswahlkampagne 2012, in der ein von Steuerskandalen befreites Frankreich versprochen wurde, davon zu erzählen.

Das sei alles legal und tauche in den Bilanzen des Firmenkon­sortiums auf, so Augier dazu. Aber auch die Schlinge um Hol­lande wird immer enger.

Cahuzac und Augier waren en­ge Vertraute. Entweder musste er also doch von deren Steueroasen gewusst haben; und selbst wenn er nicht davon wusste: Welche Art „Vertraute“ hat er denn dann ausgewählt? Will heißen: Er bekommt im Me­diendiskurs den fatalen Ruf des Dilettanten. (2)

Schließlich kam in der ersten Aprilwoche zu all diesen bisher nachgewiesenen Fakten eine Gerüchteküche hinzu, die zu re­gelrechter Panik auf den Hintertreppen und Gängen des französischen Parlaments führte: Der Schweizer Fernsehsender TSR (Télévision Suisse romande) veröffentlichte die Meldung, Cahuzac hätte 2009 versucht, 15 Mio. Euro auf ein Schweizer Konto zu parken (bisher war immer von 600.000 Euro die Rede gewesen und nur diese Summe hatte Cahuzac auch öffentlich zugegeben).

Dann hatte Cahuzac plötzlich die Absicht geäußert, sein Mandat als Abgeordneter wie­der einzunehmen – welchem Ansinnen die ParlamentarierIn­nen seiner und anderer Parteien empört entgegentraten (diese Absicht wirft auch ein gutes Licht auf die durch Zynismus beeinträchtigte Wirklichkeitswahrnehmung und die Halbwertzeit der Schuldeingeständ­nisse à la Cahuzac).

Dann gab es das von Libéra­tion in die Welt gesetzte Gerücht, auch Außenminister Lau­rent Fabius hätte ein geheimes Offshore-Konto, was dieser so­fort dementierte.

Aber konnte man nun solchen Dementis noch trauen? Und Mediapart – das durch seine Standhaftigkeit in der Affäre Cahuzac einen enormen Presti­gegewinn verbuchen konnte – kündigte bereits weitere Enthüllungen über einen Politiker an, der Hollande nahe stehe. Kurz: Jede/r Abgeordnete misstraut nun jedem; alle haben Angst vor einer großen Regierungsumbildung, die ihnen ihren Posten kosten könnte.

Keiner glaubt irgendwelchen Beteuerungen mehr – und in einer absurden Flucht nach vorne will Hollande eine Kampagne der „Moralisierung“ von Politik mit harten Auflagen zur Transparenz der Einkünfte von Abgeordneten durchziehen und das Modell dann gleich bis vor die UN tragen und sich dort als Vorreiter sauberer Politik präsentieren. Letztes ist nun ein ganz besonderer Lacher!

 

Parlamentarische Politik und Korruption

Was ist nun aus anarchistischer Sicht von dieser Affäre zu halten? Zunächst die Einsicht, dass sie keine Affäre ist, sondern der Normalfall parlamentarischer Verhaltensweisen.

Der Begriff Affäre oder „Kor­ruptionsskandal“ will im medialen Diskurs immer wieder die Tatsache, dass Korruption zum täglichen Geschäft von Parla­mentarierInnen gehört, einhegen und sie auf folgendes Verständnis zurückführen: Die Korruption ist der Ausnahmefall, der Skandal einer ansons­ten in der Regel ethisch-moralisch reinen parlamentarischen Demokratie – und diese Demokratie ist das wohl mit einzelnen Fehlern behaftete, aber doch bestmögliche Gesell­schaftssystem.

