Die konservative Tendenz der Naturrechtslehre

Am Beispiel der Mauerschützenentscheidungen

Der in den Mauerschützenentscheidungen betonte Vorrang von Naturrecht gegenüber positivem Recht gilt als Kulmination des Rechtsstaats. Doch die Naturrechtslehre ist philosophisch und rechtstheoretisch nicht haltbar. Ihre politische Funktion liegt nicht darin, Unrecht bestrafen zu können – zu diesem Ziel führen überzeugendere Wege – sondern in der moralischen Rechtfertigung des geltenden Rechts.

In seiner ersten Mauerschützenentscheidung vom 3. November 1992[1] hatte der Bundesgerichtshof (BGH) über die Strafbarkeit zweier ehemaliger Mitglieder der DDR-Grenztruppen wegen tödlicher Schüsse auf einen Grenzflüchtling an der Berliner Mauer zu entscheiden. Er beurteilte die Tat trotz eines nach dem Recht der DDR bestehenden Rechtfertigungsgrundes wegen Verstoßes gegen übergeordnete Rechtsgrundsätze und extremer Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips als bereits zur Tatzeit rechtswidrig. In folgenden Entscheidungen wurde diese Rechtsprechung ausgebaut und aufrechterhalten. Das Bundesverfassungsgericht hat sie schließlich mit Beschluss vom 24. Oktober 1996 gebilligt.[2] Insgesamt kam es bis zum Jahr 2004 zu einer Vielzahl von Strafverfahren gegen Mitglieder der DDR-Grenztruppen und ihre Vorgesetzten, von denen eine große Zahl in Schuldsprüchen endete.

Das Naturrechtsargument des Bundesgerichtshofs

Die Entscheidungen knüpfen an die Naturrechtsrenaissance der Nachkriegszeit an,[3] die dem positiven Recht vorgehende Prinzipien postulierte, denen insbesondere die elementaren Menschenrechte und Grundzüge der Rechtsstaatlichkeit angehören sollten. Diese Vorstellung war einerseits Motiv dafür, solche Prinzipien beispielsweise im Grundgesetz[4] zu positivieren, also in die Form menschlich gesetzten Rechts zu bringen. Andererseits gewann die Auffassung an Einfluss, dass eine Norm des positiven Rechts, die gegen diese Grundsätze verstoße, kein Recht sein könne. Am prominentesten wurde sie von Gustav Radbruch in seiner „Radbruch’schen Formel“ auf den Punkt gebracht: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht’ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“[5] Die Auffassung, dass Recht einem inhaltlichen Minimalstandard genügen müsse,[6] ist bis in die Gegenwart nahezu konsensfähig.
Mit der Naturrechtsrenaissance einher ging die Verleumdung der analytischen Rechtslehre, welche auch als Rechtspositivismus bezeichnet wird. Obwohl deren Exponenten den Nationalsozialismus stets abgelehnt hatten, wurde ihrer Auffassung vom Recht nun eine Teilschuld an der Entstehung des nationalsozialistischen Regimes zugewiesen.[7] Dahinter steht die bezweifelbare, von H. L. A. Hart als naiv bezeichnete Auffassung, der fehlende Widerstand gegen Nationalsozialismus sei auf einen blinden Gehorsam des deutschen Volkes gegenüber dem positiven Recht zurückzuführen gewesen.[8]
Die integrative Kraft der Naturrechtslehre speist sich also auch aus einer Abgrenzung gegenüber dem Nationalsozialismus. In einer seiner Entscheidungen zu Taten in der früheren DDR erklärte der BGH explizit, Lehren aus den Versäumnissen bei der Bewältigung des NS-Unrechts zu ziehen.[9] Tatsächlich war es in der Bundesrepublik nur vereinzelt zu Verurteilungen wegen Rechtsbeugung bei der Verhängung von Todesurteilen in der Zeit des Nationalsozialismus gekommen,[10] obwohl die Radbruch’sche Formel schon in einer frühen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bekräftigt wurde.[11] Der soziale Kontext der „Reintegration“ ehemaliger Nationalsozialisten, gerade auch in der Justiz, prägte sich der Rechtspraxis auf. Eine vergleichbare Situation bestand zur Zeit der Mauerschützenentscheidungen nicht.

