PERIPHERIE-Stichwort "Spielarten des Kapitalismus"

In den vergangenen zehn Jahren hat im Bereich der Vergleichenden Politischen Ökonomie der sogenannte „Spielarten des Kapitalismus“-Ansatz (Varieties of Capitalism, VoC) einen quasi kanonischen Status errungen. Die von Peter Hall und David Soskice (2001) entwickelte Gegenüberstellung von „Coordinated“ und „Liberal Market Economies“ (CMEs/LMEs) hat inzwischen eine Vielzahl akademischer Studien angeleitet und insbesondere nach der globalen Finanzkrise auch zunehmend Eingang in die öffentliche Diskussion gefunden. Im Kern ihres Modells identifizieren Hall und Soskice eine Reihe von institutionellen Komplementaritäten, die dazu führen, dass die spezifischen Institutionen innerhalb der jeweiligen Variante sich gegenseitig unterstützen. Insbesondere diese Behauptung unterscheidet den VoC-Ansatz von alternativen institutionalistischen Ansätzen der Vergleichenden Kapitalismusforschung (Jackson & Deeg 2006), die ansonsten viele Merkmale des VoC-Ansatzes teilen. Zu diesen gemeinsamen Merkmalen gehört die Beobachtung grundlegender institutioneller Unterschiede trotz fortschreitender Globalisierungsprozesse: jene, dass nicht nur liberaler angelsächsischer Kapitalismus erfolgreich sein kann, sondern auch organisierter Kapitalismus wie in Deutschland, sowie jene, dass jede dieser Kapitalismus-Formen ihre spezifischen kooperativen Vorteile hat. Alternative Ansätze der Vergleichenden Kapitalismusforschung mit Wurzeln im Institutionalismus und in der Regulationstheorie wurden allerdings weitgehend vom VoC-Ansatz verdrängt, insbesondere durch dessen starke Komplexitätsreduktion, analytische Rigorosität und die populäre Kombination einer institutionenökonomischen Mikrofundierung mit einem breiten Verständnis kapitalistischer Institutionen.

Mit der stark zunehmenden Prominenz des VoC-Ansatzes hat auch die Kritik an dieser Forschung zugenommen (vgl. Bruff u.a. 2013). Sie hebt hervor, dass sich das VoC-Forschungsprogramm traditionell nur mit einem kleinen Kreis kapitalistischer Ökonomien (USA, Westeuropa, Japan) beschäftigt. Diese einseitige Schwerpunktsetzung habe zur Herausbildung einer Schlagseite in Bezug auf die einbezogenen kapitalistischen Institutionen geführt. So beschäftige sich die VoC-Forschung nur mit dem formellen System industrieller Beziehungen, während sie die informelle Ökonomie, die in vielen Volkswirtschaften des Globalen Südens eine zentrale Rolle spielt, weitgehend ignoriere. Eine weitere Schwäche des VoC-Ansatzes sei sein ahistorischer Charakter, da er sich nicht mit der historischen Herausbildung kapitalistischer Institutionen, etwa mit deren Prägung durch die Integration in die kapitalistische Weltökonomie, beschäftige. Aus einer marxistischen Perspektive wird zudem kritisiert, dass der VoC-Ansatz zu sehr auf Fragen der ökonomischen Effizienz fixiert ist und dabei die Bedeutung von Macht‑ und Herrschaftsbeziehungen ähnlich wie auch Verteilungskonsequenzen vernachlässigt. Aus der Perspektive der Beschäftigung mit Ökonomien außerhalb der Triade (Westeuropa, Japan und USA) wird zudem kritisiert, dass der VoC-Ansatz die Rolle des Staates für kapitalistische Entwicklung genauso sehr vernachlässigt wie die Wirksamkeit transnationaler Einflüsse, etwa ausländischer Direktinvestitionen.

Vor dem Hintergrund dieser Kritik, die teilweise auch andere Strömungen der Vergleichenden Kapitalismusforschung berührt, wird nun einerseits vorgeschlagen, diese Forschungsrichtung zu beenden und sich stattdessen mit den Gemeinsamkeiten des Kapitalismus jenseits seiner nationalen Unterschiede zu beschäftigen (vgl. Bruff u.a. 2013, Teil 3). Ein anderer Diskussionsstrang empfiehlt, das VoC-Forschungsprogramm dahingehend zu modifizieren, dass es auch für die Analyse der historischen Herausbildung der globalen Vielfalt des Kapitalismus nutzbar ist. Ein Ansatz besteht hier darin, weitere grundlegende Typen des Kapitalismus zu entwickeln, die besser für eine Analyse außerhalb der Triade geeignet sind. Den bisher ausgereiftesten Versuch in dieser Richtung bietet das Modell der hierarchischen Marktökonomie, das von Ben Ross Schneider (2013) für die Analyse des Kapitalismus in Lateinamerika entwickelt wurde. Im Zentrum steht hier die Idee, Hierarchien als zentralen Koordinationsmechanismus einerseits innerhalb der einheimischen Konglomerate sowie multinationaler Unternehmen, andererseits im Bereich der Arbeitsbeziehungen zu betonen. Diese Hierarchien führen zu einer low-skill-Falle und begrenzen aus Schneiders Perspektive die wirtschaftliche Dynamik. Auch dieses Modell wird allerdings dahingehend kritisiert, dass es nationale Ökonomien tendenziell als in sich abgeschlossene Container ansieht und daher den fundamental prägenden Einfluss globaler Wertschöpfungsketten vernachlässigt (Ebenau 2012). Trotzdem hat es eine lebhafte Debatte über den Kapitalismus in Lateinamerika ausgelöst, die insbesondere von einheimischen (v.a. brasilianischen, argentinischen und mexikanischen) AutorInnen getragen wird (Boschi & Santana 2012). Osteuropa und die ehemaligen Mitgliedsstaaten der Sowjetunion stellen einen weiteren „Wachstumsmarkt“ der Vergleichenden Kapitalismusforschung dar, wobei hier allerdings eher die große Vielfalt der sich herausbildenden Kapitalismusmodelle betont wird (Drahokoupil & Myant 2010; Bohle & Greskovits 2012).