Genau das ist aus anarchistischer Sicht die Illusion, die bloßgestellt werden müsste und angesichts der Affäre Ca­huzac auch bloßgestellt werden kann. Korruption, Selbstberei­cherung der Abgeordneten (bessere Bezeichnung als Steuerhinterziehung); nimmersatte Abgeordnete, denen selbst die bereits satten Bezüge nicht mehr ausreichen (jüngst auch mal wieder im Bundestag), und die kleinkariert in die eigene Ta­sche wirtschaften – das ist ein Grundzug der parlamentarischen Demokratie, ist ihr inhärent, und zwar überall, weltweit. In der BRD müssen dazu nur der Flick-Skandal, Kohls Schweigegelübde zu seinen Wahlkampfspendern oder die Tatsache, dass Finanzminister Schäuble ein bereits überführter Mittäter illegaler Parteienfinanzierung ist, in Erinnerung gerufen werden.

Zu ihrer Verteidigung ziehen die Abgeordneten gerne Vergleiche mit der kapitalistischen Wirtschaft, mit Managern und Firmenchefs: Verglichen damit seien schon die Diäten viel zu gering und SPD-Kanzlerkandidat Steinbrück deutete ja be­reits öffentlich das Regierungsprogramm einer Erhöhung von Kanzlerbezügen an – die Wäh­lerInnen sollen im Herbst also die Selbstbereicherung gleich per Stimmzettel absegnen. Und das direkt nach dem Skandal um seine Vortragshonorare: Es sei darauf hingewiesen, welch eklatante Realitätsverkennung auch bei Steinbrück vorliegt.

Kennzeichnend für dieses System ist, dass in den Vorzimmern und Abgeordnetenbüros des Europäischen Parlaments sowie der nationalen Parlamente die LobbyvertreterInnen aller kapitalistischen Großbetriebe Schlange stehen und ihren Günstlingen Beteiligungen, Be­raterposten nach der Abgeord­netenkarriere oder geheime Provisionen einräumen, wenn sie in ihrem Sinne Reden schwingen oder abstimmen.

Noch die unpopulärsten Entscheidungen – jüngst z.B. die Privatisierung der öffentlichen Wasserversorgung im Europäischen Parlament – werden von den LobbyistInnen des Kapitals ihren Abgeordneten aufgeschwatzt, weil gegnerische Bürgerinitiativen gar nicht die Mittel zu solcher Lobbyarbeit auftreiben können.

Aus anarchistischer Sicht kann es also nie darum gehen, die Abgeordneten mit Managern oder Bankern finanziell gleichzustellen – denn der Kapitalismus und damit auch die Berufe Manager, Direktor oder Firmenchef sollen in der libertären Utopie ja abgeschafft werden –, sondern es kann nur die Forderung geben, Einkünfte und Abgeordnetengehälter während der Dauer des Delegiertensta­tus auf Null oder ein Mindestmaß an Kostenvergütung zu senken. Dadurch würde über­haupt erst eine öffentliche Diskussion über andere gesellschaftliche Organisationsmo­delle aufgeworfen: das imperative Mandat für Delegierte, die an die Entscheidungen der untersten Ebene gebunden bleiben; ein Verständnis von Selbstachtung, das von der un­tersten Ebene ausgesprochene Vertrauen auch ehrlich zu erfüllen, inhaltlich dem imperativen Mandat gegenüber standhaft zu bleiben – und sich nicht durch Vergünstigungen welcher Art auch immer davon abbringen zu lassen. Kurz: Eine Verhaltensethik und ein Ethos zu entwickeln, das unabhängig von Einkunft, Status und Kar­rieredenken sein und durch die permanente Rückruf- und Abwählbarkeit des Delegierten bei Zuwiderhandeln gesichert werden muss.

Die parlamentarische Demokratie mit ihrer Repräsentation lässt solche Regeln des imperativen Mandats aufgrund eines institutionalisierten zeitlichen und räumlichen Abstands des Abgeordneten zur Basisversammlung nicht zu.

Genau daran sind früher Modelle der Grünen in den ersten Parlamentsjahren wie imperatives Mandat, Rotation, Überwindung der medialen Schaffung von Politikerstars, Zurverfügungstellung von Abgeord­netengehältern für emanzipatorische Initiativen oder soziale Bewegungen gescheitert.

Es waren Prinzipien eines anderen Gesellschafts- und Ent­scheidungsmodells, die im Parlamentarismus notwendig scheitern mussten.