Als Bewältigungsstrategie im Umgang mit einer historischen Situation gehören die Mauerschützenentscheidungen der Vergangenheit an. Doch sowohl aus politischen als auch aus rechtstheoretischen Gründen darf diese historische Dimension der Entscheidungen nicht davon abhalten, ihre Begründung auf den Prüfstand zu stellen und zu hinterfragen, welches methodische Selbstverständnis juristischer Tätigkeit, welches Verständnis des Rechts sich in ihnen offenbart.

Die Strafbarkeit der Mauerschüsse

Der BGH stützt die Strafbarkeit der Mauerschüsse auf mehrere Säulen, deren bedeutsamste die Radbruch’sche Formel ist:[12]

Die vorsätzliche Tötung von Menschen war auch nach dem Strafrecht der DDR strafbar,[13] wie es nach Art. 315 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch Voraussetzung für die Strafbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland ist. Weiterhin bestimmte § 27 DDR-Grenzgesetz, dass die Anwendung der Schusswaffe zur Gewährleistung der „Unverletzlichkeit der Grenze“ gerechtfertigt war, sofern damit ein Verbrechen verhindert wurde. Die Rechtspraxis der DDR ordnete Republikflucht als Verbrechen ein. Der BGH erkennt deshalb an, dass die Mauerschüsse nach DDR-Recht gerechtfertigt waren.[14] Er bestreitet jedoch die „Beachtlichkeit“ des Rechtfertigungsgrundes – und damit wohl seine Geltung – „wegen Verletzung vorgeordneter, auch von der DDR zu beachtender allgemeiner Rechtsprinzipien und wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip“. Dazu zählt der BGH in Anknüpfung an seine frühe Rechtsprechung Verstöße gegen „Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit“, die die „allen Völkern gemeinsamen“ Rechtsüberzeugungen verletzen. Dabei stellt er, insbesondere in der dritten Mauerschützenentscheidung, explizit auf die Radbruch’sche Formel ab.[15]

Obwohl der BGH auch andere Argumente heranzieht, verwendet er den Naturrechtsbezug in Form der Radbruch’schen Formel als tragenden Grund dafür, das an sich maßgebliche positive Recht der DDR nicht anzuwenden. Aufgrund dieses Arguments kann er trotz positiven Rechtfertigungsgrundes die Strafbarkeit der Mauerschüsse bejahen.

Das Ideal absoluter Gerechtigkeit

Die Radbruch’sche Formel scheint inhaltlich Selbstverständliches auszudrücken, und doch steht sie auf tönernen Füßen. Dass kein Mensch einen anderen ohne Not töten soll, lässt sich moralisch leicht sagen – bei genauerer Betrachtung verbergen sich dahinter durchaus auch auf moralischer Ebene komplexe Probleme. Auf der Ebene des Rechts ist diese Aussage aber keine Selbstverständlichkeit. Das Recht, jenes Normensystem, das mit einem im Wesentlichen wirksamen Allgemeinverbindlichkeitsanspruch auftritt, ist das Produkt mensc licher Gedanken, und diese können moralisch oder amoralisch sein, so wie die Moral selbst sich von Mensch zu Mensch, von Zeit zu Zeit, von Kultur zu Kultur unterscheidet. Absolute, objektive Gerechtigkeit, so zeigt es Hans Kelsen, der Hauptexponent des analytischen Rechtspositivismus europäischer Prägung, ist ein irrationales Ideal.[16] Eine Letztbegründung gibt es nicht. Absolute Gerechtigkeitsideale sind geprägt von der kulturellen und ideologischen Herkunft ihrer Urheberinnen und Urheber.[17] Für das Recht bedeutet das, dass es an einem moralischen Maßstab gemessen gut oder schlecht sein kann, aber dass der moralische Maßstab nicht objektiv feststellbar ist.