Neuerdings werden auch die großen Schwellenländer wie Brasilien, Indien oder China aus der Perspektive der Vergleichenden Kapitalismusforschung betrachtet. Angesichts der Komplexität dieser Länder wird hier allerdings vermieden, eine gesamte Volkswirtschaft einem eng umrissenen Modell zuzuordnen. Um trotzdem nicht darauf zu verzichten, die institutionellen Besonderheiten dieser politischen Ökonomien herauszuarbeiten, werden aktuell drei verschiedene Forschungsstrategien verfolgt: So verzichtet beispielsweise ten Brink (2013) in seiner Studie zum Kapitalismus in China darauf, die Komplexität des Phänomens in ein einfaches Modell zu pressen, und zielt vielmehr auf eine holistische Analyse ab. Eine zweite Strategie verfolgt der von Uwe Becker (i.E.) geleitete Forschungsverbund. Er entwickelt abstrakte Idealtypen des Kapitalismus in Schwellenländern und bildet die realen Ökonomien (einschließlich der Türkei und Südafrikas) und ihre historische Entwicklung in diesem Koordinatensystem ab. Bei einer dritten Strategie beschränkt sich die Forschung auf den dynamischen Wirtschaftssektor in diesen Ländern, arbeitet hier allerdings grundlegende Entwicklungsalternativen insbesondere für die gegenüber den transnationalen Kapitalmärkten und westlichen multinationalen Unternehmen offenen „abhängigen Marktökonomien“ auf der einen Seite und für die auf nationale Kontrolle bedachten „staatlich durchdrungenen Marktökonomien“ auf der anderen Seite heraus (May u.a. i.E.).

Auch wenn sich die aktuelle Diskussion zu den typischen ökonomischen Institutionen in Ländern wie Brasilien, Indien oder China inzwischen sehr weit von den ursprünglichen Prämissen des VoC-Forschungsprogramms entfernt hat, kommt diesem Programm doch zumindest das Verdienst zu, die empirische Beschäftigung mit dem Kapitalismus in großen Schwellenländern sowie die Entwicklung von Alternativmodellen zum liberalen Kapitalismus des Konsenses von Washington wiederbelebt zu haben.

Andreas Nölke

Literatur

Becker, Uwe (Hg.) (i.E.): The BRICs and Emerging Economies in Comparative Perspective: Political Economy, Liberalization and Institutional Change. London.

Bohle, Dorothee, & Bela Greskovits (2012): Capitalist Diversity on Europe’s Periphery. Ithaca, NY.

Boschi, Renato, & Carlos Henrique Santana (Hg.) (2012): Development and Semi-Periphery. London.

Bruff, Ian; Matthias Ebenau; Christian May & Andreas Nölke (Hg.) (2013): Vergleichende Kapitalismusforschung: Stand, Perspektiven, Kritik. Münster.

Drahokoupil, Jan, & Martin Myant (2010): Transition Economies: Political Economy in Russia, Eastern Europe, and Central Asia. Hoboken.

Ebenau, Matthias (2012): „Varieties of Capitalism or Dependency in Latin America: A Critique of the VoC Approach for Latin America“. In: Competition and Change, Bd. 16, Nr. 3, S. 206-223.

Hall, Peter, & David Soskice (2001): „An Introduction to Varieties of Capitalism“. In: Hall, Peter, & David Soskice (Hg.): Varieties of Capitalism: The Institutional Foundations of Comparative Advantage. Oxford., S. 1-68.

Jackson, Gregory, & Richard Deeg (2006): How Many Varieties of Capitalism? Comparing the Comparative Institutional Advantages of Capitalist Diversity. MPIfG Discussion Paper 06/2. Köln.

May, Christian; Andreas Nölke & Tobias ten Brink (i.E.): „Institutionelle Determinanten des Aufstiegs großer Schwellenländer: Eine global-politökonomische Erweiterung der Vergleichenden Kapitalismusforschung“. In: PVS-Sonderheft „Entwicklungstheorien: Weltgesellschaftliche Transformationen, entwicklungspolitische Herausforderungen, theoretische Innovationen“ (Politische Vierteljahresschrift, Bd. 54).

Schneider, Ben Ross (2013): Hierarchical Capitalism in Latin America: Business, Labor, and the Challenges of Equitable Development. Cambridge.

ten Brink, Tobias (2013): Chinas Kapitalismus. Entstehung, Verlauf, Paradoxien. Frankfurt a.M.