 

„Wir sind der Staat“?

Besonders bei linken Parteien lässt sich im Verlauf der parlamentarischen Etablierung immer wieder derselbe Prozess eines Umschlags feststellen, ob das nun vor über hundert Jahren bei der SPD bis hin zur Beteiligung an Kaisers Erstem Weltkrieg, bei den Grünen bis hin zur Bombardierung Belgrads oder bei der Partei „Die Linke“ bis hin zur Bankrottverwaltung Berlins so war: Am Anfang des Prozesses gab es ein idealistisches Engagement der Partei­envertreterInnen für die Inhalte und die Anprangerung von Problemen, aufgeworfen meist von sozialen Initiativen und Be­wegungen.

In dieser Zeit wurde vor lauter inhaltlicher Seriosität und ehrenamtlicher Begeisterung nach materieller Vergütung für politisches Engagement nicht gefragt, im Prinzip wie in jeder Ba­sisgruppe oder Bürgerinitiative auch. Durch die institutionalisierte Abwendung vom Kontakt zur Basis, durch das Eintauchen ins Milieu und in die Welt der parlamentarischen Lobbypolitik kam es zu einer Verhaltensumkehr, zum Umschlag vom idealistischen zum professionellen Politikertypus.

Das Verhalten und die Werte der kapitalistischen Wirtschaft wurden auf die Abgeordneten übertragen – oft ein schleichender, halbbewusster Prozess.

Und die so konditionierten Abgeordneten werden mit fortlaufender Zeit zynisch gegenüber den sozialen Initiativen und Be­wegungen, sowie egozentrisch, insofern es nunmehr um das eigene Fortkommen geht und politische Inhalte verschwimmen.

In dieser Phase des Umschlags kommt es innerhalb der Parteien zu einer Phase des „Hauen und Stechens“, bei den Grünen etwa folgerichtig zum sogenannten „Strömungsstreit“ zwischen „Realos“ und „Fundamentalisten“ – bei einer Partei wie der „Linken“ strukturiert sich das stärker personenorien­tiert und eine Strömung würde sich heute schon gar nicht mehr selbst als „fundamentalistisch“ bezeichnen, doch das „Hauen und Stechen“ wird dort derzeit intensiv praktiziert und vergiftet jede innerparteiliche Atmosphäre. Letztlich unterliegt im­mer die radikalere gegenüber der für „Realpolitik“ stehenden Strömung.

Weil diese Erfahrung so banal ist, sollte die radikalere Strömung übrigens nie dafür entschuldigt werden, so lange mitgemacht und als attraktives Fei­genblatt für WählerInnen gedient zu haben, bis man aussortiert wurde und sich nun aber ganz besonders gemein behandelt fühlte (typisch dafür ist Jutta Ditfurth, die ihre Kaltstel­lung bei den Grünen immer noch nicht verkraftet hat und nur noch Wut schnaubt) – denn das hat sich in der Geschichte seit der SPD, seit Bernstein, Kautsky, Liebknecht usw. immer wiederholt und das sollte vorhersehen können, wer sich ausführlicher mit den Mechanismen des Parlamentarismus auseinandersetzt.

In dieser Phase der Etablierung, des institutionalisierten Ab­schneidens von der Basis, des „Hauen und Stechens“ bis hin zur Aussortierung von sogenannten „radikalen Flügeln“ wandeln sich die Verhaltensweisen und ethischen Prioritäten der PolitikerInnen endgültig. Vom selbstlosen und kostenlosen Enthusiasmus der Ba­siszeit bleiben am Ende des „Hauens und Stechens“ nur noch Zynismus, grenzenlose Egozentrik und ein Bewusst­seinshorizont übrig, neben der Selbstbereicherung nahezu keine anderen politischen Ideale mehr zu kennen. (3)