So klar die Begründung ist, so gering ist die Bereitschaft, sie zu akzeptieren. Ein Grund dafür liegt darin, dass es eine unangenehme Erkenntnis ist, dass die Grundsätze, die man selbst für elementar, für nicht verhandelbar hält, einer rationalen Begründbarkeit unzugänglich sind.[18] Besonders deutlich und schmerzlich führt im Sinne Theodor Adornos der Nationalsozialismus das Scheitern des aufklärerischen Programms, moralische Maßstäbe rational zu begründen, vor Augen: „[D]ie vollends aufgeklärte Erde erstrahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“[19] Gerade die Kulmination des aufklärerischen Rationalitätsprogramms hat die Relativität jeder menschlichen Normenordnung aufgezeigt, die konservative, das positive Recht rechtfertigende Naturrechtslehre widerlegt. Dass dieses Ergebnis nur um den Preis zu haben ist, dass auch die revolutionäre, gegen das positive Recht gerichtete Naturrechtslehre den Boden unter den Füßen verliert,[20] erschwert die Akzeptanz selbst unter kritischen Denkerinnen und Denkern.

Naturrechtslehre und Theorie der Normensysteme

Noch geringer ist die Bereitschaft der Rechtswissenschaft, den rechtstheoretischen Rahmen der Naturrechtslehre zu akzeptieren. Man mag sich mit einer relativ begründeten Moral arrangieren. Einer naturrechtlich begründeten Moral als rechtlichem Maßstab steht aber nicht nur das Letztbegründungsproblem entgegen, sondern auch die Theorie der Normensysteme. Sie schließt eine moralische Beurteilung von Rechtsnormen von außen nicht aus, aber bestreitet die Relevanz der Moral innerhalb der Rechtsordnung als Normensystem. Recht und Moral sind zu trennen,[21] und zwar aus rechtstheoretischen Gründen.
Das Verhältnis von verschiedenen Normensystemen zueinander wird erkennbar an der Geltung und Nichtgeltung der Normen eines Normensystems A (beispielsweise des Rechts) in Abhängigkeit von Normen eines Normensystems B (beispielsweise der Moral). Die Geltung jeder Norm eines Normensystems B in einem Normensystem A beruht auf einer Norm des Systems A, welche die Geltung bestimmter oder aller Normen des Systems B im System A anordnet. Es handelt sich um eine Inbezugnahme der Normen des Normensystems B, also eine verkürzende Ausdrucksweise dafür, dass
die Sätze des Systems B in ein fiktives Textkorpus der Sätze des Systems A übernommen werden und ihm als Normen des Systems Aangehören. Als Normen des Systems A unterscheiden sie sich durch nichts von anderen Normen des Systems A. Ebenso beruht die Nichtgeltung einer Norm des Normensystems A, wenn sie auf eine Norm des Normensystems B zurückgeführt wird, auf einer Norm des Systems A, welche die Nichtgeltung einer Norm für den Fall eines Widerspruchs zum System B anordnet.[22] Die Normen des Systems B werden durch diese Anordnung zu höherrangigen
Normen des Systems A. Das System B, etwa das Normensystem der Moral, kann hingegen nicht für sich genommen anordnen, dass eine Norm des Systems A, etwa des Rechts, ihre Geltung im System A als Norm des Systems A verlieren soll.[23] Das heißt: Keine Norm eines Normensystems ist als solche für eine Norm eines anderen Normensystems von Bedeutung. Wenn ein System A eine Norm eines anderen Systems B als übergeordnet anerkennt, so inkorporiert es sie. Wenn ein Normensystem eine Norm eines anderen Normensystems hingegen nicht in Bezug nimmt, insbesondere sie nicht als übergeordnet anerkennt, dann kann kein analytisches Argument und auch keine Berufung auf absolute moralische Grundsätze etwas daran ändern. Entweder ist eine Norm, analytisch betrachtet, positive Norm eines Systems, oder sie ist es nicht – ein Drittes gibt es nicht. Um positive Norm eines Systems zu sein, muss eine Norm nachweisbar der Gesamtheit der (geschriebenen oder ungeschriebenen) Sollenssätze des Systems angehören. Es kann allein durch Anwendung positiver Sätze eines Systems A ermittelt werden, ob Sätze des Systems B in ihm von Belang sein sollen. Fehlt eine Norm der Inbezugnahme oder fehlt eine Erzeugungsregel, die zur Setzung solcher Normen ermächtigt, dann steht die Behauptung, dass ein solcher Verweis dennoch existiere, im Widerspruch zum positiven Recht. Eine solche Behauptung will selbst Recht setzen, statt es zu beschreiben. Jeder Versuch, auch ohne einen normativen Verweis im System A den Einfluss eines Systems B über ein System A, das heißt die Existenz einer bestimmten Norm im System A, zu begründen, ist daher eine falsche Behauptung.

Offene Rückwirkung als Alternative

Mit diesen rechtstheoretischen Voraussetzungen ist die Radbruch’sche Formel nicht vereinbar.[24] Das Naturrecht wird dem positiven Recht von Rechtsanwenderinnen und Rechtsanwendern rechtsschöpferisch „übergestülpt“, wenn seine Geltung im zu beurteilenden Rechtssystem behauptet wird, obwohl das System selbst nicht auf Naturrecht verweist. Deutlich tritt auch der Zweck der Konstruktion hervor: Sie soll das strafrechtliche Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) umgehen. Die Entscheidung des BGH stellt sich trotz des Umgehungsversuchs
als Rückwirkung dar,[25] insofern die naturrechtliche Radbruch’sche Formel aus rechtstheoretischer Sicht bloße Fiktion ist. Dass Rückwirkung vorliegt, wird vom BGH selbst zwar nicht in dieser Eindeutigkeit hervorgehoben, da die Geltung des Naturrechts auch für die DDR unterstellt wird.
Das Bundesverfassungsgericht hingegen hat ausdrücklich eine gerechtfertigte Ausnahme vom Rückwirkungsverbot angenommen.[26] Es hat dazu auf das Gebot materieller Gerechtigkeit im Rahmen des Rechtsstaatsprinzips und ergänzend auf die internationalen Menschenrechte abgestellt. Auf diese verweist auch Art. 1 Abs. 2 GG. Damit hat das Gericht das Problem, ob das Rückwirkungsverbot durch die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG besonders stark geschützt ist, dadurch umgangen, dass es zur Rechtfertigung für eine Beschränkung des Rückwirkungsverbots seinerseits nur Normen anführt, die von der Ewigkeitsklausel geschützt sind. Für eine solche Rechtfertigung hätte es aber auch genügt, den Menschenwürdekern der Grundrechte heranzuziehen. Wird der Maßstab des Art. 79 Abs. 3 GG richtigerweise auf nach 1949 neu zu setzendes Verfassungsrecht beschränkt, kommt auch eine Rechtfertigung über das Recht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Betracht. Wenn die Berufung auf derart allgemeine Prinzipien als zu unsichere Grundlage erscheint, eine derart elementare Norm wie das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG partiell außer Kraft zu setzen, dann hätte unter dieser Maßgabe auch ein verfassungsänderndes Gesetz verabschiedet werden können.

Mit der Gesetzgebung ist bereits die Alternative zu den Mauerschützenentscheidungen angesprochen: Es ist die offene Rückwirkung, wie sie in der rechtswissenschaftlichen Literatur, wenn auch mit verhaltener Rezeption, vorgeschlagen worden ist, insbesondere in der Form eines rückwirkenden Gesetzes.[27] Die Zulässigkeit offener Rückwirkung ist generell oder für den vorliegenden Fall bestreitbar, steht aber im Einklang mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Mauerschützenprozesse durch das Bundesverfassungsgericht. Ob in der vorliegenden Konstellation auch einfache Gerichte unter Beachtung der Vorlagepflicht an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG zu rückwirkender Nichtanwendung einer Norm befugt sind oder ob stattdessen das Bundesverfassungsgericht selbst hätte die rückwirkende Nichtigkeit anordnen können, ist diskutabel, aber nicht entscheidend. Aus rechtspolitischer Sicht ist der richtige Ort für die offene Setzung rückwirkender Normen im System des Grundgesetzes das Parlament, dessen Verantwortung für eine so schwerwiegende politische Entscheidung durch direktere Legitimation abgesichert ist und dessen Entscheidungsprozess durch eine öffentliche Debatte begleitet werden kann.[28]