Deshalb kommt es am Ende zu solch ekelhaften, auf den ersten Blick kaum erklärbaren Mechanismen wie der Mitarbeit von neonazisti­schen Anwälten und Personen bei der institutionalisierten Sozialdemokratie, ob es sich dabei nun wie in Deutschland um einen Sarrazin handelt, den auszuschließen sich die Sozialdemokratie nicht mehr traut (quasi eine inhaltliche Kapitulation, die nur durch die oben beschriebenen Umschlagsmecha­nismen erklärt werden kann), oder um die Verbindungen von Cahuzac mit dem Front National in Frankreich. Zum Glück – und darin liegt die Hoffnung, dass die parlamentarischen Skandale vielleicht doch der Aufklärung und damit libertären Zielen und nicht dem internationalen Neofaschismus dienen könnten – zeigt sich bei den jüngsten Finanz- und Steuer­hinterzieh­ungsskandalen im­mer wieder, dass auch neofaschistische Parteien verstrickt sind und de­ren Phrase von der eigenen Nicht-Korrumpierbar­keit nicht nur wie jetzt bei den millionenschweren Le Pens, sondern vorher schon in Österreich bei der Affäre Jörg Haider ans Tageslicht gezogen wurden.

Aber ob das ausreicht, um das berechtigte Gefühl der Bür­gerInnen, nach Strich und Faden betrogen zu werden, auf anarchistisches und nicht neo­nazistisches Fahrwasser zu lenken, muss aufgrund der medialen Schwäche und des geringen Verbreitungsgrades anarchistischer Gesellschaftsvisio­nen leider bezweifelt werden.

Schließlich: Aus anarchistischer Sicht kann es bei diesen Skandalen auch nie darum gehen, einen Steuerstaat, der angeblich den BürgerInnen gehört, gegen böse Formen der Bereicherung von Einzelperso­nen zu verteidigen. „Wir sind der Staat.“

Steuern müssten nicht gesenkt oder hinterzogen, „sondern bezahlt werden“ – dieser Satz des geschätzten Kabarettisten Volker Pispers ist so ziemlich der dümmste, den das deutsche Kabarett je hervorgebracht hat. Es geht nicht um die Rettung eines wie auch immer „gerechten“ oder „sauberen“ Steuerstaates, der angeblich den Steu­erzahlerInnen, d.h. den Bür­gerInnen gehört. Er gehört den BürgerInnen eben nicht! Und er macht auch nicht, was die BürgerInnen wollen!

Im Gegenteil: Die aufgezeigten zynischen Verhaltensweisen bei der Etablierung von parlamentarischen Parteien sind ge­nau diejenigen Verhaltensweisen, auf denen der Staat basiert und die er noch in der staatlichen Verwaltung bei Karrieren und Postengeschiebe kultiviert. Auf Konkurrenzdenken und rücksichtsloser individueller Interessendurchsetzung basierend wie die kapitalistische Firma ist der Staat heute mit ihr wesensgleich.

Das anarchistische Ethos ist ein ganz anderes und grenzt sich sowohl von den in kapitalistischen Firmen wie in demokratischen Parlamenten ausgebildeten Verhaltensweisen radikal ab. Nicht im Sinne von: Auch der Anarchismus ist ethisch.

Sondern: Nur der Anarchismus kann überhaupt ethisch sein!

S. Tachelschwein

 

Anmerkungen:

(1): Infos zur Affäre Cahuzac vgl. mehrere Artikel in Libération, 8. April 2013, S. 2-8; sowie mehrere Artikel in Le Monde, 5. April 2013, S. 10-13.

(2): Infos zu Augier vgl. mehrere Artikel in Le Monde, 5. April 2013, S. 4-6.

(3): Vgl. zu dem gesamten Komplex der parlamentarischen Etablierung von Parteien das immer noch gültige und inhaltlich unübertroffene Sonderheft der Graswurzelrevolution: „Wer wählt, hat die eigene Stimme bereits abgegeben“, GWR Nr. 146-148, 2. Aufl., 1994, zu bestellen über GWR-Vertrieb: abo@graswurzel.net

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 379, Mai 2013, www.graswurzel.net