Die inhaltliche Beliebigkeit des Naturrechts

Wenn nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die offene Rückwirkung zulässig ist, die Umgehung mittels der Radbruch’schen Formel also nicht erforderlich wäre, dann stellt sich die Frage, warumder Weg offener Rückwirkung nicht gewählt wurde. Warum hat die Gesetzgebung auf die Naturrechtslehre und ihre Anwendung durch die Rechtsprechung vertraut, statt rückwirkend die Strafbarkeit der Mauerschüsse anzuordnen? Warum genießt die Naturrechtslehre, zumindest in ihrer minimierten Form, trotz der verhältnismäßig einfachen theoretischen Widerlegung ungebrochene Unterstützung? Der erste Teil der Antwort lautet: Der Inhalt des Naturrechts ist beliebig bestimmbar. Diese Problematik wurde als Reaktion auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus auch im Parlamentarischen Rat diskutiert. Es waren Theodor Heuss und Hermann von Mangoldt, die Vertreter von FDP und CDU im Grundsatzausschuss, die für das Naturrecht plädierten, und der SPD-Abgeordnete Carlo Schmid, der die stärksten Bedenken äußerte. So wies Schmid darauf hin, dass sich auch der Nationalsozialismus auf Naturrecht berufen habe, nämlich auf eine sozialdarwinistische Rechtsvorstellung.[29] Schmid betonte auch den historisch wandelbaren Inhalt des Naturrechts. Das Konzept „Naturrecht“, das ist die Pointe seines Arguments, kann auch schwerste Verbrechen rechtfertigen. Der Wandelbarkeit des Naturrechts kann zwar entgegnet werden, dass für die Gegenwart durchaus eine internationale Übereinkunft darüber existiert, welche Situationen als „extremes Unrecht“ zu charakterisieren sind. Doch diese Übereinkunft ist, wie die Rechtsprechung des BGH selbst zeigt, positiv-rechtlicher Art, nämlich in Gestalt der internationalen Menschenrechtsverträge. An Personen und Rechtsordnungen, die auch deren Mindeststandard ablehnen, fehlt es nicht. Immerhin erkennt auch der BGH an, dass der Grad des „Unrechts“
nicht trennscharf bestimmt werden kann. Für ihn sind die Mauerschüsse nicht mit den nationalsozialistischen Verbrechen vergleichbar, als Unrecht aber „extrem“ genug.[30] In der rechtswissenschaftlichen Literatur ist die Wertung als „extremes Unrecht“ anhand desselben Maßstabs, der „Radbruch’schen Formel“, vielfach abgelehnt worden. Der Maßstab für „extremes Unrecht“ ist unscharf und relativ.[31]

Die politische Ausrichtung der Naturrechtslehre

Ein weiteres Element der Antwort auf die aufgeworfenen Fragen findet sich bei Kelsen, der die Naturrechtslehre lebenslang bekämpft hat. Er attestiert ihr in der praktischen Anwendung einen überwiegend konservierenden Charakter, wenngleich sie, wie es auch Hart konstatiert, zur Apologetik ebenso wie zur Kritik des positiven Rechts eingesetzt werden kann.[32] Vordergründig wirkt der Vorwurf überraschend. Geradezu „destruktiv“, wenn auch mit einem moralisch legitimen Anliegen, wirkt sich die Anwendung der Naturrechtslehre auf den Rechtfertigungsgrund aus, der nach DDR-Recht die Strafbarkeit
der Mauerschüsse ausschloss. Doch nicht die DDR-Rechtsordnung ist für die BGH-Entscheidungen das maßgebliche Bezugssystem, sondern die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Naturrechtskonformität wird vorausgesetzt. „Extremes Unrecht“ kann in jeder Rechtsordnung nach deren eigenen Maßstäben definiert werden, und sofern der Rechtsanwender oder die Rechtsanwenderin die eigene Rechtsordnung im Grundsatz billigt, wird er oder sie ihr Übereinstimmung mit diesem Mindeststandard attestieren. Radbruch selbst musste nach dem Zweiten Weltkrieg seine berühmte Formel deshalb entwickeln, weil er zuvor eine moralische Pflicht insbesondere der Richterinnen und Richter zum Rechtsgehorsam angenommen hatte.[33]
Nur die Nichtgeltung des Rechts konnte seiner Vorstellung nach von dieser Pflicht entbinden. Die analytische Rechtstheorie bedarf solcher Annahmen nicht. Sie setzt keine inhärente moralische Qualität positiven Rechts und damit auch keine moralische Befolgungspflicht voraus. Folglich muss sie in ihren Rechtsbegriff keine Ausnahmen einfügen.
Gerade das Ausnahmeargument dient jedoch der Naturrechtslehre dazu, ihren Rechtfertigungscharakter zu stärken. Wenn für „Extremfälle“ die normative Bindung an das Recht aufgehoben ist, dann kann die moralische Bindung im Übrigen bekräftigt werden. Für diesen apologetischen Zweck der Naturrechtslehre kann ihr wandelbarer Inhalt nutzbar gemacht werden. Weil er theoretisch beliebig wählbar ist, kann er mit dem Zweck der Legitimierung oder Delegitimierung jeglicher positiver Normenordnung bestimmt werden.

Die Instrumentalität des Naturrechtsarguments

Trotz dieser Bedenken erfüllt die vermeintliche intersubjektive Gleichförmigkeit der Unrechts-Definition zu sehr den Zweck eines integrierenden, apologetischen Moments der jeweils geltenden Rechtsordnung, um in Rechtswissenschaft und -praxis ernsthaft in Frage gestellt zu werden. Die Brandmarkung des anderen Rechts als Nicht-Recht entlastet zugleich die eigene Rechtsordnung von politischer Kritik. Der Umkehrschluss aus der Radbruch’schen Formel lautet: Was nicht „extremes Unrecht“ ist, muss befolgt werden. Er beruht, wie Hart zeigt, auf der irrigen Annahme, dass mit der Geltung einer Norm auch über die moralische Befolgungspflicht entschieden sei.[34] An die Stelle der individuellen moralischen Entscheidung zum Ungehorsam gegen das Recht tritt eine nachträglich verordnete Pflicht zum Ungehorsam im Einzelfall und zum Gehorsam in allen übrigen Fällen. Damit ist nichts gewonnen: Wer würde eine Norm trotz Strafandrohung allein deshalb missachten, weil er darauf vertraut, dass die eigene Rechtsordnung untergehen wird und dass er oder sie zu einem späteren Zeitpunkt nach naturrechtlichen Gesichtspunkten rehabilitiert werden wird?[35]
Es ist jedoch viel verloren: Denn mit der Legalität des vermeintlich naturrechtlich begründeten, in Wahrheit durch die Rechtsprechung definierten Ungehorsams gegen „extremes Unrecht“ wird zugleich dem zivilen Ungehorsam im Übrigen die Legitimität abgesprochen. Ziviler Ungehorsam soll, und darauf zielt die konservative Naturrechtslehre ab, im politischen Bewusstsein der Allgemeinheit als illegitim gelten, wenn der Widerstand gegen „wirkliches“, nämlich innerhalb dieser Rechtsordnung als „extrem“ definiertes Unrecht, als legal bewertet wird. Was wie ein Instrument zur Bekämpfung von schwersten Verbrechen erscheint, taugt somit ebenso zur Delegitimierung einer aktiven Opposition. In diktatorischen Staaten kann Protest als staatszersetzend, in Demokratien als antidemokratisch, da gegen den Willen der Mehrheit gewandt, diffamiert werden. Das positive Recht wird sakrosankt, weil es seine vermeintlichen Grenzen im Naturrecht findet. Die Kritik daran zielt jedoch nicht auf eine moralische Rechtfertigung der Mauerschützen. Nach bestimmten, zutreffenden moralischen Vorstellungen sind die Mauerschüsse als verwerflich einzuordnen; ihre Strafbarkeit ist daher politisch wünschenswert. Der Weg zu dieser Strafbarkeit sollte aber nicht über die Naturrechtslehre führen, weil die Naturrechtslehre einer  wissenschaftlichen Begründung nicht standhält und politisch die Funktion erfüllt, das jeweils herrschende positive Recht zu rechtfertigen.
Die rückwirkende Gesetzgebung vermeidet die Bedenken, denen die gerichtliche Anwendung der Naturrechtslehre ausgesetzt ist. Sie kann das gegebenenfalls moralisch Wünschenswerte, die Strafbarkeit der Mauerschüsse, Realität werden lassen, und legt den rückwirkenden Charakter dieser Strafbarkeit offen dar. Sie vermeidet aber politisch motivierten Missbrauch der Radbruch’schen Formel. Sie verbessert die Legitimation rückwirkender Normsetzung und setzt sie schon im Entscheidungsprozess, nicht erst nach Abschluss des Prozesses wie im Fall einer Gerichtsentscheidung, der Diskussion einer kritischen Öffentlichkeit aus, die dadurch auf den Entscheidungsprozess Einfluss nehmen kann. Schließlich wäre rückwirkende Gesetzgebung eine Möglichkeit, die Naturrechtslehre mit ihrer unwissenschaftlichen, apologetischen Tendenz aus Rechtswissenschaft und Rechtspraxis
zu verdrängen, damit ein zugleich analytisch-deskriptiver und politisch kritischer Zugang zum gesamten Recht an ihre Stelle treten kann.

Martin Russell ist Doktorand der Rechtswissenschaft und promoviert im Bereich des Öffentlichen Rechts.

Weiterführende Literatur:
Knut Seidel, Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützen“-Prozesse, 1999.
Herbert Lionel Adolphus Hart, Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, in: Norbert Hoerster (Hrsg. und Übersetzung), H. L. A. Hart: Recht und Moral, 1971, 14.
Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, 1934.


[1] Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (BGHSt) 39, 1.
[2] BGHSt 39, 168 (183 ff.); BGHSt 41, 101 (106 ff.); BGHSt 42, 65 (70 f.); BGHSt 42, 356 (360 ff.); Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfGE) 95, 96 (131).
[3] Vgl. Arthur Kaufmann, Die Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht und vom übergesetzlichen Recht in der Diskussion um das im Namen der DDR begangene Unrecht, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1995, 81 (82).
[4] Deutscher Bundestag / Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat 1948 - 1949, 1993, Nr. 4, 44, Nr. 5, 64.
[5] Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Schweizerische Juristen-Zeitung 1956, 105 ff.
[6] Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 1992, 64 ff.
[7] Horst Dreier, Rezeption und Rolle der Reinen Rechtslehre, 2001, 29 f.; Hart 1971, 41.
[8] Hart 1971, 42.
[9] BGH NJW 1996, 857 (859).
[10] Vgl. BGH NJW 1996, 857 (859 f.).
[11] BVerfGE 3, 225 (233).
[12] BGHSt 41, 101 (105 ff., 109 ff.).
[13] BGHSt 39, 1 (31).
[14] BGHSt 39, 1 (9 f., 14).
[15] BGHSt 39, 1 (15 f.); BGHSt 41, 101 (106 ff.).
[16] Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, 2000, 49; Kelsen 1934, 16.
[17] Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, 2000, 41 f., 44, 47 f.
[18] Kelsen 1934, 15 f.
[19] Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragemente, 1944, 25.
[20] Kelsen 1934, 16.
[21] Hart 1971, 36 ff., 40 ff.
[22] Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, 1979, 29. III., 102.
[23] Ebenda, 102.
[24] Vgl. zur rechtspositivistischen Kritik Gustav Radbruchs stellvertretend Hart 1971, 40 f.
[25] Seidel 1999, 257, mit weiteren Nachweisen.
[26] BVerfGE 95, 96 (133).
[27] Für offene Rückwirkung durch Gesetz: Seidel 1999, 257 ff., 277.
[28] Seidel 1999, 261.
[29] Deutscher Bundestag / Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat 1948 - 1949, 1993, Nr. 5, 65.
[30] BGHSt 39, 1 (16); BGHSt 41, 101 (107, 109).
[31] Arthur Kaufmann, Die Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht und vom übergesetzlichen Recht in der Diskussion um das im Namen der DDR begangene Unrecht, NJW 1995, 81 (84).

[32] Kelsen 1934, 16; Hart 1971, 19.
[33] Seidel 1999, 269.
[34] Hart 1971, 42.
[35] Vgl. Hart 1971, 40 f. mit Verweis auf John Austin.